OGH 9ObA68/24a

OGH9ObA68/24a19.9.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden,den Hofrat Dr. Hargassner und die Hofrätin Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Ingomar Stupar (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Thomas Kallab (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Parteien 1. A*, und 2. Ö*, beide vertreten durch Dr. Christoph Arbeithuber, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei K*, vertreten durch Dr. Gernot Lehner, Rechtsanwalt in Neumarkt im Hausruckkreis, wegen zu 1.a.) 24.284,52 EUR sA und b.) Feststellung (Streitwert: 5.000 EUR) sowie zu 2.a.) 23.330,90 EUR sA und b.) Feststellung (Streitwert: 5.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. Juli 2024, GZ 12 Ra 28/24k‑41, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:009OBA00068.24A.0919.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der klagenden Parteien wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Am 14. 5. 2020 ereignete sich auf dem Betriebsgelände der V* GmbH & Co KG ein Arbeitsunfall, bei dem der Arbeitnehmer D* durch einen Sturz verletzt wurde. An diesem Tag führte D* ungesichert Bohr- und Schweißarbeiten an der Oberseite eines zylinderförmigen Tanks in einer Höhe von etwa 3,5 bis 4 m durch. Aufgrund eines außergewöhnlichen Störfalls, nämlich einer plötzlich entweichenden Luft aus dem von D* gebohrten Loch im Tank und des damit verbundenen Pfeifgeräuschs erschrak D*, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf den Asphaltboden. Der Beklagte, sein Vorgesetzter, hatte wahrgenommen, dass sich der Verletzte bei den Arbeiten nicht gegen einen Absturz gesichert hatte.

[2] Die Vorinstanzen wiesen die gegen den Beklagten als im Unfallzeitpunkt Vorgesetzten des Verletzten gerichteten Leistungs- und Feststellungsbegehren der klagenden Sozialversicherungsträger nach § 334 Abs 1 iVm § 333 Abs 4 ASVG ab. Der Beklagte habe den Arbeitsunfall nicht grob fahrlässig herbeigeführt.

Rechtliche Beurteilung

[3] Die außerordentliche Revision der Klägerinnen zeigt keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO auf.

[4] 1. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der Dienstgeber oder ein ihm gemäß § 333 Abs 4 ASVG Gleichgestellter den Trägern der Sozialversicherung alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen, wenn er den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat.

[5] 2. In der Entscheidung 9 ObA 74/23g (Rz 7) hat der Oberste Gerichtshof zum Verschuldensgrad der groben Fahrlässigkeit ausgeführt: Grobe Fahrlässigkeit iSd § 334 Abs 1 ASVG ist dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iSd § 1324 ABGB gleichzusetzen (RS0030510). Grobe Fahrlässigkeit ist immer dann anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar war (RS0030644). Nicht jede Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften bedeutet für sich allein aber bereits das Vorliegen grober Fahrlässigkeit (RS0052197; RS0026555). Andererseits kann aber auch schon ein einmaliger Verstoß gegen Schutzvorschriften grobe Fahrlässigkeit bewirken, wenn ein Schadenseintritt nach den gegebenen Umständen des Einzelfalls als wahrscheinlich voraussehbar ist (RS0030622). Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist nicht der Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern der Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung beizumessen (RS0085332; RS0031127 [T22]). Bei der Einschätzung der Schwere des Sorgfaltsverstoßes kommt es insbesondere auch auf die Gefährlichkeit der Situation an (RS0022698). Bei der Bestimmung des jeweils nach Auffassung des Verkehrs als erforderlich zu erachtenden Maßes der Sorgfalt ist also die konkrete Situation zu berücksichtigen, sodass erhöhte Gefahr auch erhöhte Aufmerksamkeit erfordert (RS0022698 [T1]). § 334 Abs 3 ASVG schließt nicht aus, dass bei der Beurteilung der Frage, ob der auf Ersatz in Anspruch Genommene grob fahrlässig gehandelt habe, das Verhalten des Versicherten mitberücksichtigt wird (RS0085538 [T2]). An diesen Grundsätzen ist festzuhalten. Sie werden auch in der außerordentlichen Revision nicht in Frage gestellt.

[6] 3. Ob jemand einen Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (RS0085228 [T1]) und stellt – von Fällen einer vom Obersten Gerichtshof im Sinne der Rechtssicherheit wahrzunehmenden Fehlbeurteilung abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0085228 [T15]). Die angefochtene Entscheidung, die das Fehlverhalten des Beklagten als nicht grob fahrlässig beurteilte, bewegt sich im Rahmen des den Gerichten eingeräumten Beurteilungsspielraums. Damit weicht das Berufungsgericht auch nicht von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ab.

