VwGH 2010/21/0366

VwGH2010/21/036629.2.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des E in G, vertreten durch Mag. Erik Steinhofer, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Friedrichgasse 6/II, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark vom 27. Juli 2010, Zl. E1/4980/2010, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §31 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66;
EMRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §31 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66;
EMRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den am 16. Jänner 2010 geborenen Beschwerdeführer, einen Staatsangehörigen des Kosovo, gemäß den §§ 31, 53 Abs. 1 und 66 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG idF des FrÄG 2009 aus dem Bundesgebiet aus.

Begründend führte sie - auf das im vorliegenden Zusammenhang Wesentliche zusammengefasst - aus, die Eltern des Beschwerdeführers seien im Jahr 2006 illegal in das Bundesgebiet eingereist und hätten - ebenso wie sein am 23. Mai 2007 in Österreich geborener Bruder Dominik - erfolglos die Gewährung von Asyl beantragt. Ihnen gegenüber sei im September 2009 (richtig: im Dezember 2006 betreffend die Eltern des Beschwerdeführers; die Ablehnung der Behandlung dagegen erhobener Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof erfolgte mit Beschlüssen vom 23. September 2009, Zl. 2007/01/0054, und Zl. 2007/01/0063) und Februar 2010 (die zweitinstanzliche Entscheidung betreffend Dominik M erfolgte laut AIS am 16. Februar 2010) festgestellt worden, dass ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung "nach Serbien, Provinz Kosovo" zulässig sei. Ebenso seien ihnen gegenüber Ausweisungsentscheidungen ergangen.

Für den Beschwerdeführer, das jüngste Kind dieser Familie, sei kein Asylverfahren angestrebt worden. Sein Aufenthalt sei mangels entsprechender Aufenthaltsberechtigung seit der Geburt illegal im Sinne des § 31 FPG. Darin liege eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung, deren Aufrechterhaltung nach den Kriterien des Art. 8 Abs. 2 EMRK ein sehr hoher Stellenwert zukomme. Im Hinblick darauf und wegen des Fehlens ins Gewicht fallender Umstände, die gegen die Ausweisung sprächen, könne eine pflichtgemäße Ermessensübung nicht zu einer Abstandnahme von der Erlassung der Ausweisung führen.

Im Rahmen des § 66 Abs. 1 FPG sei zu berücksichtigen, dass die vorliegende Ausweisung lediglich in das Privatleben und nicht auch in das Familienleben des Beschwerdeführers eingreife, weil sämtliche Mitglieder seiner Kernfamilie auf Grund durchsetzbarer Ausweisungen das Bundesgebiet zu verlassen hätten. Als der Beschwerdeführer am 16. Jänner 2010 in Österreich geboren worden sei, seien für seine Eltern und seinen Bruder bereits rechtskräftige und durchsetzbare asylrechtliche Ausweisungen vorgelegen. Beim Beschwerdeführer selbst könne angesichts der Kürze seines Aufenthaltes nicht von einer "intensiven sozialen und sprachlichen Bindung zum Gastland" ausgegangen werden, sodass "sich auch der mit der Ausweisung verbundene" Eingriff in sein Privatleben in Grenzen halte.

Seinen am 23. Mai 2007 geborenen Bruder Dominik betreffend sei das Vorliegen einer frühkindlichen autistischen Störung aktenkundig. Insoweit wäre - so die belangte Behörde unter Hinweis auf einen näher bezeichneten Erlass der Bundesministerin für Inneres und die Staatendokumentation des Bundesasylamtes - "eine allenfalls erforderliche Weiterbehandlung im Kosovo aktenkundig nachvollziehbar und in einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Form festzustellen".

Die Großeltern des Beschwerdeführers und die Geschwister seines Vaters (drei Brüder und eine Schwester) wohnten - so argumentierte die belangte Behörde weiter - noch im Heimatstaat. Dort besäßen sie eine Landwirtschaft. Es bestünde daher ein familiäres Netzwerk samt Unterkunft, in das der Beschwerdeführer (samt seiner Kernfamilie) zurückkehren könne. Diese Rückkehr sei dem Beschwerdeführer, dem ebenso wie seiner Familie die Unsicherheit des Aufenthaltsstatus in Österreich "bewusst sein musste", zumutbar. Insgesamt überwögen die öffentlichen Interessen an der Erlassung einer Ausweisung (Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens) die privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet eindeutig, sodass sich die Ausweisung als zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten und somit zulässig erweise.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Unter der Überschrift "Ausweisung Fremder ohne Aufenthaltstitel" ordnet § 53 Abs. 1 FPG an, dass Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden können, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Der vorliegenden Beschwerde ist nicht zu entnehmen, dass eine der Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet gemäß § 31 Abs. 1 FPG - insbesondere die Erteilung eines Aufenthaltstitels - vorläge. Es bestehen somit keine Bedenken gegen die behördliche Annahme, der Ausweisungstatbestand des § 53 Abs. 1 FPG sei verwirklicht.

