VwGH 2009/05/0035

VwGH2009/05/003516.11.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kail und die Hofräte Dr. Pallitsch, Dr. Handstanger, Dr. Hinterwirth und Dr. Moritz als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Crnja, über die Beschwerde der X GmbH in Y, vertreten durch Dr. Peter Pullez, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Tuchlauben 8, gegen den Bescheid der Bauoberbehörde für Wien vom 3. Dezember 2008, Zl. BOB-520/08, betreffend eine Bauangelegenheit, (mitbeteiligte Parteien: 1. M 1, 2. M 2, vertreten durch Dr. Egon Sattler, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stallburggasse 4, 3. M 3, 4. M 4, 5. M 5, vertreten durch Dr. Andreas Grohs, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Freyung 6/11,

6. M 6, 7. M 7, 8. M 8, 9. M 9, 10. M 10, 11. M 11, vertreten durch Dr. Hubert Simon, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schellinggasse 3, 12. M 12, 13. M 13, 14. M 14, 15. M 15,

16. M 16), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §56;
AVG §8;
BauO Wr §11;
BauO Wr §69 Abs1 idF 2001/090;
BauO Wr §69 Abs1 lita;
BauO Wr §69 Abs1 litb;
BauO Wr §69 Abs1;
BauO Wr §69 Abs2;
BauRallg;
VwRallg;
AVG §56;
AVG §8;
BauO Wr §11;
BauO Wr §69 Abs1 idF 2001/090;
BauO Wr §69 Abs1 lita;
BauO Wr §69 Abs1 litb;
BauO Wr §69 Abs1;
BauO Wr §69 Abs2;
BauRallg;
VwRallg;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Die Beschwerdeführerin hat der Bundeshauptstadt Wien Aufwendungen in der Höhe von EUR 610,60 und der elftmitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin ist Eigentümerin des Grundstückes Nr. 592/6 L-Gasse 15 (in der Folge Baugrundstück). Für dieses Grundstück ist gemäß dem geltenden Flächenwidmungs- und Bebauungsplan Plandokument Nr. 7599 die Widmung Bauland-Wohngebiet, Bauklasse I (eins) und die offene oder gekuppelte Bauweise festgesetzt. Die zulässige Gebäudehöhe beträgt maximal 7,50 m, die Ausnützbarkeit des Bauplatzes ist mit 25 % seiner Fläche beschränkt. Nicht bebaute, jedoch bebaubare Baulandflächen sind gärtnerisch auszugestalten. Innerhalb der mit "G" (gärtnerische Ausgestaltung) bezeichneten Grundflächen dürfen unterirdische Bauten oder Bauteile mit Ausnahme notwendiger Zu- und Abfahrten im Ausmaß von 20 % des Bauplatzes errichtet werden.

Der bebaubare Bereich des Baugrundstückes ist durch Fluchtlinien begrenzt. Entlang der Baulinie ist ein Vorgarten mit einer Tiefe von 5 m festgesetzt. Die hintere Baufluchtlinie, die den bebaubaren vom gärtnerisch auszugestaltenden Teil des Bauplatzes trennt, verläuft zur vorderen Baufluchtlinie nicht parallel, sodass sich die Tiefe des bebaubaren Bereiches ausgehend von der rechten seitlichen Grundgrenze von rund 28 m bis zur linken seitlichen Grundgrenze auf mehr als 42 m vergrößert.

Dem PD Nr. 7599 ist zu entnehmen, dass die Situierung der Fluchtlinien wie auf den beiderseits anschließenden Bauplätzen dem vorhandenen Baubestand folgt.

Mit Eingabe vom 31. Juli 2007 beantragte die Beschwerdeführerin die Bewilligung der Errichtung von zwei einstöckigen unterkellerten Wohngebäuden mit je zwei ausgebauten Dachgeschossen für 19 Wohnungen, einem Büro und einer Mittelgarage im Kellergeschoss sowie einem Nebengebäude unter Vornahme von Geländeveränderungen auf dem Baugrundstück.

