European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130666
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Akt wird dem Erstgericht mit dem Auftrag zurückgestellt, den Akt dem Berufungsgericht zur Entscheidung über den Antrag nach § 508 ZPO vorzulegen.
Begründung:
[1] Mit Kaufvertrag vom 30. 7. 2013 erwarben die Kläger von der I* GmbH 80/2081 Anteile der Liegenschaft EZ * KG *. Kaufvertragserrichterin und Treuhänderin war die Beklagte.
[2] Laut Kaufvertrag hatte die Verkäuferin das Gebäude erneuert und Dachgeschoßwohnungen neu errichtet; diese Arbeiten seien weitgehend abgeschlossen und die Dachgeschoßwohnungen nahezu fertiggestellt; die Regelungen des Bauträgervertragsgesetzes fänden auf dieses Vertragsverhältnis daher keine Anwendung. Der vereinbarte Kaufpreis für den Kaufgegenstand „neu errichtete Dachgeschoßwohnung W44 mit einer Nutzfläche von etwa 104,72 m², bestehend aus Wohnzimmer mit Küche, drei Zimmern, Bad, WC und einer Terrasse mit einer Fläche von etwa 13,80 m² und dem ausschließlichen Nutzungsrecht an einem Kellerabteil mit etwa 2,5 m² Fläche“ betrug 362.667,50 EUR. Die zur Treuhänderin aller Vertragsparteien bestellte Beklagte wurde einseitig unwiderruflich beauftragt, den treuhändig erlegten Kaufpreis samt den angefallenen Zinsen abzüglich der Bankspesen und einer allfälligen Immobilienertragssteuer an die Verkäuferin auszufolgen, sobald ihr die schriftliche Bestätigung des Prüfingenieurs vorliege, dass die vertragsgegenständliche Wohnung entsprechend der Ausstattung der von den Käufern besichtigten Musterwohnung frei von sichtbaren Mängeln hergestellt sei und das Heizsystem, die Ver- und Entsorgungsleitungen sowie der Zugang zur Wohnung funktionsfähig seien, und der Grundbuchsbeschluss über die Einverleibung des Eigentumsrechts zugunsten der Käufer vorliege, dem keinerlei grundbücherliche Belastungen – mit Ausnahme der Sicherheitszone des Flughafens Wien-Schwechat und der Dienstbarkeiten der Wiener Linien der Duldung und der Errichtung einer U-Bahn-Tunnelröhre sowie der Duldung des Bestands, der Erhaltung und des Betriebs dieser Bahnanlage samt aller damit in Zusammenhang stehenden Einrichtungen und von den Käufern selbst beantragten Belastungen – vorangehen dürften. Die Verkäuferin leiste weiters Gewähr dafür, dass die neu errichtete Aufzugsanlage betriebsbereit, das Heizsystem installiert und funktionsfähig sei, das Stiegenhaus und der Zugang zur Wohnung sowie die Wasser-, Abfluss- und Elektroleitungen bis längstens 31. 10. 2013 fertiggestellt seien. Bis zu diesem Zeitpunkt habe die Bestätigung des Prüfingenieurs vorzuliegen.
[3] Mit Schreiben vom 5. 11. 2013 gab die Verkäuferin bekannt, dass die Wohnung der Kläger fertiggestellt sei, die bekanntgegebenen Mängel seien behoben und die Wohnung könne bis Ende November 2013 an die Kläger übergeben werden. Die allgemeine Haussanierung in den Bereichen Stiegenhaus und Zugang zur Wohnung solle bis Ende November 2013 erfolgen, danach werde mit der Sanierung des Eingangsbereichs, Haus- und Hoftors begonnen, die im Jänner/Februar 2014 zum Abschluss kommen solle. Der Lift werde im Frühjahr 2014 eingebaut. Am 16. 12. 2013 informierte die Verkäuferin die Beklagten, dass die Kellersanierung erst im Zuge des Aufzugseinbaus erfolgen werde und die Kläger in der Zwischenzeit jedes freie Kellerabteil für ihre Lagerung nutzen könnten.
