OGH 9Ob59/24b

OGH9Ob59/24b23.7.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, die Hofrätinnen und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner, Mag. Korn, Dr. Stiefsohn und Dr. Wallner‑Friedl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W*, vertreten durch Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei V* AG, *, vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 8.310 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 5.540 EUR) gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 25. Jänner 2024, GZ 5 R 235/23d‑89, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Kitzbühel vom 22. August 2023, GZ 3 C 291/21p‑82, nicht Folge gegeben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0090OB00059.24B.0723.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden im Umfang der Anfechtung (5.540 EUR) aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der Kläger kaufte am 22. 3. 2018 um 27.700 EUR einen PKW VW Caddy. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Modells EA288 ausgestattet und nach der Abgasnorm Euro 6 typisiert. Die Beklagte ist die Herstellerin des Fahrzeugs.

[2] Der Dieselmotor verfügt über eine Abgasrückführung (AGR) über das AGR-Ventil, sowie ein SCR‑System/AdBlue mit SCR-Katalysator.

[3] Bei SCR-Systemen erfolgt eine Nox-Reduzierung durch die Verwendung von AdBlue. AdBlue ist Harnstoff in wässriger Lösung, der nach der Eindosierung in die Abgasstrecke, vor dem SCR-Katalysator, in Ammoniak umgewandelt wird. Der AdBlue‑Verbrauch hängt vom Rohimmissionsniveau und der Betriebssituation (Kaltstart, Kurzstrecke, Lastkollektiv) ab sowie der jeweiligen Fahrweise. Die Dosierung ist jedoch nicht vom NH3‑(Ammoniak)Füllstand abhängig. Beim NH3-Füllstand des SCR‑Katalysators handelt es sich um jene NH3-Menge, welche aufgrund vorgelagerter AdBlue-Eindosierungen im SCR‑Katalysator noch unverbraucht gespeichert ist.

[4] Nicht festgestellt werden konnte, innerhalb welchen konkreten Temperaturbereichs das AGR-System zu 100 % aktiv ist, insbesondere ob es (zumindest) zwischen minus 24° Celsius und plus 70° Celsius zu 100 % aktiv ist. Jedenfalls ist es nicht nur zwischen 15° Celsius und 33° Celsius und nur bis 120 km/h zu 100 % aktiv. Nicht festgestellt werden konnte, dass das AGR-System des Klagsfahrzeugs in Österreich und Mitteleuropa überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt inaktiv ist. Jedenfalls ist es in Österreich und Mitteleuropa mehr als ein halbes Jahr zu 100 % aktiv.

[5] Ein uneingeschränkter, wartungsfreier Betrieb eines AGR-Systems ist aus technischer Sicht heute noch nicht möglich. Beim Ausfall des AGR-Ventils kann es zu einer sicherheitskritischen Situation kommen, insbesondere im Zuge eines Überholvorgangs. Dieser Ausfall des AGR-Ventils kann plötzlich und unerwartet erfolgen, jedoch macht sich dies vorab insoweit bemerkbar, dass es zunächst zu einer Versottung beziehungsweise Verkokung kommt. Die Verkokung kann mittels Einsatzes eines Thermofensters verringert werden. Aktuelle AGR-Systeme wurden nicht als Wartungs-/Serviceteile konzipiert.

[6] Zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung wies das Klagsfahrzeug einen Kilometerstand von cirka 72.000 km auf; zum Zeitpunkt des Ankaufs durch den Kläger hatte es einen Kilometerstand von cirka 9.000 km.

[7] Beim klagsgegenständlichen Fahrzeug bestand zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz keine Gefahr, die Zulassung zu verlieren. Das Fahrzeug ist EU-typengenehmigt. Gemäß dem Deutschen Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) verfügt es über keine unzulässige Abschalteinrichtung oder Konformitätsabweichungen hinsichtlich des Emissionsverhaltens. Das KBA hat hinsichtlich der Motoren des Typs EA288 keine Bescheide im Zusammenhang mit dem Vorwurf einer unzulässigen Abschalteinrichtung erlassen und auch keinen verpflichtenden Rückruf angeordnet.

[8] Bei Fahrzeugen, die zum Zeitpunkt des Kaufs über eine EG-Typengenehmigung verfügen, die aber aufgrund einer zum Kaufzeitpunkt bekannten unzulässigen Abschalteinrichtung möglicherweise entzogen werden kann, wodurch das Fahrzeug seine Zulassung verlieren würde, erhalten Käufer beim Kauf einen Nachlass von 10 bis 30 %, wobei in der Regel der durchschnittliche Käufer den Kauf bei Kenntnis dieser Mängel nicht antreten wird.

[9] Der Kläger hätte kein Fahrzeug gekauft, das nicht den Normen entspricht, wenn notwendige Software-Updates zum Erhalt der Zulassung erforderlich wären oder der Entzug der Zulassung drohen würde.

