European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:E115805
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Dem Rekursgericht wird eine neuerliche Entscheidung über den Rekurs aufgetragen.
Begründung:
Am 6. 3. 2012 stimmte die Mutter der am * 2011 geborenen mj Zwillingskinder E* und O* einer freiwilligen vollen Erziehung der Kinder durch Pflegeeltern zu. Aufgrund einer psychischen Erkrankung sah sich die Mutter damals nicht in der Lage, die Pflege und Erziehung der Kinder zu übernehmen. In der Folge wurden die Kinder bei Pflegeeltern untergebracht, wo sie sich auch derzeit noch befinden. Der Vater der Kinder ist unbekannt.
Am 18. 10. 2013 widerrief die Mutter ihre Zustimmung zur Unterbringung der Kinder in einer Pflegefamilie und beantragte die Rückführung der Kinder in ihren Haushalt.
Der Kinder- und Jugendhilfeträger beantragte am 6. 11. 2013, ihm gemäß § 181 ABGB die gesamte Obsorge für die Zwillingskinder zu übertragen. Die Mutter könne den Kindern keine stabile und kontinuierliche Lebenssituation bieten, sodass das Kindeswohl gefährdet sei. Auch wenn sich zwischenzeitig einzelne Teilbereiche und Faktoren bei der Mutter und deren sozialem Umfeld verbessert hätten, sei die Gesamtsituation bei der Mutter aber noch immer nicht ausreichend stabil, um im Falle einer Rückführung der Kinder eine Kindeswohlgefährdung mit Sicherheit ausschließen zu können. Im Übrigen hätten sich die beiden Kinder bei der Pflegefamilie sehr gut eingelebt, sodass die Rückführung zur leiblichen Mutter einem neuerlichen Beziehungsabbruch gleichkäme und dadurch das Kindeswohl gefährdet wäre.
Die Pflegeeltern sprachen sich ebenfalls gegen die Rückführung der Kinder zur leiblichen Mutter aus und schlossen sich inhaltlich den Argumenten des Kinder- und Jugendhilfeträgers an.
Die Mutter trat dem Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers entgegen. Sie habe ihre Lebenssituation seit der Unterbringung der Kinder bei den Pflegeeltern kontinuierlich verbessert und an psychischer Stabilität gewonnen. Nunmehr sei sie in der Lage, die Obsorge für ihre beiden Zwillingskinder zu übernehmen und deren gedeihliche Entwicklung zu gewährleisten.
Das Erstgericht wies den Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers auf Übertragung der Obsorge über die beiden Kinder ab. Eine Kindeswohlgefährdung iSd § 181 Abs 1 ABGB liege nicht vor. Das bloße Risiko einer Gefährdung des Kindeswohls rechtfertige keinen Entzug der Obsorge. Bei der konkreten Obsorgeentscheidung gehe es nicht darum, ob es die Kinder bei den Pflegeeltern besser hätten als bei der leiblichen Mutter, sondern es sei darauf abzustellen, ob die Kinder im Falle einer Rückführung zur Mutter einer Kindeswohlgefährdung ausgesetzt wären. Eine Verunsicherung der Kinder, welche nun schon geraume Zeit bei den Pflegeeltern gelebt hätten, so wie Entwicklungsrisiken im Bereich der Emotionalität seien für das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung unbeachtlich. Insbesondere dürfe nicht übersehen werden, dass eine allfällige Rückführung unter professioneller Begleitung mit entsprechender Vorbereitung zu erfolgen habe.
Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Rekursgericht den Rekursen des Kinder- und Jugendhilfeträgers sowie der Pflegeeltern statt. Es entzog der Mutter die Obsorge über die beiden mj Kinder und übertrug sie dem Kinder- und Jugendhilfeträger. Da sich die Kinder bereits seit fast vier Jahren bei den Pflegeeltern befänden, sei davon auszugehen, dass es sich hier de facto nicht um ein Obsorgeentzugsverfahren, sondern bereits um ein Obsorgerückübertragungsverfahren handle und daher die Rechtsgrundsätze für Letzteres anzuwenden seien. Da das Kindeswohl auch bei der Aufhebung von Maßnahmen dem Elternrecht vorgehe, müsse eindeutig feststehen (Zukunftsprognose), dass die Wiederherstellung der Obsorge der Mutter dem Kindeswohl diene. Eine Obsorgerückübertragung setze nicht nur die künftig gewährleistete Wahrung der Kindesinteressen durch den Obsorgeberechtigten voraus, sondern auch das Überwiegen der Vorteile der Rückübertragung. Da hier nicht eindeutig feststehe, dass die Wiederherstellung der Obsorge der Mutter dem Kindeswohl diene, habe ein Obsorgewechsel mangels sicherer Prognose über dessen Einfluss auf die Kinder jedenfalls zu unterbleiben.