[4] Aufgrund der Bestätigung eines Gutachters, dass die Wohnung entsprechend der Ausstattung der Musterwohnung frei von sichtbaren Mängeln hergestellt sei und dass das Heizsystem, die Ver- und Entsorgungsleitungen sowie der Zugang zur Wohnung funktionsfähig seien, und weil der Vertreter der Kläger keine Einwendungen gegen die angekündigte Auszahlung erhob sowie der Grundbuchsbeschluss erging, mit dem die Kläger Eigentümer der Wohnung W44 mit Terrasse wurden, überwies die Beklagte den gesamten Kaufpreis an die Verkäuferin.
[5] Da der Lift nicht errichtet wurde, wandten sich die Kläger an einen Rechtsanwalt, der sie am 8. 6. 2016 darüber aufklärte, dass auf den verfahrensgegenständlichen Sachverhalt zwingend die Regeln des BTVG anzuwenden gewesen wären.
[6] Bis heute ist kein Lift errichtet und wurde den Klägern das endgültige Kellerabteil nicht zugewiesen.
[7] Die Kläger begehren mit ihrer Klage die Feststellung, dass die Beklagte ihnen dem Grunde nach für Schäden hafte, „die ihre Ursache darin haben, dass die Beklagte den Kaufpreis aus dem Kaufvertrag, abgeschlossen zwischen den Klägern und der I* GmbH am 30. 7. 2013, betreffend die Anteile B‑LNR * und * der EZ * KG *, in ihrer Funktion als Treuhänderin und Vertragserrichterin ganz oder teilweise vor Fertigstellung des Kaufgegenstands an die Verkäuferin ausbezahlt hat“, in eventu die Feststellung der genannten Haftung „begrenzt durch die Höhe der jedenfalls gemäß Ratenplan § 10 BTVG Variante B nicht auszuzahlenden Raten gemäß lit f und g“.
[8] Die Kläger nahmen soweit für das Verständnis dieses Beschlusses von Relevanz im Verfahren den Standpunkt ein, dass, hätte die Beklagte ordnungsgemäß agiert, noch der gesamte Kaufpreis auf ihrem Treuhandkonto erläge, zumindest aber die letzten beiden Raten in Höhe von 9 % (Fertigstellung der Gesamtanlage) und 2 % (Haftrücklass) des Kaufpreises, somit 39.893,42 EUR. Bis dato seien Aufforderungen der Kläger an die Verkäuferin, den vereinbarten baulichen Zustand herzustellen, erfolglos geblieben. Es könne nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass der Schaden der Kläger die Höhe des Kaufpreises oder allenfalls 1l % des Kaufpreises nicht erreiche, falls wider Erwarten die Verkäuferin, über die bis dato noch kein Insolvenzverfahren eröffnet worden sei, die Fertigstellungsarbeiten doch noch durchführe.
[9] Die Kläger bewerteten bei Klagseinbringung den Streitgegenstand mit 14.000 EUR.
[10] Die Beklagte bestritt das Klagebegehren. Sie bemängelte nicht die klägerische Streitgegenstandsbewertung.
[11] Das Erstgericht wies das Hauptbegehren ab und gab dem Eventualbegehren statt.
[12] Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahin ab, dass es dem Hauptbegehren stattgab. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige, wobei es sich ausdrücklich an der durch die Kläger bei Klagseinbringung erfolgten Bewertung orientierte. Die ordentliche Revision wurde nicht zugelassen.
[13] Gegen dieses Urteil richtet sich die „außerordentliche Revision“ der Beklagten. Zu deren grundsätzlichen Zulässigkeit nimmt diese den Standpunkt ein, dem Berufungsgericht sei eine offenkundige Unterbewertung unterlaufen. Dieses gehe offenkundig von einem Feststellungsinteresse aus, das den Betrag von 39.893,43 EUR überschreite, andernfalls der Berufung der Kläger wohl keine Folge gegeben worden wäre. In eventu stellt die Beklagte einen an das Berufungsgericht gerichteten Abänderungsantrag nach § 508 ZPO, dies unter gleichzeitiger Ausführung der ordentlichen Revision.
