VwGH 2009/21/0157

VwGH2009/21/015721.12.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher, Dr. Pfiel und Mag. Eder als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Henk, über die Beschwerde des K, vertreten durch Mag. Dr. Wolfgang Fromherz, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Graben 9, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 24. Februar 2009, Zl. 315.675/28-III/4/09, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

NAG 2005 §11 Abs2 Z4;
NAG 2005 §11 Abs5;
NAG 2005 §8 Abs2 Z4;
NAG 2005 §11 Abs2 Z4;
NAG 2005 §11 Abs5;
NAG 2005 §8 Abs2 Z4;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der staatenlose, am 20. März 1979 geborene Beschwerdeführer reiste im Jahr 1984 mit seinen Eltern und Geschwistern nach Österreich ein und beantragte erfolglos die Gewährung von Asyl.

Mit dem angefochtenen, im Devolutionsweg ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den am 1. Dezember 2004 gestellten Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen gemäß § 72 und § 73 Abs. 1 und 2 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes - NAG ab.

Begründend führte sie aus, bereits mit Bescheid der belangten Behörde vom 12. Dezember 2006 sei der genannte Antrag gemäß den §§ 72 und 73 NAG zurückgewiesen worden. Aus Anlass der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde habe der Verfassungsgerichtshof amtswegig ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge "von Amts wegen" in § 73 Abs. 2 NAG eingeleitet und diese Wortfolge mit Erkenntnis vom 27. Juni 2008, G 246, 247/07 u.a., als verfassungswidrig aufgehoben. Mit weiterem Erkenntnis vom selben Tag sei der genannte Bescheid vom 12. Dezember 2006 wegen Anwendung dieser verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung aufgehoben worden.

Nach Darstellung der gemäß der Übergangsbestimmung des § 81 Abs. 1 NAG anzuwendenden §§ 72 und 73 NAG führte die belangte Behörde aus, eine Gesamtbeurteilung des Falles habe trotz des langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet, der Staatenlosigkeit des Beschwerdeführers und des Faktums, dass mehrere seiner Verwandten im Bundesgebiet aufhältig seien, ergeben, dass besonders berücksichtigungswürdige Gründe gemäß § 72 NAG nicht vorlägen. Allein die Dauer des Aufenthaltes begründe nämlich keinen besonders berücksichtigungswürdigen oder humanitären Grund. Dazu komme "die große Anzahl und die große Deliktsbreite" vom Beschwerdeführer begangener Straftaten - "sechzehn Straftaten und elf Delikte" -, die in einem Zeitraum von mehr als 15 Jahren erfolgt seien, wobei die letzten rechtskräftigen Verurteilungen "erst vom 23.08.2005 bzw. 07.08.2008 datieren". Ebenso stünde der langjährige illegale Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet der Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels entgegen.

Mit Schreiben vom 18. Februar 2009 habe der Beschwerdeführer eingeräumt, derzeit ohne Arbeit zu sein und kein Arbeitslosengeld zu beziehen. Womit er gegenwärtig seinen Lebensunterhalt bestreite, habe er jedoch nicht dargelegt. Mietzinszahlungen betreffend habe er darauf verwiesen, bei seinen Eltern zu wohnen, "die Mieter der betreffenden Wohnung seien", und weiters vorgebracht, keinen Zugriff auf Überweisungsbelege seiner Eltern zu haben. Eine Bestätigung, "wonach (er) keinen Untermietzins bzw. Mietzins zahlen müsse, habe (er) jedoch nicht vorgelegt". Weiters scheine den Beschwerdeführer betreffend in einem Auszug der Konsumentenkreditevidenz des Kreditschutzverbandes 1970 unter der Rubrik "Warnliste" eine offene Forderung aus einer Girokontoverbindung "über einen Betrag zwischen EUR 2.100,-- und 3.000,-- auf". Insgesamt stehe gemäß § 11 Abs. 2 Z. 4 NAG fest, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers zur finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte.

Auch die Voraussetzungen nach § 11 Abs. 2 Z. 2 und 3 NAG erfülle der Beschwerdeführer - so die belangte Behörde sinngemäß - nicht.

Der Beschwerdeführer weise nur einen geringen Integrationsgrad auf: Er habe seit 26. August 2001 acht verschiedene Arbeitgeber gehabt und verfüge laut eigenen Angaben vom 21. Juni 2005 "über keine berufliche Ausbildung" (im Antrag geltend gemacht wurde eine Berufstätigkeit als "Eisenbieger").