Den ordentliche Revisionsrekurs gemäß § 62 Abs 1 AußStrG ließ das Rekursgericht zu, weil keine höchstgerichtliche Entscheidung zur Frage vorliege, ob die Kriterien für eine Obsorgerückübertragung auch dann anzuwenden seien, wenn der Obsorgeberechtigte zunächst der freiwilligen vollen Erziehung bei Pflegeeltern zugestimmt habe.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und den Beschluss des Erstgerichts zu bestätigen sowie den Antrag des Kinder- und Jugendwohlfahrtsträgers auf Übertragung der Obsorge für die beiden Kinder abzuweisen. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
In ihren Revisionsrekursbeantwortungen beantragen der Kinder- und Jugendhilfeträger und die Pflegeeltern (zur Rechtsmittellegitimation: RIS-Justiz RS0118141) die Bestätigung der angefochtenen Entscheidung, die Pflegeeltern überdies die Zurückweisung des Revisionsrekurses mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht die Rechtsfrage unrichtig gelöst hat. Er ist im Sinne des Eventualantrags auch berechtigt.
1. Der Oberste Gerichtshof hat die vom Rekursgericht als erheblich iSd § 62 Abs 1 AußStrG bezeichnete Rechtsfrage bereits in mehreren Entscheidungen (3 Ob 165/11b = EF-Z 2012/67 [Jaksch-Ratajczak]; 7 Ob 10/13s; 7 Ob 189/15t mwN = EvBl-LS 2016/65 [Hoch]) gelöst. Die Mutter war bei der vorliegenden Konstellation kraft Gesetzes ab der Geburt allein mit der Obsorge für ihre Kinder betraut (§ 177 Abs 2 Satz 1 ABGB). Dritte dürfen in die elterlichen Rechte nur insoweit eingreifen, als ihnen dies durch die Eltern selbst, unmittelbar aufgrund des Gesetzes oder durch eine behördliche Verfügung gestattet ist (§ 139 Abs 1 ABGB idF KindNamRÄG 2013). Die Eltern können damit durch Vereinbarung die faktische Ausübung der Obsorge ganz oder teilweise übertragen, nicht aber die Obsorgerechte und -pflichten (7 Ob 189/15t mwN). Bei der Vereinbarung freiwilliger voller Erziehung – hier nach § 37 iVm § 38 Oö JWG 1991 (nunmehr § 26 iVm § 27 B-KJHG 2013 bzw § 45 iVm § 46 des Oö KJHG 2014) – bleiben die Eltern weiterhin Obsorgeträger (Fischer-Czermak in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 139 Rz 2; vgl RIS-Justiz RS0127384). Einen einseitigen Verzicht auf die Elternrechte und die damit verbundenen Pflichten kennt das Gesetz nicht (Gitschthaler in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 158 ABGB Rz 6 mwN; Hopf in KBB4 § 158 ABGB Rz 1; RIS-Justiz RS0006513; 7 Ob 189/15t mwN).
2. Der Kinder- und Jugendhilfeträger hat die Interimskompetenz nach § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB wegen Gefahr im Verzug bisher nicht in Anspruch genommen. Vielmehr beantragte er gemäß § 211 Abs 1 Satz 1 iVm § 181 Abs 2 ABGB, der Mutter die Obsorge über ihre Kinder zu entziehen und diese ihm zu übertragen.
3. Eine Obsorgeübertragung an den Kinder- und Jugendhilfeträger setzt daher im Anlassfall voraus, dass der Mutter die Obsorge entzogen wird, was nur bei akuter Kindeswohlgefährdung in Betracht kommt, sodass eine solche Maßnahme nur als ultima ratio gerechtfertigt ist (vgl 3 Ob 165/11b). Bei der Obsorgeentscheidung iSd § 181 ABGB ist ausschließlich das Kindeswohl maßgebend, wobei eine Änderung der Obsorgeverhältnisse nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs (RIS‑Justiz RS0047841 [T15, T19, T21]; RS0048712 [T1]; RS0085168 [T5]; RS0048699 [T8]) und nur insoweit angeordnet werden darf, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung notwendig ist (RIS‑Justiz RS0048712; RS0085168; vgl RS0048633). Bei dieser Entscheidung ist zu berücksichtigen, ob – vor allem bei einem längeren Aufenthalt auf einem Pflegeplatz – die Notwendigkeit der Trennung von den Pflegeeltern zu psychischen Beeinträchtigungen des Kindes und damit zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen würde; dabei stehen aber nur solche zu erwartenden Beeinträchtigungen einer Rückführung des Kindes entgegen, die als nicht bloß vorübergehende Umstellungsschwierigkeiten zu werten sind, sondern eine konkrete, ernste Gefahr für die Entwicklung der Kinder ergeben würden (RIS-Justiz RS0009673 [T4]).
4. Da es somit zur abschließenden rechtlichen Beurteilung der – grundsätzlich nur aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls vorzunehmenden (RIS-Justiz RS0115719 [T7]) – Obsorgeentscheidung einer Überprüfung der vom Erstgericht festgestellten, von den Pflegeeltern in ihrem Rekurs mit einer Mängel- und Beweisrüge und vom Kinder- und Jugendhilfeträger mit einer Beweisrüge aber bekämpften, Tatsachengrundlage bedarf, war in Stattgebung des Revisionsrekurses wie aus dem Spruch ersichtlich zu entscheiden.
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