European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0080OB00073.22A.1216.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Insolvenzrecht, Zivilverfahrensrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
[1] Mit Beschluss vom 14. 3. 2022 eröffnete das Erstgericht aufgrund der zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Anträge der Revisionsrekurswerberin und eines weiteren Gläubigers das Schuldenregulierungsverfahren als Gesamtvollstreckungsverfahren über das Vermögen des Schuldners.
[2] Gegen die mit dem Eröffnungsbeschluss getroffene bejahende Zuständigkeitsentscheidung des Erstgerichts erhob die Rechtsmittelwerberin Rekurs mit dem Antrag, die sachliche Unzuständigkeit des Erstgerichts festzustellen und die Insolvenzsache an das Landesgericht Wiener Neustadt zu überweisen, weil der Schuldner auch ein Unternehmen betreibe.
[3] Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Rekursgericht das Rechtsmittel der Gläubigerin zurück. Gegen eine bejahende Zuständigkeitsentscheidung sei nach § 45 JN ein Rechtsmittel jedenfalls unzulässig. Mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Anwendung dieser Bestimmung im Insolvenzeröffnungsverfahren vor dem Bezirksgericht sei der ordentliche Revisionsrekurs zuzulassen.
[4] Der Revisionsrekurs der Gläubigerin ist im Sinn des Ausspruchs des Rekursgerichts zwar zur Klarstellung der Rechtslage zulässig (vgl RIS‑Justiz RS0044501), aber nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[5] 1. Im Insolvenzverfahren sind gemäß § 252 IO, soweit nichts anderes angeordnet ist, die Jurisdiktionsnorm, die Zivilprozessordnung und ihre Einführungsgesetze sinngemäß anzuwenden.
[6] Insolvenzgericht ist gemäß § 182 Abs 1 IO dann, wenn der Schuldner kein Unternehmen betreibt, das zum Zeitpunkt der Antragstellung örtlich zuständige Bezirksgericht.
[7] Im Eröffnungsverfahren haben Gläubiger als Antragsteller bereits die Umstände vorzubringen, aus denen sie das angerufene Gericht für zuständig erachten (Mohr IO11 § 63, E.7 ff). Das Gericht ist an diese Angaben aber nicht gebunden, sondern hat sie von Amts wegen zu prüfen (§ 41 Abs 3 JN). Der Eröffnungsbeschluss ist bereits eine Entscheidung in der Hauptsache, die die sachliche Zuständigkeit bejaht.
[8] 2. Ist ein anderes als das angerufene Gericht sachlich zuständig, hat letzteres nach § 182 Abs 2 IO seine Unzuständigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen oder auf Antrag durch Beschluss auszusprechen und die Sache an das sachlich zuständige Gericht zu überweisen. Eine solche Überweisung ist sowohl von einem Landesgericht an ein Bezirksgericht als auch umgekehrt möglich (OLG Wien 6 R 283/18h, ZIK 2019/179; Senoner/Weber-Wilfert, IRÄG 2017 – Änderungen des [Privat‑]Insolvenzrechts I, RZ 2017, 174).
[9] Diese Regelung soll lediglich die Zurückweisung eines beim sachlich unzuständigen Gericht eingebrachten Insolvenzantrags mangels Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen verhindern (vgl ErlRV 1588 BlgNR 25. GP 10).
[10] 3. Gemäß § 45 JN sind nach Eintritt der Streitanhängigkeit getroffene Entscheidungen, mit denen ein Gericht seine sachliche Zuständigkeit bejaht hat, nicht anfechtbar.
[11] Die Bejahung der sachlichen Zuständigkeit des Gerichts nach Streitanhängigkeit kann im Anwendungsbereich des § 45 JN grundsätzlich nie angefochten werden (RS0046318 [T5]).
[12] Den für die Anfechtungsbeschränkung maßgeblichen Zeitpunkt der Streitanhängigkeit stellt im Insolvenzverfahren spätestens, nämlich im Fall eines Eigenantrags des Schuldners, der Eröffnungsbeschluss dar (8 Ob 20/02b).
[13] Aufgrund eines Konkursantrags eines Gläubigers wird das Eröffnungsverfahren schon mit diesem Schriftsatz eingeleitet und bewirkt die Zustellung des Antrags an den Schuldner die – einer Klagszustellung vergleichbare – Streitanhängigkeit iSd § 45 JN (vgl 28 R 2/11m = ZIK 2012/42 mwN).