Überdies habe der Beschwerdeführer - so argumentierte die belangte Behörde weiter - "auch nicht vorgebracht, tatsächlich ein Familienleben zu führen oder intensive Beziehungen zu Freunden oder Verwandten zu pflegen". Zu seinen Ausführungen, mit Frau M. in Linz zusammen zu leben und eine Lebensgemeinschaft zu pflegen, sei festzuhalten, dass "laut ZMR die Genannte am 05.12.2006 von dieser Adresse abgemeldet wurde und seither kein gemeinsamer Wohnsitz mehr besteht".

Bei Abwägung der privaten Interessen des Beschwerdeführers mit den öffentlichen Interessen iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK habe zwar festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer seit über 25 Jahren im Bundesgebiet aufhältig sei, dass er staatenlos sei und dass erwachsene Verwandte, darunter die Eltern, sein Bruder und dessen mj. Tochter, im Bundesgebiet aufhältig seien. Jedoch seien die öffentlichen Interessen auf Grund der eminenten Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die vom Beschwerdeführer ausgehe, höher zu werten als die nachteiligen Folgen einer Verweigerung des Aufenthaltstitels auf seine Lebenssituation. Der Beschwerdeführer verfüge nur über einen geringen Integrationsgrad und habe auch nicht vorgebracht, tatsächlich ein Familienleben zu führen. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fielen nur dann unter den Schutz des Art. 8 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgingen. Eine solche Abhängigkeit liege nach dem Akteninhalt jedoch nicht vor.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Gemäß § 81 Abs. 1 NAG sind Verfahren auf Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsberechtigungen, die bei Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes (am 1. Jänner 2006) anhängig sind, nach den Bestimmungen des NAG zu Ende zu führen. Da der verfahrensgegenständliche Antrag am 1. Dezember 2004, also noch vor Inkrafttreten des NAG, gestellt worden, über diesen Antrag aber bis 1. Jänner 2006 nicht entschieden worden war, zog die belangte Behörde zutreffend die Bestimmungen des NAG (infolge Erlassung des angefochtenen Bescheides am 26. Februar 2009 idF vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) heran.

Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 27. Juni 2008, G 246, 247/07 u.a., in den §§ 72 Abs. 1, 73 Abs. 2 und 73 Abs. 3 NAG jeweils die Wortfolge "von Amts wegen" als verfassungswidrig aufgehoben. Dieser aufgehobene Satzteil ist daher auf den vorliegenden Anlassfall nicht anzuwenden (vgl. dazu etwa die hg. Erkenntnisse vom 22. Dezember 2009, Zl. 2008/21/0583, und Zl. 2009/21/0091, jeweils mwN).

Die im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Bestimmungen des § 72 Abs. 1 sowie des § 73 Abs. 1 bis 3 NAG haben daher - nach der genannten Teilaufhebung - folgenden Wortlaut:

"Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen

§ 72. (1) Die Behörde kann im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses (§ 11 Abs. 1), ausgenommen bei Vorliegen eines Aufenthaltsverbotes (§ 11 Abs. 1 Z 1 und 2), in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung erteilen. Besonders berücksichtigungswürdige Gründe liegen insbesondere vor, wenn der Drittstaatsangehörige einer Gefahr gemäß § 50 FPG ausgesetzt ist. Drittstaatsangehörigen, die ihre Heimat als Opfer eines bewaffneten Konflikts verlassen haben, darf eine solche Aufenthaltsbewilligung nur für die voraussichtliche Dauer dieses Konfliktes, höchstens jedoch für drei Monate, erteilt werden.

(2) …

Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen

§ 73. (1) Die Behörde kann Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 72 eine 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' oder eine 'Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit' erteilen. Die Bestimmungen über die Quotenpflicht finden keine Anwendung.

(2) Aus humanitären Gründen kann eine 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' erteilt werden, wenn

1. der Fremde die Integrationsvereinbarung (§ 14) erfüllt hat und

2. im Fall einer unselbständigen Erwerbstätigkeit eine Berechtigung nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz vorliegt.

(3) Aus humanitären Gründen kann eine 'Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit' erteilt werden, wenn der Fremde die Integrationsvereinbarung (§ 14) erfüllt hat."