[14] Die „außerordentliche Revision“ legte das Erstgericht dem Obersten Gerichtshof vor. Die Aktenvorlage ist verfehlt.
Rechtliche Beurteilung
[15] 1. Gemäß § 502 Abs 3 ZPO ist die Revision – außer im Fall des § 508 Abs 3 ZPO – jedenfalls unzulässig, wenn der Entscheidungsgegenstand an Geld oder Geldeswert zwar 5.000 EUR, nicht aber insgesamt 30.000 EUR übersteigt und das Berufungsgericht die ordentliche Revision nach § 500 Abs 2 Z 3 ZPO für nicht zulässig erklärt hat. In einem solchen Fall kann jedoch eine Partei gemäß § 508 Abs 1 und 2 ZPO binnen vier Wochen nach der Zustellung des Berufungserkenntnisses den beim Erstgericht (§ 508 Abs 2 erster Satz ZPO) einzubringenden Antrag an das Berufungsgericht stellen, seinen Ausspruch dahingehend abzuändern, dass die ordentliche Revision doch für zulässig erklärt werde; ein solcher Antrag, der mit der ordentlichen Revision zu verbinden ist, muss die Gründe dafür anführen, warum entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichts nach § 502 Abs 1 ZPO die ordentliche Revision für zulässig erachtet wird. Der Oberste Gerichtshof kann in diesen Fällen über eine Revision nur und erst dann entscheiden, wenn das Gericht zweiter Instanz gemäß § 508 Abs 3 ZPO ausgesprochen hat, dass ein ordentliches Rechtsmittel doch zulässig ist (RS0109623; 8 Ob 112/17d).
[16] 2. Der Bewertungsausspruch des Gerichts zweiter Instanz ist unanfechtbar und für den Obersten Gerichtshof bindend, wenn zwingende Bewertungsvorschriften nicht verletzt wurden, eine offenkundige Unter- oder Überbewertung nicht vorliegt oder eine Bewertung nicht überhaupt hätte unterbleiben müssen (RS0042450 [T8]).
[17] 2.1. Da der Entscheidungsgegenstand des Berufungsgerichts nicht in Geld bestand, war er nach § 500 Abs 2 Z 1 ZPO zu bewerten.
[18] 2.2. Zwingende Bewertungsvorschriften für Feststellungsbegehren bestehen hier nicht (siehe § 56 Abs 2 JN; vgl Gitschthaler in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze3 I § 56 JN Rz 23). Bestehen keine zwingenden Bewertungsvorschriften, so hat sich die Bewertung am objektiven Wert der Streitsache zu orientieren (RS0118748 [T1]). Das Berufungsgericht darf den Wert des Entscheidungsgegenstands – bezogen auf den objektiven Wert der Streitsache – weder übermäßig hoch noch übermäßig niedrig ansetzen; ist eine solche Fehlbewertung offenkundig, dann ist der Oberste Gerichtshof daran nicht gebunden (RS0118748). Liegt hinsichtlich der Streitwertgrenze von 30.000 EUR eine offenkundige – das heißt eindeutig erkennbare (vgl 1 Ob 64/15s) – Unterbewertung vor, kann der Oberste Gerichtshof über das eingebrachte außerordentliche Rechtsmittel entscheiden (6 Ob 142/13w; 2 Ob 169/15i).
[19] 3. Eine offenkundige Überschreitung des dem Berufungsgericht vom Gesetzgeber eingeräumten Ermessensspielraums bei der Bewertung des Entscheidungsgegenstands vermag die Beklagte nicht aufzuzeigen:
[20] Das Berufungsgericht ist bei seinem Bewertungsausspruch der Bewertung durch die Kläger bei Klagseinbringung gefolgt. Der Argumentation der Beklagten, das Berufungsgericht sei offenbar von einem Feststellungsinteresse der Kläger ausgegangen, das den Betrag von 39.893,43 EUR übersteige, andernfalls der Berufung der Kläger wohl keine Folge gegeben worden wäre, überzeugt schon deshalb nicht, weil zur Zeit gar nicht feststeht, ob (und wenn ja in welcher Höhe) die Kläger aufgrund der (vermeintlich) vorzeitigen Auszahlung des Kaufpreises durch die Beklagte einen finanziellen Schaden erleiden werden. Dementsprechend kann ihr Interesse an der Feststellung der Haftung für (allfällig eintretende) künftige Schäden auch nicht mit dem bei pflichtgemäßer Auszahlung noch zur Verfügung stehenden Betrag des Kaufpreises (entweder gesamter Kaufpreis iHv 362.667,50 EUR oder bloß die letzten beiden Raten iHv 39.893,42 EUR) gleichgesetzt werden.