[10] Der Kläger begehrt 8.310 EUR sA und die Feststellung der Haftung für zukünftige Schäden. Das Feststellungsbegehren wurde mittlerweile rechtskräftig abgewiesen. Er bringt vor, er sei von der Beklagten vorsätzlich darüber in Irrtum geführt worden, dass das angekaufte Fahrzeug die entsprechende Abgasnorm Euro 6 erfüllt. In Kenntnis der wahren Umstände hätte er das Fahrzeug nicht zu diesem Preis erworben. Der Vertrag sei durch List bewirkt worden, sodass er einen Schadenersatzanspruch nach § 874 ABGB habe. Außerdem stützt er sein Begehren auf Schadenersatz nach § 1235 Abs 2 iVm § 1323 ABGB, sowie § 2 UWG, § 37c Kartellgesetz in Verbindung mit § 1311 ABGB und einer Garantie der Beklagten.

[11] Zur Unzulässigkeit der Abgasstrategie brachte der Kläger vor, dass die NOx-Grenzwerte im Realbetrieb nicht eingehalten würden, die Abgasrückführung lediglich in einem Temperaturbereich von 15° Celsius bis 33° Celsius voll funktionsfähig sei, die AdBlue-Einspritzung unzulässig reduziert/abgeschaltet werde (nämlich außerhalb des oben angeführten Temperaturbereichs und über 120 km/h) und die AdBlue-Dosierung abhängig vom NH3-Füllstand gesteuert werde. Die Beklagte treffe die Behauptungs- und Beweislast, dass die verbaute Emissionsstrategie zulässig sei. Der Beklagten sei die Verschleierung der Unzulänglichkeit ihrer Konstruktion mit Hilfe unzulässiger Abschalteinrichtungen subjektiv vorwerfbar. Es handle sich um ein absichtlich sittenwidriges Überschreiten der Grenzwerte im realen Fahrbetrieb.

[12] Die Beklagte bestreitet. Es sei kein behördlicher Rückruf von Fahrzeugen mit dem Motor des Typs EA288 (Euro 6) erfolgt. Der Motor enthalte keine unzulässige Abschalteinrichtung. Der Kläger könne das Fahrzeug uneingeschränkt benützen. Nach Ansicht der Typengenehmigungsbehörde entspreche das Fahrzeug den gesetzlichen Vorgaben. Eine Abschalteinrichtung sei unzulässig. EA288-Motoren würden aber bei Fahrsituationen sowohl am Prüfstand als auch auf der Straße mit identer Wirksamkeit arbeiten. Es liege keine „prüfstandoptimierte" Umschaltlogik oder eine die Schadstoffemission nur am Prüfstand optimierende Funktion vor. Beim konkreten Thermofenster sei schon tatbestandlich von keiner Abschalteinrichtung im Sinn von Art 3 Z 10 VO (EG) 715/2007 auszugehen; die Abgasrückführung sei zwischen – 24° Celsius und + 70° Celsius zu 100 % aktiv, oberhalb und unterhalb dieses Thermofensters erfolge zum sicheren Betrieb des Fahrzeugs keine Abgasrückführung (aus Motorschutzgründen), innerhalb des Thermofensters gebe es keine kontinuierliche Abstufung in Abhängigkeit zur Außentemperatur. Selbst wenn eine Abschalteinrichtung tatbestandlich anzunehmen wäre, wäre diese zulässig gemäß Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a alt 1 und alt 2 VO (EG) 715/2007 .

[13] Der Kläger habe keinen Schaden erlitten, denn das Fahrzeug entspreche dem vertraglich Geschuldeten. Auch eine merkantile Wertminderung sei nicht eingetreten. Die Beklagte habe auch nicht über vertragsrelevante Umstände getäuscht.

[14] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Auch wenn das exakte Thermofenster nicht festgestellt habe werden können, würden die Emissionswerte eingehalten und sei dem Kläger nicht gelungen nachzuweisen, dass das gegenständliche System mehr als sechs Monate in Österreich nicht arbeite.

[15] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers gegen diese Entscheidung nicht Folge. Das Fahrzeug halte die gesetzlichen Abgasnormen ein, es drohe kein Entzug der Zulassung. Eine Anspruchsgrundlage sei nicht erkennbar.

[16] Die Revision wurde vom Berufungsgericht nachträglich über Antrag des Klägers zugelassen, weil nicht auszuschließen sei, dass das Berufungsgericht von den vom Obersten Gerichtshof vorgegebenen Auslegungsgrundsätzen bei der Beurteilung der Unzulässigkeit eines Thermofensters abgegangen sei.

[17] Gegen die Abweisung des Zahlungsbegehrens im Umfang von 5.540 EUR richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, dass dem Zahlungsbegehren im angefochtenen Umfang Folge gegeben wird. In eventu wird ein Aufhebungsbegehren gestellt.

[18] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[19] Die Revision ist zur Klarstellung zulässig und im Sinne des eventualiter gestellten Aufhebungsbegehrens auch berechtigt.

[20] 1. Es ist unstrittig, dass auf das gegenständliche Fahrzeug die VO 715/2007/EG anwendbar ist.

