OGH 8Ob29/17y

OGH8Ob29/17y20.12.2017

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner, den Hofrat Hon. Prof. Dr. Brenn sowie die Hofrätin Mag. Korn und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj L* K*, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter M* K*, vertreten durch Bartlmä Madl Rechtsanwälte OG in Wien, Antragsgegner M* K*, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 5. Dezember 2016, GZ 45 R 539/16x‑58, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:E120633

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden im Punkt 1. des Beschlusses des Erstgerichts (Obsorge) aufgehoben und die Pflegschaftssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückgewiesen.

Im Umfang des Punktes 2. des Beschlusses des Erstgerichts (Erziehungsberatung) wird dem Revisionsrekurs nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Die 2012 geborene Lara ist die eheliche Tochter der Antragstellerin und des Antragsgegners. Die Ehe ist seit September 2015 geschieden, derzeit kommt die Obsorge über das Kind beiden Elternteilen gemeinsam zu. Am 9. 2. 2016 stellte die Mutter den Antrag, dem Vater die Obsorge zu entziehen und sie ihr allein zu übertragen.

Fest steht, dass die Beziehung der Eltern von Streitigkeiten geprägt war und sie einander persönlich misstrauen. In Erziehungsfragen, insbesondere auch in Angelegenheiten der religiösen Erziehung, vertreten sie gegensätzliche Ansichten. Die Beziehung der Eltern ist konfliktreich und belastet, die Fronten sind stark verhärtet.

Die Mutter fühlt sich vom Vater bevormundet und verfolgt, allerdings konnte eine tatsächliche Verfolgung nicht festgestellt werden. Sie lehnt derzeit direkte Kontakte zum Vater ab, selbst im Rahmen einer gemeinsamen Erziehungsberatung. In der Vergangenheit war die Beziehung zeitweise entspannter, so hat die Mutter beispielsweise die Besuchsrechtskontakte des Vaters in ihrer Wohnung gestattet und seine Hilfe bei einem Umzug in Anspruch genommen.

Der Vater äußert sich seinerseits immer wieder vorwurfsvoll über die Mutter. Er ist aber gesprächsbereit und bereit, im Rahmen einer Kommunikationsberatung oder Erziehungsberatung an der Kommunikation mit der Mutter zu arbeiten. Er stimmte freiwillig zu, Besuchskontakte begleitet zu absolvieren.

In der Beziehung zu ihrem Kind zeigen sich beide Elternteile besorgt und bemüht.

Das Erstgericht wies den Antrag der Mutter auf Übertragung der alleinigen Obsorge ab, gleichzeitig trug es beiden Elternteilen den Besuch von mindestens zehn Erziehungsberatungsterminen bei derselben Beratungsstelle auf sowie deren Nachweis binnen sechs Monaten. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die den Regelfall darstellende gemeinsame Obsorge den Umständen nach dem Kindeswohl widersprechen würde. Es bestehe zwar aktuell aufgrund der Blockade der Mutter keine ausreichende Kommunikations- und Kooperationsbasis zwischen den Eltern, andererseits hätten sie es im Beobachtungszeitraum doch auch immer wieder geschafft, Angelegenheiten gemeinsam zu regeln. Zur Überwindung der konfliktbeladenen Kommunikation und Entspannung des Verhältnisses sei eine gemeinsame Erziehungsberatung anzuordnen. Die nicht mit dem Kindeswohl, sondern nur mit eigenen Interessen begründete Weigerungshaltung der Mutter könne aber nicht dazu führen, dass die gemeinsame Obsorge undenkbar bleibe, egal wie bemüht sich der Vater auch zeige. Das Entwicklungspotenzial der Eltern und die Hilfe der Elternberatung würden eine positive Zukunftsprognose erlauben.

Das Rekursgericht gab dem selbst verfassten, keinen Rechtsmittelantrag und keine Begründung enthaltenden Rekurs der unvertretenen Mutter keine Folge und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig. Einen erst nach Ablauf der Rekursfrist eingebrachten, den Rekurs ergänzenden Schriftsatz der Mutter wies es als unzulässig zurück.

Der gemeinsamen Obsorge komme nach der geltenden Rechtslage der prinzipielle Vorrang zu, es sei denn das Konfliktpotenzial zwischen den Eltern wäre so hoch, dass auch in Zukunft keine Besserung erwartet werden könne. Dies sei nach den unangefochtenen Feststellungen des Erstgerichts nicht der Fall. Die Anordnung einer Erziehungsberatung könne von Amts wegen erfolgen, sei nach der Sachlage im Interesse des Kindes und auch nicht unverhältnismäßig.

In ihrem Revisionsrekurs führt die Mutter aus, das Rekursgericht habe wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt. Es habe ihr als unvertretene Partei die Gelegenheit zur Verbesserung ihres „leeren“ Rechtsmittels verwehrt und in weiterer Folge seiner Begründung einen nur scheinbar unstrittigen Sachverhalt zugrundegelegt. Wäre ihr die Möglichkeit eingeräumt worden, hätte die Mutter die sie belastenden Feststellungen bekämpft und dargelegt, dass auf absehbare Zeit keine ausreichende Kommunikation zwischen den Elternteilen möglich sei.

