European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:009OBA00008.16S.0318.000
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR (darin 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin ist seit 1. 9. 1992 Musikerin des Brucknerorchesters und war bis zum Zeitpunkt der Ausgliederung des Brucknerorchesters auf die Beklagte am 1. 9. 2005 Dienstnehmerin des Landes Oberösterreich. Auf das Dienstverhältnis ist der am 17. 7. 1972 zwischen dem Land Oberösterreich und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund, Gewerkschaft Kunst, Medien, freie Berufe, Sektion Musiker abgeschlossene Kollektivvertrag über das Dienstverhältnis der Dienstnehmer des Bruckner-Orchesters Linz (OrchKollV) anzuwenden.
§ 8 OrchKollV in der aktuellen Fassung vom 1. 1. 2012 regelt die Anrechnung von Vordienstzeiten in den für die Entscheidung wesentlichen Teilen wie folgt:
„ 1. Die im Orchester des Landestheaters Linz zurückgelegten Dienstzeiten sowie die vom Dienstgeber bereits angerechneten Vordienstzeiten sind Dienstzeiten des Orchesters.
2. Nachgewiesene Vordienstzeiten in österreichischen Theater-, Symphonie- oder Rundfunkorchestern oder in österreichischen Militärmusikkapellen sind anzurechnen.
Anzurechnen ist ferner bis zu einem Höchstausmaß von 4 Jahren die nachgewiesene Zeitdauer eines mit Abschlusszeugnis vollendeten Studiums an einer Universität in jenem Instrumentalfach (Violine und Viola werden als ein Instrumentalfach gewertet), für welches die Aufnahme als Dienstnehmer (vgl. § 1 Abs. 1) erfolgt ist.
Nachgewiesene Vordienstzeiten in ausländischen Kulturorchestern können angerechnet werden.
3. Vordienstzeiten in einem künstlerisch schwächeren Klangkörper sind zu einem Drittel, jedoch bis zum Höchstausmaß von 5 Jahren anzurechnen.
4. Vor Vollendung des 18. Lebensjahres zurückgelegte Dienstzeiten sowie Dienstzeiten, für welche vom Dienstgeber oder von früheren Dienstgebern eine Abfertigung gewährt wurde, sind von der Anrechnung ausgeschlossen.
5. Um die Anrechnung von Vordienstzeiten erreichen zu können, muss innerhalb von drei Jahren seit Dienstantritt bzw. innerhalb von drei Monaten nach Abschluss eines Studiums gemäß Abs. 2 2. Absatz angesucht werden. Dem Gesuch sind die Unterlagen, aus denen der Anspruch auf Anrechnung hervorgeht, beizulegen. Wenn das Gesuch innerhalb von drei Monaten nach Antritt des Dienstes gestellt wird, so erfolgt die Anrechnung rückwirkend mit Beginn des Dienstverhältnisses. Innerhalb von drei Jahren nach Dienstantritt bzw. innerhalb von drei Monaten nach Abschluss eines Studiums gemäß Abs. 2 2. Absatz eingebrachte Anträge werden bei positiver Erledigung mit dem auf die Antragstellung folgendem Monatsersten wirksam.
6. Vorstehende Bestimmungen über die Anrechnung von Vordienstzeiten finden auf die Bemessung der Abfertigung keine Anwendung (§ 37).
(7.) Zeiten einer Karenz nach dem Mutterschutzgesetz (MSchG) bzw. Väter‑Karenzgesetz (VKG) bzw. Zeiten einer Teilzeitbeschäftigung nach MSchG und VKG bzw. § 25a Abs. 3 Oö.‑l.‑VBG sind wie Vordienstzeiten gemäß Abs. 1 bis 6 zu behandeln. “
Erstmals mit der 19. Novelle vom 24. 8. 1998, kundgemacht am 25. 10. 1998 war § 8 OrchKollV um folgenden neuen Absatz 7 ergänzt worden:
„ (7) Zeiten eines Karenzurlaubes nach MSchG bzw. EKUG bzw. Zeiten einer Teilzeitbeschäftigung nach MSchG und EKUG sind wie Vordienstzeiten gemäß Abs 1 bis 6 zu behandeln. “
Die aktuelle Fassung des § 8 Abs 7 OrchKollV trat am 1. 7. 2004 in Kraft.
Die Klägerin hat zwei Kinder geboren und war von 1. 10. 1994 bis 4. 8. 1996 und von 22. 5. 1998 bis 22. 3. 2000 in Karenz.
Im Jahr 2013 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie aufgrund der Anrechnung der Zeit der zweiten Karenz von 22. 5. 1998 bis 22. 3. 2000 als Vordienstzeit eine Nachzahlung erhalten werde. Die Zeit der ersten Karenz von 1. 10. 1994 bis 4. 8. 1996 wurde der Klägerin nicht als Vordienstzeit angerechnet.