Wie den zu Grunde liegenden Einreichplänen zu entnehmen ist, sollen nach Abtragung eines bestehenden - im bebaubaren Bereich des bezughabenden Bauplatzes gelegenen - Gebäudes zwei Wohngebäude errichtet werden. Das in den Plänen als "Haus 1" bezeichnete Gebäude mit einer maximalen Länge von 29,05 m und einer maximalen Tiefe von 21,78 m soll zur Gänze im bebaubaren Bereich situiert sein. Das als "Haus 2" bezeichnete Wohngebäude mit einer Länge von 32,10 m und einer Tiefe von 18,15 m soll auf seine gesamte Länge über die hintere Baufluchtlinie hinaus in den gärtnerisch auszugestaltenden Teil des Bauplatzes ragen, sodass seine gartenseitige Front annähernd parallel zur hinteren Baufluchtlinie verlaufend in einem Abstand von bis zu 13,80 m hinter der Baufluchtlinie zu liegen kommen soll.

In ihrem Antrag begründete die Beschwerdeführerin die Überschreitung der hinteren Baufluchtlinie durch Haus 2 damit, dass die projektierte Konfiguration und Lage der beiden Baukörper aus dem Grund der Erhaltung von auf dem Bauplatz stockenden schützenswerten Bäumen gewählt worden sei.

Der Amtssachverständige der MA 21A (Stadtteilplanung und Flächennutzung) gab eine fachkundige Stellungnahme ab und führte in seinem Gutachten vom 6. Dezember 2007 aus:

"...

Ziel des Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes ist es, durch die Ausweisung vorwiegend bandförmig bebaubarer Flächen mittels Baufluchtlinien entlang der öffentlichen Verkehrsflächen und der Festlegung der 'gärtnerischen Ausgestaltung (G)' der inneren bzw. straßenabgewandten Bereiche der Liegenschaften die zusammenhängenden Grünflächen zu erhalten. So gewährt die ausgewiesene bebaubare Fläche der genannten Liegenschaft einerseits einen entsprechenden Spielraum für die Situierung der Baukörper im Neubaufall und ermöglicht andererseits eine Berücksichtigung des hier laut Gutachten der MA 42 stockenden wertvollen Baumbestandes.

Durch die geplante Überschreitung der nördlichen Baufluchtlinie und beabsichtigten Bebauung des derzeit als 'G' gewidmeten und als Garten genutzten nördlichen Bereiches wird diese Zielsetzung unterlaufen. Eine Überschreitung der Baufluchtlinie auf Grund des wertvollen Baumbestandes in einem Ausmaß von ca. 400 m2 ist hier aus Sicht der MA 21A nicht nachvollziehbar, da auf dem Standort des derzeitigen Gebäudes kein Baumbestand vorhanden ist und die angestrebte Errichtung eines Baukörpers im 'G' vielmehr den nördlich der Baufluchtlinie stockenden Baumbestand tangieren würde.

Ein Abrücken des geplanten Baukörpers in die gärtnerische Ausgestaltung im vorliegenden Ausmaß entspricht somit nicht den städtebaulichen Zielsetzungen für dieses Gebiet und wird seitens der MA 21A abgelehnt."

Der Amtssachverständige der MA 42, Wiener Stadtgärten, hat nach Dokumentation der auf dem Baugrundstück befindlichen Bäume in seinem Gutachten vom 24. Jänner 2008 ausgeführt:

"Bei Errichtung eines Bauprojektes im zulässigen Ausmaß innerhalb der derzeitigen Baufluchtlinien ist die Entfernung der besonders erhaltenswerten Altbäume Nr. 3 (Kastanie), Nr. 7 (Platane) und Nr. 26 (Schwarznuss) erforderlich.

Die Kastanie und die Platane sind aus dem öffentlichen Straßenraum weithin sichtbar und besitzen dadurch eine bedeutende stadtgestalterische Funktion. Die Schwarznuss mit einem Stammumfang von 328 cm besitzt auf Grund ihres Alters bzw. ihrer Größe einen absoluten Seltenheitswert in Wien.

Das eingereichte Projekt respektiert weitgehend den Lebensraum dieser drei Bäume. Für die Errichtung des Bauvorhabens ist die Entfernung von einigen außerhalb der Baufluchtlinie stockenden Bäumen erforderlich. Dies ist ein Spitzahorn (Nr. 44) und eine Douglasie (Nr. 51). Der Spitzahorn weist bereits beginnende Holzfäule und Spechtlöcher im Kronenbereich auf. Die Douglasie ist hoch aufgeastet und weist eine innere Verkahlung der Krone auf. Die Lebenserwartung bzw. auch die Größe dieser Bäume ist im Vergleich zu den Bäumen Nr. 3, 7 und 26 sicherlich deutlich geringer. Sie sind auch im Gegensatz zu den Bäumen Nr. 3 und 7 von öffentlichen Straßengrund kaum wahrzunehmen."