[21] Vielmehr drückt sich das Interesse der Kläger in dem Risiko eines allenfalls eintretenden künftigen Schadens aus. Ein solcher wird allenfalls auch gar nicht oder nur in geringer Höhe eintreten. Allein der Umstand, dass die Beklagte aufgrund der Entscheidung des Berufungsgerichts theoretisch der Höhe nach unbeschränkt haften könnte, bedeutet nicht, dass der Entscheidungsgegenstand jedenfalls 30.000 EUR übersteigt. Indem das Berufungsgericht bei der Bewertung des Entscheidungsgegenstands der klägerischen Bewertung in der Klage folgte (die im Übrigen von der Beklagten gemäß § 7 RATG auch nicht bemängelt wurde), hat es den objektiven Wert des Streitgegenstands jedenfalls nicht „offenkundig“ unterbewertet.
[22] 4. In dem aus den dargelegten Gründen hier eröffneten Anwendungsbereich für einen Antrag nach § 508 Abs 1 ZPO ist der Oberste Gerichtshof zur Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtsmittels funktionell unzuständig. Dies gilt auch, wenn das Rechtsmittel als „außerordentliches“ bezeichnet (vgl § 84 Abs 2 letzter Satz ZPO) und es an den Obersten Gerichtshof gerichtet wird (3 Ob 232/13h; 7 Ob 81/18i). Dies gilt auch dann, wenn – wie hier – hilfsweise zu diesem „außerordentlichen“ Rechtsmittel ein Antrag nach § 508 Abs 1 ZPO eingebracht wird. Wenn aufgrund des Grundsatzes der Einmaligkeit des Rechtsmittels von einem einzigen einheitlichen Rechtsmittel auszugehen ist, wenn an einem Tag eine Partei gegen eine Entscheidung eine „außerordentliche“ und eine „ordentliche“ Revision einbringt (vgl RS0041666 [T40; T54]), liegt umso mehr ein einheitliches und einziges Rechtsmittel vor, wenn hilfsweise zu der in der konkreten Situation von der ZPO nicht vorgesehenen außerordentlichen Revision der sehr wohl von der ZPO für die konkrete Situation vorgesehene Antrag nach § 508 ZPO samt der ordentlichen Revision eingebracht wird. Weil nur ein einziges und einheitliches Rechtsmittel vorliegt, ist von einer Zurückweisung der „außerordentlichen Revision“ Abstand zu nehmen und der Akt nur dem Erstgericht zur Vorlage an das Berufungsgericht zwecks Entscheidung über den Abänderungsantrag zurückzustellen (aA – zum AußStrG – 1 Ob 161/20p: Zurückweisung des außerordentlichen Revisionsrekurses).
[23] Sollte das Berufungsgericht den Abänderungsantrag für nicht stichhaltig halten und diesen daher gemäß § 508 Abs 4 ZPO samt der ordentlichen Revision mit Beschluss zurückweisen, so wäre über die Revision rechtskräftig entschieden und läge auch kein unerledigtes Rechtsmittel vor, über das der Oberste Gerichtshof noch entscheiden könnte (vgl 7 Ob 81/18i).
[24] Sollte das Berufungsgericht dem Abänderungsantrag stattgeben, so hätte in weiterer Folge der Oberste Gerichtshof über die ordentliche Revision – ohne Bindung an den nachträglichen Zulässigkeitsausspruch des Berufungsgerichts (Lovrek in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze3 § 508a ZPO Rz 1 uva) – zu entscheiden.
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