Mit der am 27. 2. 2015 eingebrachten Klage begehrt die Klägerin die Nachzahlung der sich aus der Anrechnung der ersten Karenzzeit als Vordienstzeit ergebende Gehaltsdifferenz von Februar 2012 bis Dezember 2014 in Höhe von (eingeschränkt) 3.405,64 EUR sA. Mangels entsprechender Einschränkung im Kollektivvertrag seien auch Karenzzeiten, die vor dem erstmaligen Inkrafttreten des § 8 Abs 7 OrchKollV gelegen seien, als Vordienstzeiten anzurechnen. Würden ausschließlich die Zeiten nach Abs 7 des § 8 OrchKollV anders als die sonstigen Vordienstzeiten in § 8 OrchKollV behandelt werden, läge darin eine unzulässige Geschlechtsdiskriminierung, weil bei der Beklagten fast ausschließlich Musikerinnen Karenz in Anspruch nehmen würden, überdurchschnittlich aber Männer Mitglieder des Orchesters seien.
Die Beklagte bestritt und beantragte Klagsabweisung. Für die Normwirkung einer Kollektivvertragsbestimmung sei grundsätzlich der Tag nach deren Kundmachung, hier also in Bezug auf § 8 Abs 7 OrchKollV der 26. 10. 1998, maßgebend. Da der Kollektivvertrag keine Rückwirkung dieser Bestimmung vorsehe, sei die erste Karenzzeit der Klägerin von 1. 10. 1994 bis 4. 8. 1996, weil sie vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 8 Abs 7 OrchKollV läge, nicht als Vordienstzeit der Klägerin bei der Berechnung ihres Vorrückungsstichtags zu berücksichtigen. Eine Geschlechterdiskriminierung sei nicht gegeben.
Das Erstgericht folgte dem Standpunkt der Beklagten und wies das Klagebegehren ab.
Das Berufungsgericht änderte über Berufung der Klägerin das Ersturteil im Sinne einer gänzlichen Klagsstattgabe ab. Es sei zwar richtig, dass die Wirkungen einer Gesetzesänderung/Kollektivvertragsänderung nicht Tatbestände ergreifen, die vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes/Kollektivvertrags verwirklicht worden seien. Sofern es sich aber um Dauertatbestände handle, sei der in den Zeitraum der Herrschaft der neuen Rechtsnorm herüberreichende Abschnitt des Dauertatbestands nach den Vorschriften des neuen Gesetzes/Kollektivvertrags zu beurteilen, falls nicht Übergangsbestimmungen etwas anderes anordneten. Die Zeit, für die von der Klägerin eine Entgeltdifferenz geltend gemacht werde, falle in den Geltungsbereich des 1998 neu hinzugefügten § 8 Abs 7 OrchKollV, mit dem Karenzzeiten den schon bisher im KollV geregelten Vordienstzeiten gleichgestellt werden sollten. Indem eine vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung in Anspruch genommene Karenz im dauerrechtlichen Arbeitsverhältnis Rechtsfolgen für die Zeit nach dem Stichtag nach sich ziehe, also in den Zeitraum der neuen Rechtsnorm herüberreiche, sei auch die erste Karenzzeit der Klägerin von 1. 10. 1994 bis 4. 8. 1996 als Vordienstzeit bei Berechnung des Vorrückungsstichtags zu prüfen. Eine Einschränkung des zeitlichen Geltungsbereichs des § 8 Abs 7 OrchKollV sei dem für die Auslegung primär maßgeblichen Text des Kollektivvertrags nicht zu entnehmen. Die Frage der Rückwirkung der in Rede stehenden Kollektiv-vertragsbestimmung stelle sich daher gar nicht.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Auslegung des § 8 Abs 7 OrchKollV noch keine oberstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
In ihrer dagegen gerichteten Revision beantragt die Beklagte die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Klagsabweisung.
Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung , die Revision der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig (RIS‑Justiz RS0042819). Sie ist jedoch nicht berechtigt.
Das Berufungsgericht hat die Frage der Berücksichtigung der vor Inkrafttreten des § 8 Abs 7 OrchKollV absolvierten Karenzzeit als Vordienstzeit bei der Berechnung der kollektivvertraglichen Entgeltansprüche der Klägerin für die Zeit nach Inkrafttreten des § 8 Abs 7 OrchKollV zutreffend beurteilt. Es kann daher auf die Richtigkeit der Begründung des Berufungsgerichts verwiesen werden (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). Zusammenfassend und in Erwiderung der Revision der Beklagten ist festzuhalten:
Die Grundsätze der Auslegung von Kollektivverträgen wurden bereits vom Berufungsgericht ausführlich dargelegt, sodass darauf verwiesen wird (§ 510 Abs 3 ZPO). Hervorzuheben ist, dass der normative Teil eines Kollektivvertrags gemäß den §§ 6 und 7 ABGB nach seinem objektiven Inhalt auszulegen ist; maßgeblich ist, welchen Willen des Normgebers der Leser dem Text entnehmen kann (RIS‑Justiz RS0010088; RS0008807).