Der Bauausschuss der Bezirksvertretung für den 19. Bezirk hat mit Bescheid vom 25. August 2008 gemäß § 69 Abs. 1 lit. b und f der Bauordnung für Wien (BO) die Abweichungen von den Bebauungsvorschriften für unzulässig erklärt.

Mit Bescheid des Magistrates der Stadt Wien, MA 37, vom 4. September 2008 wurde die beantragte Baubewilligung unter Hinweis auf die nicht erteilte Bewilligung für Abweichungen von den Bauvorschriften versagt.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde die dagegen erhobene Berufung als unbegründet abgewiesen.

Begründet wurde dies damit, dass Grundvoraussetzung für eine Gewährung einer Ausnahmebewilligung nach § 69 BO sei, dass durch diese Ausnahmegewährung der Umfang einer unwesentlichen Abweichung des Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes nicht überschritten werde. Die Erteilung einer Ausnahmebewilligung sei restriktiv auszulegen. Die von der Beschwerdeführerin in ihrem Berufungsvorbringen ins Treffen geführte vorhandene Bebauung in der Tiefe der Nachbarliegenschaften könne nicht als Rechtfertigung für die Abweichung von den Bebauungsvorschriften durch das gegenständliche Bauvorhaben dienen. Der Amtssachverständige habe in seiner Stellungnahme nachvollziehbar dargelegt, dass das Bauvorhaben in seiner geplanten Form den Zielsetzungen der Freihaltung der inneren Bereiche der Bauplätze von Bebauungen zuwiderlaufe. Diesen Ausführungen sei die Beschwerdeführerin nicht entgegen getreten. Gemäß § 69 Abs. 1 lit. b BO sei zwar ein Abweichen von den Fluchtlinien auf deren Länge zur Gänze zulässig, jedoch könne dies nicht so verstanden werden, dass derart von den Fluchtlinien abgewichen werde, dass damit eine komplette oder großflächige Abweichung von der Festlegung des Bebauungsplanes bezüglich der bebaubaren und gärtnerisch auszugestaltenden Teile von Bauplätzen zulässig sei. Eine Ausführung eines Bauvorhabens zu einem großen Teil in der gärtnerisch auszugestaltenden Fläche des Bauplatzes unter gleichzeitiger Freihaltung eines entsprechenden Teiles der bebaubaren Fläche sei nach dieser Bestimmung nicht möglich. Es sei daher jedenfalls im Sinne des § 69 Abs. 2 BO zu prüfen, ob das Ausmaß der hier zu beurteilenden Überschreitung der hinteren Fluchtlinie eine wesentliche Abweichung darstelle. Der Abstand zwischen der vorderen und der hinteren Baufluchtlinie betrage zwischen 28 m und 42 m, somit im Durchschnitt ca. 35 m. Die Überschreitung der hinteren Fluchtlinie um bis zu 13,80 m stelle daher in Relation zur durchschnittlichen Tiefe des bebaubaren Bereiches eine solche um ca. 39,40 % dar. Im Vergleich zur maximalen Tiefe des bebaubaren Bereiches von ca. 42 m betrage die Überschreitung immer noch 32,90 %. Zulässigerweise dürfe auf dem Bauplatz mit einer Fläche von 4.445 m2 ein Bauvorhaben mit einer maximal bebauten Fläche von 1.111,25 m2 errichtet werden. Das verfahrensgegenständliche Bauvorhaben weise eine gesamte oberirdisch bebaute Fläche inklusive dem geplanten Nebengebäude von 959,06 m2 auf und überschreite das zulässige Ausmaß somit nicht. Die beiden Hauptgebäude alleine hätten eine Gesamtfläche von 929,09 m2. Ein Teil des Bauvorhabens - und zwar der Großteil des Hauses 2 - käme jedoch mit einer Fläche von ca. 374 m2, das entspreche mehr als 40 % der bebauten Fläche der beiden Hauptgebäude, in der gärtnerisch auszugestaltenden Fläche zu liegen. Eine Überschreitung der hinteren Baufluchtlinie in einem derartig großen Ausmaß auf die gesamte Länge des Hauses 2 - sowohl durch den Abstand der Gartenfront zur hinteren Baufluchtlinie als auch durch die Größe der im gärtnerisch auszugestaltenden Teil des Bauplatzes situierten bebauten Fläche - sei schon allein nach dem Wortsinn als eine wesentliche Abweichung von den Bebauungsbestimmungen zu werten und könne deshalb nicht als zulässig nach § 69 Abs. 1 lit. b BO angesehen werden. Daran könne auch die positive Stellungnahme des Amtssachverständigen der MA 42 nichts ändern, welche sich nur mit der Frage beschäftigt habe, ob der von der Beschwerdeführerin genannte Baumbestand an sich schützenswert sei. Stadtplanerische Zielsetzungen könnten nicht Gegenstand dieser Beurteilung sein. Auch das Vorhandensein von schützenswertem Baumbestand könne nicht dazu führen, dass in einem derart exorbitanten Ausmaß gärtnerisch auszugestaltende, nicht für eine Bebauung vorgesehenen Flächen in Anspruch genommen würden. Das Kriterium der Wesentlichkeit müsse jedenfalls auch bei Abweichungen im Interesse eines schützenswerten Baumbestandes