[21] Nach Art 5 Abs 2 Satz 1 VO 715/2007/EG ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, unzulässig. Eine Abschalteinrichtung ist nach der Legaldefinition in Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.

[22] 2. Der Oberste Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass dabei einerseits zwischen verschiedenen Arten von (möglichen) Abschalteinrichtungen und andererseits zwischen den Systemen der Abgasrückführung (Thermofenster) und der Abgasnachbehandlung (SCR‑Katalysator) als unterschiedliche Bestandteile des Emissionskontrollsystems zu unterscheiden ist. Greifen die(se) technischen Systeme ineinander, ist auf das Gesamtergebnis, also auf das „Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit“ abzustellen. Bei Vorliegen eines Thermofensters kommt es daher darauf an, ob die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems insgesamt (dh unter Einschluss der Abgasnachbehandlung) verringert wird (10 Ob 52/23d Rz 11; 3 Ob 215/23y Rz 17).

[23] 3. Nach den Feststellungen weist das Fahrzeug ein Thermofenster auf, aufgrund dessen die volle Abgasrückführung nur innerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs erfolgt, wohingegen sie bei Temperaturen darüber oder darunter sukzessive reduziert wird. Ein solches Thermofenster ist grundsätzlich eine Abschalteinrichtung im Sinn des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG (10 Ob 2/23a vom 21. 2. 2023 Rz 56).

[24] 4. Stützt der klagende Käufer eines Kraftfahrzeugs einen Schadenersatzanspruch auf das Vorhandensein einer Abschalteinrichtung nach Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG hat er den Eintritt eines Schadens infolge des Vorhandenseins einer Abschalteinrichtung zu behaupten und beweisen. Soweit sich die Beklagte auf eine Ausnahme vom Verbot einer Abschalteinrichtung stützt, liegt es in weiterer Folge an ihr, die für die Verbotsausnahme erforderlichen Voraussetzungen zu behaupten und zu beweisen (RS0106638 [T20]; 6 Ob 155/22w; 1 Ob 149/22a; 9 Ob 53/23v uva).

[25] 5. Aus den Feststellungen ergibt sich, dass das Fahrzeug ein Thermofenster aufweist, dass zu einer Reduktion der Abgasrückführung führen kann, wobei nicht festgestellt werden konnte, in welchem Temperaturbereich. Die daraus resultierende (verbleibende) Unklarheit geht zu Lasten der Beklagten, der es nicht gelungen ist nachzuweisen, dass die eingebaute Abschalteinrichtung im normalen Fahrbetrieb – wie behauptet – praktisch inaktiv ist.

[26] 6. Aus der weiters getroffenen Feststellung, dass die Abgasrückführung jedenfalls mehr als die Hälfte des Jahres zu 100 % aktiv ist, ist für die Beklagte ebenfalls nichts zu gewinnen.

[27] Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG normiert ein grundsätzliches, von Ausnahmen (vgl dazu Art 5 Abs 2 Satz 1 lit a VO 715/2007/EG ) durchbrochenes Verbot von Abschalteinrichtungen (vgl 6 Ob 155/22w Rz 35). Eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet ist, ist eine unzulässige Abschalteinrichtung (vgl EuGH C-145/20 , Porsche Inter Auto und Volkswagen AG). Nur wenn dies nicht der Fall ist, kann die Abschalteinrichtung bei Erfüllung der Voraussetzungen des Art 5 Abs 2 lit a VO 715/2007/EG zulässig sein.

[28] Damit führt der Umstand, dass die Abgasrückführung in Österreich und Mitteleuropa jedenfalls mehr als das halbe Jahr zu 100 % aktiv ist, entgegen der Auffassung der Vorinstanzen nicht zur Zulässigkeit der Abschalteinrichtung, sondern nur dazu, dass der Beweis einer ausnahmsweisen Zulässigkeit möglich ist.

[29] 7. Zusätzlich ist allerdings zu berücksichtigen, dass das konkrete Fahrzeug verschiedene Systeme der Abgasrückführung (Thermofenster) und der Abgasnachbehandlung (SCR-System, SCR-Katalysator) aufweist. Zur Beurteilung, ob eine unzulässige Abschalteinrichtung vorliegt, kann daher beim konkreten Fahrzeug wie zuvor dargelegt nicht allein auf das Vorhandensein eines Thermofensters abgestellt werden. Zum Zusammenwirken dieser verschiedenen Systeme hat das Erstgericht keine Feststellungen getroffen. Damit kann derzeit aber nicht beurteilt werden, ob im Fall der Reduktion der Abgasrückführung (also bei aktivem Thermofenster) eine unveränderte „Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems insgesamt“ sichergestellt ist oder nicht. Damit ist der Nachweis des Vorliegens einer Abschalteinrichtung im Sinn des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG noch nicht erbracht.

[30] 8. Der Revision des Klägers war daher Folge zu geben, die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[31] 9. Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 Abs 1 ZPO.

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