Der Beschwerdeführer verweist auf den - von der belangten Behörde festgestellten - Umstand, dass bei seinem Bruder Dominik eine frühkindliche autistische Störung diagnostiziert worden sei. Eine solche könne im Kosovo nicht ausreichend - also ohne eine bleibende Behinderung zu riskieren - behandelt werden. Im Fall einer ausreichenden medizinischen Betreuung in Österreich bestünden dagegen gute Besserungsaussichten, sodass Dominik "in ein normales Leben integriert werden kann". Auf Grund dieser hervorgekommenen Erkrankung hätte nicht nur von einem Vollzug der bereits angeordneten Ausweisung des minderjährigen Dominik, sondern auch von der Ausweisung des Beschwerdeführers als Mitglied seiner Kernfamilie abgesehen werden müssen.

Dieses Vorbringen verhilft der Beschwerde im Ergebnis zum Erfolg:

Der Verwaltungsgerichtshof hat schon wiederholt ausgesprochen, dass bei der Abwägung der persönlichen Interessen eines Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet mit dem öffentlichen Interesse an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auch dem Umstand Bedeutung zukommt, dass eine medizinische Behandlung in Österreich vorgenommen wird. Wenn für einen Fremden keine Aussicht besteht, sich in seinem Heimatstaat oder in einem anderen Land - sollte ein solches als Zielort überhaupt in Betracht kommen - außerhalb Österreichs der für ihn notwendigen Behandlung unterziehen zu können, kann das - abhängig von den dann zu erwartenden Folgen - eine maßgebliche Verstärkung des persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich darstellen (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 27. Mai 2009, Zl. 2008/21/0260, und vom 19. Mai 2011, Zl. 2008/21/0070, jeweils mwN).

Vor diesem rechtlichen Hintergrund hätte sich die belangte Behörde näher vor allem mit dem Zeitpunkt des Eintritts und der Diagnose der beim Bruder des Beschwerdeführers festgestellten psychischen Beeinträchtigung befassen müssen.

Erfolgten diese vor der erwähnten, im Februar 2010 ergangenen Entscheidung über seine Ausweisung, läge insoweit kein maßgeblich geänderter Sachverhalt vor, der Anlass zu einer Neubewertung der Situation des Bruders des Beschwerdeführers bieten könnte, die gegebenenfalls auch auf den Beschwerdeführer selbst durchschlagen müsste.

Im Fall nachträglicher Änderungen im diagnostizierten Gesundheitszustand des Dominik M hätte sich die belangte Behörde allerdings näher mit der konkreten Behandelbarkeit (in Österreich sowie im Zielstaat) befassen müssen.

Die belangte Behörde hat im vorliegenden Fall - abgesehen von der unterbliebenen Klärung des Eintritts der Erkrankung - insoweit zwar die Notwendigkeit erkannt, die Frage, ob die Behandlung des minderjährigen Dominik im Zielstaat möglich ist, einer Prüfung zu unterziehen, hat diese jedoch aus dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmenden Gründen letztlich unterlassen. Der angefochtene Bescheid geht weder darauf ein, wie weit eine Therapie im Kosovo für den Genannten möglich noch mit welchen konkreten Folgen bei ihrem Unterbleiben zu rechnen ist.

Sollte eine Verschlechterung im Gesundheitszustand des Dominik M seit dessen rechtskräftiger Ausweisung hervorkommen, wird diese Prüfung im fortzusetzenden Verfahren nachzuholen sein. Ebenso werden Feststellungen darüber zu treffen sein, welcher (begleitende) Pflegeaufwand (für Angehörige) mit einer solchen Behandlung verbunden ist, von wem (außer naheliegender Weise den Eltern) er erbracht werden könnte und welche Auswirkungen sich hieraus auf die Pflege und Betreuung des 2010 geborenen Beschwerdeführers, also eines Kleinkindes, ergeben. Ein mängelfreies Verfahren hätte in diesem Zusammenhang erfordert zu klären, in welcher konkreten Wohn- und Betreuungssituation sich der Beschwerdeführer sowie sein Bruder befinden, durch wen Betreuungsleistungen erbracht werden und ob insgesamt für das Fortkommen der Genannten ihr fortgesetzter Aufenthalt im Bundesgebiet (gemeinsam mit einem oder beiden betreuenden Elternteilen) erforderlich ist. Nur eine derartige Prüfung der Lebenssituation der Familie hätte ein sich daraus möglicherweise ergebendes privates Interesse auch des Beschwerdeführers iSd Art. 8 EMRK an einem weiteren Verbleib in Österreich - auch in seinem Gewicht - abschließend beurteilbar gemacht (vgl. zum Ganzen weiters etwa die hg. Erkenntnisse vom 24. Oktober 2007, Zlen. 2006/21/0296 bis 0300, und vom 21. Juli 2011, Zl. 2008/18/0249, jeweils mwN).

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die belangte Behörde bei vollständiger Feststellung des entscheidungsrelevanten Sachverhaltes - im Rahmen ihrer Interessenabwägung gemäß § 66 FPG oder der Ermessensübung nach § 53 Abs. 1 FPG - zu einem anderen Bescheid hätte kommen können.

Auf Grund der dargestellten Feststellungs- und Begründungsmängel ist der angefochtene Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 29. Februar 2012

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