gegeben sein. Eine weitere Prüfung, ob die übrigen in § 69 Abs. 2 BO geforderten Voraussetzungen für eine Genehmigung der Abweichung des gegenständlichen Bauvorhabens von den Bebauungsbestimmungen vorliegen, habe auf Grund der festgestellten Wesentlichkeit der Abweichung unterbleiben können. Eine Genehmigung von Teilen des eingereichten Vorhabens sei auf Grund der mangelnden bautechnischen Trennbarkeit (gemeinsam mit der Tiefgarage, auf der beide Hauptgebäude errichtet werden sollen) nicht in Betracht gekommen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde. Die Beschwerdeführerin erachtet sich in ihrem Recht auf Erteilung einer Baubewilligung verletzt. Sie macht Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen. Mitbeteiligte Nachbarn erstatteten ebenfalls Gegenschriften mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen. Die elftmitbeteiligte Partei M 11 erstattete durch ihren Rechtsanwalt eine Gegenschrift und beantragte Kostenzuspruch.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Beschwerdeführerin trägt vor, dass eine Überschreitung der hinteren Baufluchtlinie um bis zu 13,80 m nicht schon per se eine den geltenden Flächenwidmungs- und Bebauungsplan unterlaufende Tendenz impliziere. Gleiches gelte bezüglich des Ausmaßes der Überschreitung der hinteren Baufluchtlinie mit einer Fläche von ca. 374 m2. Beim verfahrensgegenständlichen Bauvorhaben werde eine deutlich geringere - als zulässig - bebaute Fläche verwirklicht. Es wäre eine maximale Bebaubarkeit von 25 % möglich, das verfahrensgegenständlichen Bauvorhaben (exklusive Nebengebäude) beanspruche aber nur ein bebaute Fläche von 20,91 % (inklusive Nebengebäude von 21,58 %). Durch das Bauvorhaben würde auch nicht das zusammenhängende Band der Grünflächen nördlich der hinteren Baufluchtlinie unterbrochen, vielmehr würde sich nach Maßgabe der hinteren Baufluchtlinie eine Ausbuchtung der gärtnerisch auszugestaltenden Flächen zur L-Gasse hin ergeben, wo hingegen bereits im unmittelbaren Anschluss beim Grundstück L-Gasse 19 die Baufluchtlinie zurückspringe, sich demnach das Band der gärtnerisch auszugestaltenden Flächen abrupt und deutlich verjünge. Lege man fiktiv eine Parallele zur vorderen Baufluchtlinie am weitest nördlich gelegenen Eckpunkt des hinteren Baukörpers des Nachbargrundstückes L-Gasse 11A an und führe sie über die angrenzenden Grundstücke fort, so ergebe sich - wie die Beschwerdeführerin schon in ihrer Berufungsschrift aufgezeigt habe -, dass tatsächlich das verfahrensgegenständliche Bauvorhaben hinter dieser gedachten Parallele zurückliege, wo hingegen das Gebäude L-Gasse 19 daran angrenze und das Gebäude L-Gasse 21A über diese gedachte Parallele in nördlicher Richtung hinausrage. Durch das verfahrensgegenständliche Bauvorhaben bliebe demnach ein durchgehendes Band an gärtnerisch auszugestaltenden Flächen in den nördlichen, der L-Gasse abgewandten Bereichen der Grundstücke sehr wohl erhalten. Mit dem gegenständlichen Bauvorhaben würde daher die Tendenz des geltenden Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes nicht unterlaufen. Hinzu komme, dass § 69 Abs. 1 lit. b BO bezüglich des Ausnahmefalls der Abweichung von den Baufluchtlinien zum Zweck der Erhaltung schützenswerten Baumbestandes explizit sogar ein gänzliches Abweichen von den Baufluchtlinien zulasse, wo hingegen § 69 Abs. 1 lit. a BO lediglich allgemein Abweichungen von den festgesetzten Fluchtlinien ermögliche. Durch die beantragte Abweichung von den Bebauungsvorschriften könnten die bereits besonders erhaltenswürdigen Bäume bewahrt werden. Dem gegenüber würde die Errichtung eines Bauprojektes im zulässigen Ausmaß innerhalb der derzeitigen Baufluchtlinien die Entfernung dieser besonders erhaltenswerten Altbäume, die aus dem öffentlichen Straßenraum weithin sichtbar seien und von denen einer sogar einen absoluten Seltenheitswert in Wien besitze, erforderlich machen. Selbst ein gänzliches Abweichen von den Baufluchtlinien zum Zweck der Erhaltung dieses schützenswerten Baumbestandes könnte nicht auf Grund des bloßen Umstandes, dass von den Baufluchtlinien zur Gänze abgewichen werde, als wesentliche Abweichung qualifiziert werden, weil sonst der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung des § 69 Abs. 1 lit. b BO jeder Anwendungsbereich entzogen würde. Die Errichtung eines Bauprojektes auf der verfahrensgegenständlichen Liegenschaft im zulässigen Ausmaß innerhalb der Baufluchtlinien würde die Entfernung der wertvollsten Bäume notwendig machen.