Durch die bloße Regelung des Inkrafttretens wird im Allgemeinen nur festgelegt, ab welchem Zeitpunkt der Kollektivvertrag grundsätzlich normative Wirkungen entfaltet. Davon ist die Frage zu unterscheiden, auf welche Sachverhalte im Detail der neue Kollektivvertrag ab seinem Inkrafttreten tatsächlich angewendet werden soll (vgl 8 ObA 70/15z).
Gesetze wirken im Allgemeinen auf abgeschlossene Sachverhalte oder auf vergangene Zeitabschnitte bei Dauerrechtsverhältnissen nicht zurück (8 ObA 70/15z mwN). Sofern es sich aber um Dauertatbestände handelt, ist der in den Zeitraum der Herrschaft der neuen Rechtsnorm herüberreichende Abschnitt des Dauertatbestands nach den Vorschriften des neuen Gesetzes zu beurteilen, falls nicht Übergangsbestimmungen etwas anderes anordnen (RIS‑Justiz RS0008747; RS0008715; RS0008732; vgl 5 Ob 78/00g; 8 ObA 190/02b ua). Vor allem bei einem Dauerrechtsverhältnis, das vor dem Beginn seines zeitlichen Geltungsbereichs begonnen hat und während seines zeitlichen Geltungsbereichs andauert, ist das neue Gesetz hinsichtlich jener Zeitabschnitte anzuwenden, die auf den Zeitraum nach dem Beginn des zeitlichen Geltungsbereichs entfallen (Schauer in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON 1.01 § 5 ABGB Rz 9 mwN; vgl 5 Ob 78/00g). Dies hat auch für Kollektivverträge zu gelten.
Im Anlassfall ist daher davon auszugehen, dass die Neuregelung des § 8 Abs 7 OrchKollV mit dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens (26. 10. 1998) normative Wirkung entfaltet hat und daher ab diesem Zeitpunkt auf das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis anzuwenden ist. Die erste Karenzzeit der Klägerin lag zwar zur Gänze vor Inkrafttreten des § 8 Abs 7 OrchKollV, ist aber als Vordienstzeit für die Berechnung der kollektivvertraglichen Entgeltansprüche der Klägerin aus dem Dauerrechtsverhältnis (Arbeitsrechtsverhältnis) ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmung zu berücksichtigen. Für Entgeltansprüche der Klägerin, die den Zeitraum vor dem Inkrafttreten des § 8 Abs 7 OrchKollV betreffen, stellt die erste Karenzzeit hingegen einen abgeschlossenen Sachverhalt dar. Für diesen Zeitraum macht die Klägerin aber ‑ zu Recht, weil sie gar nicht behauptet, § 8 Abs 7 OrchKollV treffe eine rückwirkend Anordnung ‑ auch keine (höheren) Entgeltansprüche geltend.
Auch die von der Revisionswerberin für ihren Rechtsstandpunkt ins Treffen geführte Entscheidung 9 ObA 186/01w steht mit diesen Grundsätzen im Einklang. War in dieser Entscheidung das Probearbeitsverhältnis (als Dauerrechtsverhältnis) ‑ anders als in der Entscheidung 9 ObA 218/01a das Lehrverhältnis (als Dauerrechtsverhältnis) ‑ noch nicht beendet, weshalb die während des Laufes dieses Dauerrechtsverhältnisses ohne anderslautende Übergangsbestimmung in Kraft getretene Rechtsänderung ab ihrem Inkrafttreten anzuwenden war, ist es im gegenständlichen Fall das Arbeitsverhältnis (als Dauerrechtsverhältnis), das die Grundlage für den laufenden Entlohnungsanspruch der Klägerin bildet. Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten wird dem Kollektivvertrag mit diesem Ergebnis keine Rückwirkung unterstellt.
Im Text des Kollektivvertrags finden sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kollektivvertragsparteien den zeitlichen Geltungsbereich des § 8 Abs 7 OrchKollV insofern einschränken wollten, als von der Anwendung der Norm nur Karenzzeiten als Vordienstzeiten erfasst sein sollten, die nach Inkrafttreten der Norm vom Arbeitnehmer in Anspruch genommen wurden. Dies wird von der Beklagten auch nicht weiter in Frage gestellt.
Zusammengefasst sind für die Berechnung der Entgeltansprüche der Klägerin ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 8 Abs 7 OrchKollV mit 26. 10. 1998 auch die Zeiten eines Karenzurlaubs nach MSchG wie Vordienstzeiten gemäß § 8 Abs 1 bis 6 OrchKollV zu behandeln, die vor dem Inkrafttreten des § 8 Abs 7 OrchKollV, also vor dem 26. 10. 1998, vom Arbeitnehmer in Anspruch genommen wurden.
Der Revision der Beklagten war daher nicht Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.
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