Ein besonders berücksichtigungswürdiger Fall im Sinn des in § 73 Abs. 1 zitierten § 72 NAG liegt u.a. dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch besteht. Art. 8 EMRK verlangt eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich. Dieses Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des besagten persönlichen Interesses ist aber auch auf die Auswirkungen, die die fremdenpolizeiliche Maßnahme auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer fremdenpolizeilichen aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegensteht bzw. humanitäre Gründe im Sinn der §§ 72 ff NAG zu bejahen sind. Maßgeblich sind dabei - wie zum Teil schon angesprochen - die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, dessen Intensität und die Schutzwürdigkeit des Privatlebens; weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, sowie die Bindungen zum Heimatstaat. Aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, sind bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (vgl. zum Ganzen etwa die hg. Erkenntnisse vom 3. April 2009, Zl. 2008/22/0592, vom 18. Februar 2010, Zl. 2008/22/0747, und vom 25. Februar 2010, Zl. 2008/21/0017, jeweils mwN, sowie das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 29. September 2007, B 1150/07, und die dort zitierte Rechtsprechung des EGMR).

Zwar ist der belangten Behörde einzuräumen, dass ein Fremder grundsätzlich initiativ, untermauert durch Vorlage entsprechender Bescheinigungsmittel, nachzuweisen hat, dass der Unterhalt für die beabsichtigte Dauer seines Aufenthalts gesichert erscheint, wobei insoweit auch die Verpflichtung besteht, die Herkunft der für den Unterhalt zur Verfügung stehenden Mittel nachzuweisen, als für die Behörde ersichtlich sein muss, dass der Fremde einen Rechtsanspruch darauf hat und die Mittel nicht aus illegalen Quellen stammen. Dies trifft ebenso regelmäßig für den Nachweis des Bestehens einer alle Risken abdeckenden (und in Österreich leistungspflichtigen) Krankenversicherung sowie eines Rechtsanspruchs auf eine ortsübliche Unterkunft zu (vgl. dazu etwa die hg. Erkenntnisse vom 25. März 2010, Zl. 2010/21/0088, und vom 29. April 2010, Zl. 2010/21/0109, mwN).

Das Fehlen dieses Nachweises kann im vorliegenden Zusammenhang jedoch deshalb nicht für sich allein den entscheidungswesentlichen Ausschlag geben, weil die Frage, ob Art. 8 EMRK im Sinn der vorstehenden Ausführungen ein Aufenthaltsrecht gebietet, nur auf Grund einer eingehenden Analyse aller Umstände des Einzelfalles entschieden werden kann (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 18. Juni 2009, Zl. 2008/22/0387 mwN).

Ebenso kann dem behördlichen - zeitlich zudem nicht konkretisierten - Vorwurf, der Beschwerdeführer sei bei acht verschiedenen Arbeitgebern tätig gewesen, kein ausschlaggebendes Gewicht zukommen. Abgesehen davon, dass die Beschwerde dies zum Teil mit Insolvenzen bzw. Unterbleiben der Auszahlung des Arbeitslohns erklärt, war der Beschwerdeführer offenbar jeweils imstande gewesen, in der Baubranche kurzfristig neue Arbeitsplätze zu finden und dadurch jahrelang seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. In diesem Zusammenhang geht auch die behördliche Annahme des Fehlens jeglicher Ausbildung nicht auf das (bereits im Antrag erstattete) Vorbringen des Vorliegens der erwähnten Qualifikation als "Eisenbieger" ein.

Das Hauptargument der belangten Behörde bilden wohl - zum Teil mehr als 15 Jahre zurückliegende, inhaltlich im Übrigen nicht einmal den vorgelegten Verwaltungsakten zu entnehmende - strafgerichtliche Verurteilungen des Beschwerdeführers. Insoweit ist die Begründung des angefochtenen Bescheides jedoch auf Grund des gänzlichen Fehlens jeder konkreten Darstellung oder selbst einer zeitlichen Einordnung des deliktischen Verhaltens einer nachprüfenden Beurteilung durch den Verwaltungsgerichtshof nicht zugänglich. Unter Berücksichtigung des außerordentlich langen, rund 25 Jahre andauernden Aufenthalts des staatenlosen (somit nicht mehr über Bindungen zu einem Heimatstaat verfügenden) Beschwerdeführers, der jahrelang ausgeübten unselbständigen Berufstätigkeit, seiner Kenntnisse der deutschen Sprache und des offensichtlichen Bestehens intensiver familiärer Bindungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Nachholung von Feststellungen zu den genannten Themen eine stattgebende Entscheidung über den am 1. Dezember 2004 gestellten Antrag ermöglichte.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 21. Dezember 2010

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