Im Hinblick auf die Erlassung des angefochtenen Bescheides sind im Beschwerdefall folgende Bestimmungen der Bauordnung für Wien (BO) in der Fassung vor der Techniknovelle 2007, LGBl. Nr. 24/2008, maßgeblich:

"§ 69.

(1) Für einzelne Bauvorhaben hat die Baubehörde nach Maßgabe des Abs. 2 über die Zulässigkeit folgender Abweichungen von den Bebauungsvorschriften zu entscheiden:

a) Abweichungen von festgesetzten Fluchtlinien oder Höhenlagen für jede Art von Baulichkeiten;

b) gänzliches oder teilweises Abweichen von den Baufluchtlinien zum Zwecke der Erhaltung schützenswerten Baumbestandes in allen Bauweisen für jede Art von Baulichkeiten, sofern die zulässige Ausnützbarkeit des Bauplatzes nicht überschritten wird;

...

(2) Durch Abweichungen nach Abs. 1 darf die Bebaubarkeit der Nachbargrundflächen ohne nachgewiesene Zustimmung des betroffenen

Nachbarn nicht vermindert werden; ... Im Übrigen darf abgesehen

von den unter Abs. 1 näher genannten Voraussetzungen, von den Bestimmungen des Flächenwidmungsplanes und des Bebauungsplanes nur unwesentlich abgewichen werden; ...

...

(6) Widerspricht ein Ansuchen um Baubewilligungen den Bestimmungen des Flächenwidmungsplanes und des Bebauungsplanes derart, dass der Umfang einer unwesentlichen Abänderung oder Ergänzung des Flächenwidmungsplanes bzw. des Bebauungsplanes überschritten wird, ist es abzuweisen; ein mit dem Ansuchen um Baubewilligung verbundener ausdrücklicher Antrag auf Bewilligung von unwesentlichen Abweichungen von Bebauungsvorschriften gilt in diesem Fall als dem Ansuchen um Baubewilligung nicht beigesetzt. Dies gilt auch, wenn der Bauwerber mit dem Ansuchen um Baubewilligung ausdrücklich einen Antrag auf Bewilligung von unwesentlichen Abweichungen von Bebauungsvorschriften stellt, ohne dass sein Bauvorhaben einer solchen Bewilligung bedarf, bzw. wenn das Ermittlungsverfahren oder das Ansuchen um Baubewilligung ergibt, dass die Baubewilligung ohne Änderung des Bauvorhabens oder der Baupläne versagt werden muss.

..."

Nach § 69 Abs. 2 BO ist jede Abweichung von Bebauungsvorschriften gemäß Abs. 1 dieses Paragraphen für sich daraufhin zu prüfen, ob es sich um eine unwesentliche Abweichung handelt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. Jänner 2008, Zl. 2006/05/0218). Eine wesentliche Abweichung ist dann gegeben, wenn der Abweichung eine den Flächenwidmungsplan oder Bebauungsplan unterlaufende Tendenz innewohnt. Entscheidend ist dabei, ob und in welchem Umfang durch das zu bewilligende Bauvorhaben Abweichungen von den Bebauungsvorschriften erfolgen (vgl. hiezu das hg. Erkenntnis vom 12. Oktober 2007, Zl. 2006/05/0147, und vom 13. April 2010, Zl. 2008/05/0096).