[7] 4. Soweit sich die außerordentliche Revision umfangreich mit dem Zweck der präventiven Sicherungspflicht des Arbeitnehmers und der Kausalität der Schadensverursachung sowie (auch im Zusammenhang mit der geltend gemachten Aktenwidrigkeit) mit Fragen einer Schutzgesetz- und Vertragspflichtenverletzung, Beweislastfragen und Fragen der Rechtswidrigkeit auseinandersetzt, ist Folgendes klarzustellen: Beide Vorinstanzen sind übereinstimmend zum Ergebnis gekommen, dass sich der Verletzte wegen der bei den Arbeiten am Tank bestandenen Absturzgefahr zumindest mit einer Schutzausrüstung gegen einen Absturz vom Tank sichern hätte müssen. Dem Beklagten ist insofern eine Verletzung der Arbeitnehmerschutzvorschrift des § 7 BauV vorzuwerfen, weil er gesehen hat, dass D* ungesichert in einer Höhe von ca 3,5 m bis 4 m gearbeitet hat, ihn aber nicht aufgefordert hat, eine Schutzausrüstung zu verwenden (eine Absturzsicherung des Standplatzes an der Oberseite des Tanks war nicht vorhanden), obwohl er dazu als dessen Vorgesetzter verpflichtet gewesen wäre. Damit steht fest, dass der Beklagte den Arbeitsunfall durch seine Unterlassung kausal, rechtswidrig und schuldhaft verursacht hat. Im Revisionsverfahren ist daher nur mehr strittig, ob der Beklagte den Arbeitsunfall grob fahrlässig verursacht hat.

[8] 5. Das Berufungsgericht hat im konkreten Einzelfall eine grobe Fahrlässigkeit verneint, weil D* auf der Oberseite des Tanks, die nach außen hin um etwa 20 bis 30 cm abgefallen ist, nur für etwa 10 bis 15 Minuten eine grundsätzlich statische Arbeit – nämlich das Bohren eines Lochs und Einschweißen eines Entlüftungsrohrs, wobei das Schweißgerät mit dem Gabelstapler „bereitgestellt“ worden sei – im Knien zu verrichten gehabt habe, sodass, außer am unmittelbaren Weg zum Arbeitsplatz, ein Stolpern, Ausrutschen und dergleichen auszuschließen gewesen sei. Dass der Arbeitsunfall durch einen vom Beklagten oder von D* (auch nur annähernd) voraussehbaren Umstand herbeigeführt worden wäre, werde von den Klägerinnen im Berufungsverfahren nicht (mehr) behauptet. Auszugehen sei davon, dass das zum Unfall führende Erschrecken durch die – als außergewöhnlicher Störfall zu wertende – Druckentlastung hervorgerufen worden sei. Ein Absturz vom Tank und damit der Eintritt des Schadens sei daher trotz unterlassener Sicherung wenig wahrscheinlich gewesen.

[9] 6. Richtig ist, dass das Schutzbedürfnis des Arbeitnehmers umso höher ist, je höher die Gefahr eines Unfalls ist. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, dass hier das Risiko eines Absturzes vom Tank aufgrund der dargestellten konkreten Umstände gering war, ist nicht zu beanstanden. Schließlich war die (schräge, weil nach außen leicht abfallende) Oberfläche des Tanks zum Unfallszeitpunkt nicht rutschig und der Verletzte hatte mit seinen Sicherheitsschuhen mit trittsicheren festen Sohlen auch einen festen Stand. Richtig ist zwar, dass grundsätzlich auch mit einem ungewissen Ereignis (Erschrecken, Stolpern etc) eines Arbeitnehmers gerechnet werden muss, der Arbeiten in einer absturzgefährdeten Höhe erbringt. Genau deshalb gibt es auch entsprechende Arbeitnehmerschutzvorschriften, die hier unstrittig verletzt wurden.

[10] 7. Erwähnt wurde aber bereits, dass nicht jede Übertretung einer Unfallverhütungsvorschrift bereits grobe Fahrlässigkeit bedeutet. Abgesehen von der geringen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts durch die unterlassene Absturzsicherung wiegt der Sorgfaltsverstoß des Beklagten nicht so schwer. Im Betrieb des Beklagten und des Verletzten wurde großer Wert auf die Einhaltung der laufend erfolgten Sicherheitsanweisungen und -unterweisungen gelegt. Auch der Verletzte war mehrmals darauf hingewiesen worden, bei Arbeiten in der Höhe, ua auf Behältern und Silos, eine entsprechende Höhensicherung zu verwenden. Daran hat sich der Verletzte bis zum Arbeitsunfall auch immer wieder gehalten und sich verlässlich und selbständig um die erforderliche Sicherheitsausrüstung gekümmert. Nur bei den konkreten Arbeiten am Unfallstag hielt er eine Sicherung für nicht erforderlich. Der Beklagte verließ sich erkennbar auf dessen Einschätzung, auch wenn ihn dies nicht von seinem Verschulden exkulpiert. Der auch in der Revision aufrecht erhaltene Vorwurf, der Beklagte hätte sich über den dem Arbeitsunfall vorangehenden Versuch, die noch im Tank befindliche Masse durch das Einblasen von Druckluft aus dem Tank zu leiten, informieren müssen, übergeht die – nicht angefochtenen – Feststellungen, dass die im Tank befindliche Masse kein brennbarer Arbeitsstoff und die Reaktion im Tankinneren ein außergewöhnlicher Störfall war. Wie ausgeführt ist die Unterlassung der Aufforderung an den Verletzten, bei der Arbeit auf dem Tankdeckel Schutzausrüstung zu verwenden, dem Beklagten ohnehin vorwerfbar. Welche darüber hinausgehenden „einfachen und naheliegenden Überlegungen“ (vgl RS0085228) zur Vermeidung des Unfalls der Beklagte bei Einholung der geforderten Information anstellen hätte sollen, legen die Revisionswerber nicht dar. Die gesamten Umstände der konkreten Situation lassen die Beurteilung des Berufungsgerichts daher als vertretbar erscheinen.

[11] Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Klägerinnen zurückzuweisen.

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