[14] 4. Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass § 45 JN im Insolvenzverfahren anzuwenden und eine im Eröffnungsbeschluss getroffene bejahende Entscheidung über die sachliche Zuständigkeit nach Maßgabe des § 45 JN nicht weiter bekämpfbar ist (RS0117032; 8 Ob 20/02b; vgl auch OLG Wien 6 R 283/18h = ZIK 2019, 145; Schumacher in Koller/Lovrek/Spitzer, IO § 63 Rz 56; Kodek, Privatkonkurs³, Rz 4.54; ggt Schneider in Konecny, InsG § 63 IO [Stand 1. 11. 2012, rdb.at] Rz 167).
[15] Abgeleitet wird diese Auffassung insbesondere aus § 41 Abs 3 JN, demzufolge das Gericht bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens, ohne an die Angaben der Parteien gebunden zu sein, die für die Zuständigkeit maßgebenden Verhältnisse von Amts wegen zu untersuchen hat, sowie aus der Nennung des Insolvenzverfahrens in § 44 Abs 1 JN (8 Ob 20/02b). Auch § 182 Abs 1 IO ändert daran nichts (vgl OLG Wien 6 R 283/18h, ZIK 2019/145).
[16] 5. In der Entscheidung 8 Ob 9/18h hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass der Rechtsmittelausschluss des § 45 JN dann nicht anwendbar ist, wenn mit dem angefochtenen Beschluss nicht nur über eine Frage der sachlichen Zuständigkeit, sondern auch der Gerichtsbesetzung und des anzuwendenden Verfahrensrechts (ASGG) mit weitreichenden Konsequenzen entschieden wird.
[17] In ähnlichem Sinn argumentiert bereits Schneider (in Konecny, InsG § 63 IO Rz 165 ff), die für das Insolvenzverfahren eine Nichtanwendung der Anfechtungsbeschränkung des § 45 IO befürwortet und für ein Rekursrecht (zumindest des Schuldners; aaO Rz 166) eintritt.
[18] Dieser Ansicht ist weder die zweitinstanzliche Rechtsprechung (vgl insb OLG Wien 6 R 283/18h, ZIK 2019/179) gefolgt, noch findet sie durch den mit dem IRÄG 2017 eingeführten § 182 Abs 2 IO Bestätigung. Mit der Regelung, dass eine Überweisung an das sachlich zuständige Gericht in jeder Lage des Verfahrens zu erfolgen hat, sollte nach den Materialien (ErlRV 1588 BlgNR 25. GP 10) klargestellt werden, dass es sich auch beim Schuldenregulierungsverfahren um ein Insolvenzverfahren handelt, weshalb – entgegen der älteren Rechtsprechung, die das Fehlen der Unternehmereigenschaft noch als Anspruchsvoraussetzung für das Schuldenregulierungsverfahren betrachtet hatte (RS0115924) – bei bejahter sachlicher Unzuständigkeit auch eine Überweisung vom Bezirksgericht an das Landesgericht möglich sei. Im Übrigen entspricht § 182 Abs 2 IO nur dem auch schon der früheren Rechtsprechung zugrundeliegenden § 44 Abs 1 JN.
[19] Die im Rahmen der Abgrenzung der Anwendung des ASGG herangezogenen Wertungen (8 Ob 9/18h) können schon wegen der besonderen Bedeutung von Raschheit und Rechtsmittelbeschränkungen in einem Gesamtvollstreckungsverfahren so nicht übertragen werden.
[20] 6. Der im Revisionsrekurs hervorgehobene Umstand, dass Insolvenzsachen nach § 17a RPflG vor den Bezirksgerichten in den Wirkungskreis der Rechtspfleger fallen, vermag – so wie in anderen Verfahrensarten, in denen Rechtspfleger tätig sind – keine Ausnahme von der Anwendbarkeit des § 45 JN zu begründen.
[21] Um besonderen rechtlichen Schwierigkeiten im Einzelfall gerecht werden zu können, stehen etwa das allgemeine richterliche Weisungsrecht (§ 8 RPflG), der Richtervorbehalt bei Entscheidungen unter Anwendung ausländischen Rechts (§ 16 Abs 2 Z 6 RPflG), die Befugnis des Richters, die Erledigung von Geschäftsstücken aus dem Wirkungskreis des Rechtspflegers an sich zu ziehen (§ 9 RPflG) sowie das Vorlagerecht des Rechtspflegers (§ 10 Abs 1 Z 3 RPflG) zur Verfügung.
[22] 7. Das Rekursgericht hat sohin zutreffend das Rechtsmittel der antragstellenden Gläubigerin gemäß § 45 JN bereits wegen Unanfechtbarkeit der erstgerichtlichen Entscheidung zurückgewiesen.
[23] Ob bei einem antragstellenden Gläubiger darüber hinaus die für das Rekursrecht im Insolvenzverfahren notwendige Voraussetzung eines rechtlichen Interesses vorläge (vgl RS0065135; RS0006497), kann bei diesem Ergebnis dahingestellt bleiben.
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