Schon in ihrem Baubewilligungsansuchen vom 31. Juli 2007 hat die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Bewilligung von unwesentlichen Abweichungen gemäß § 69 Abs. 1 lit. b BO gestellt. Nach dieser Bestimmung, die ein Spezialtatbestand der lit. a des § 69 Abs. 1 ist (vgl. hiezu Moritz, BauO für Wien3 (2006), Anmerkung zu § 69 Abs. 1, S. 189), ist zwar auch ein gänzliches Abweichen von den Baufluchtlinien zum Zwecke der Erhaltung schützenswerten Baumbestandes unter den dort näher genannten Voraussetzungen zulässig. Es darf aber auch bei Anwendung dieses Tatbestandes von den Bestimmungen des Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes gemäß Abs. 2 dieses Paragraphen nur unwesentlich abgewichen werden, wobei "unwesentlich" auch bedeutet, dass die Abweichungen der Intention des anzuwendenden Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes nicht entgegen stehen dürfen (siehe hiezu die hg. Erkenntnisse vom 19. Juni 2002, Zl. 2001/05/0275, und vom 20. Mai 2003, Zl. 2001/05/1123). Anhand dieser Kriterien ist auch das nach § 69 Abs. 1 lit. b BO grundsätzlich mögliche gänzliche Abweichen von der Baufluchtlinie zu beurteilen.

Wie die belangte Behörde zutreffend erkannt hat, ist es Ziel des hier anzuwendenden Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes im hier maßgeblichen Bereich der L-Gasse, insbesondere auch für das Baugrundstück, mittels Baufluchtlinien entlang der öffentlichen Verkehrsfläche bandförmig bebaute Flächen zu schaffen und mit der Festlegung der gärtnerischen Ausgestaltung der inneren, d.h. straßenabgewandten Bereiche der Baugrundstücke, die zusammenhängenden Grünflächen zu erhalten. Der belangten Behörde kann nicht entgegengetreten werden, wenn sie davon ausgegangen ist, dass durch die geplante Überschreitung der hinteren (nördlichen) Baufluchtlinie und die beabsichtigte Bebauung der als "G" (gärtnerische Ausgestaltung) gewidmeten Fläche und des derzeit auch als Garten genutzten Bereiches in einer Tiefe von über 13 m und in einem Ausmaß von rund 400 m2 diese Zielsetzung des Bebauungs- und Flächenwidmungsplanes in auffallender Weise unterlaufen wird, zumal durch die Errichtung des Baukörpers im gärtnerisch auszugestaltenden Bereich der dort bestehende Baumbestand beeinträchtigt würde.

Der von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Argumentation, eine fiktive Parallele zur vorderen Baufluchtlinie als Grundlage für die Beurteilung, ob eine wesentliche oder unwesentliche Abweichung von den Bebauungsvorschriften vorliegt, anzunehmen, entspricht nicht der Intention des Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes. Diese Argumentationslinie lässt unberücksichtigt, dass nach dem Flächenwidmungs- und Bebauungsplan im Wesentlichen die Grünflächen hinter der festgelegten nördlichen Baufluchtlinie erhalten werden sollen und grundsätzlich innerhalb der Baufluchtlinien im Rahmen der zulässigen Ausnützbarkeit des Bauplatzes gebaut werden soll.

Das einen Fall des § 69 Abs. 1 lit. a BO betreffende hg. Erkenntnis vom 6. März 2001, Zl. 2000/05/0276, ist mit dem gegenständlichen Beschwerdefall in sachverhaltsmäßiger und rechtlicher Hinsicht nicht vergleichbar. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Erkenntnis in rechtlicher Hinsicht nur festgehalten, dass für ihn nicht erkennbar ist, inwiefern die Festsetzung der Baufluchtlinie dem Schutz der beschwerdeführenden Nachbarn im Sinne des § 134a Abs. 1 erster Satz BO dienen könnte. Im hier zu beurteilenden Beschwerdefall ist hingegen auf Grund der gegebenen Sachverhaltsgrundlagen von einer wesentlichen Abweichung von den festgesetzten Baufluchtlinien auszugehen.

Die Beschwerde war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 16. November 2010

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