Eine Revisionsrekursbeantwortung, deren Erstattung dem Vater vom Obersten Gerichtshof freigestellt wurde, ist nicht eingelangt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zur Korrektur eines Verfahrensmangels zweiter Instanz zulässig und im Sinn der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung auch berechtigt.

1. Im Verfahren außer Streitsachen sind auch mit inhaltlichen Mängeln behaftete „leere“ Rechtsmittel einem Verbesserungsverfahren zugänglich, sofern der Rechtsmittelwerber nicht bewusst missbräuchlich gehandelt hat, um durch die Verbesserungsfrist eine unzulässige Verlängerung der Rechtsmittelfrist zu erreichen (RIS‑Justiz RS0052784). Im hier zu beurteilenden Anlassfall gibt es, wie der Revisionsrekurs zutreffend argumentiert, für eine missbräuchliche Inanspruchnahme des Verbesserungs-verfahrens im Sinne des Wunsches nach Verzögerung keinen Anhaltspunkt.

Ob ein Verbesserungsverfahren notwendig ist, um den unzulänglich ausgeführten Rekurs geschäftsordnungsgemäß behandeln zu können, obliegt grundsätzlich dem pflichtgemäßen Ermessen des Rekursgerichts. Hat es den erstgerichtlichen Beschluss von sich aus in jeder denkbaren Hinsicht rechtlich überprüft und zeigt der Rechtsmittelwerber nicht auf, dass ihm mangels Einräumung einer Verbesserungsmöglichkeit verwehrt war, bestimmte Anfechtungsgründe geltend zu machen, die deshalb inhaltlich unbehandelt geblieben sind, dann liegt kein entscheidungswesentlicher Verfahrensmangel vor.

Dies ist hier aber nicht der Fall. Der Revisionsrekurs zeigt zutreffend auf, dass die erstinstanzlichen Feststellungen, die das Rekursgericht als unbekämpft angesehen und ungeprüft übernommen hat, nicht auf einem unstrittigen Sachverhalt beruhen, sondern nicht nur die Darstellung der Eltern von Gegensätzen geprägt ist, sondern sich auch der Kinder- und Jugendhilfeträger in seiner Stellungnahme wegen der konfliktträchtigen Situation gegen die gemeinsame Obsorge ausgesprochen hatte.

Die Frage der Kommunikationsfähigkeit der Elternteile ist für die Entscheidung, ob die gemeinsame Obsorge dem Kindeswohl entspricht, von wesentlicher Bedeutung. Es kommt darauf an, ob beide Elternteile bereit und in der Lage sind, an der Erfüllung der mit der Obsorge verbundenen Aufgaben mitzuwirken (RIS‑Justiz RS0130248). Eine sinnvolle Ausübung setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist also eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob bereits jetzt eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder ob zumindest in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet werden kann (RIS‑Justiz RS0128812).

Der Revisionsrekurs zeigt damit zutreffend auf, dass das Rekursgericht der nicht rechtskundigen und unvertretenen Antragstellerin zur Wahrung ihrer und vor allem der Rechte des betroffenen Kindes die Möglichkeit einräumen hätte müssen, den leeren Rekursschriftsatz durch eine nachträgliche Begründung und konkrete Antragstellung zu verbessern. Das Unterbleiben eines Verbesserungsverfahrens bildet unter diesen Umständen einen Mangel des Rekursverfahrens, der vom Obersten Gerichtshof aufzugreifen war.

Ob die Kommunikationsbasis der Eltern bereits so sehr beeinträchtigt ist, dass eine Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge im Interesse des Kindeswohls nicht länger geboten erscheint, ist eine Rechtsfrage, zu deren Beurteilung die vorhandenen Sachverhaltsfeststellungen derzeit nicht ausreichen.

Den Vorinstanzen ist insoweit beizupflichten, als die im Revisionsrekurs aufgezeigten Beispiele unterschiedlicher Erziehungsschwerpunkte der Eltern (ob nur orthodoxe oder auch katholische Feste gefeiert werden sollen, oder wie sich die Tochter im Kindergarten bei Aggressionshandlungen anderer Kinder verhalten soll) noch keine Grundsatzentscheidungen betreffen. Solche Auffassungsunterschiede treten auch in intakten Familien bisweilen auf. Gravierender ist die Frage, ob die Eltern sich in wichtigen Fragen in Hinkunft überhaupt verständigen können, zumal nicht nur die Antragstellerin behauptet, dass ihr aufgrund des Verhaltens des Vaters ein Kontakt unzumutbar sei, sondern diese Einschätzung auch vom Kinder‑ und Jugendhilfeträger geteilt wurde.

Im Verfahren über die Obsorge sind auch Sachverhaltsänderungen nach dem erstgerichtlichen Beschluss zu berücksichtigen, wenn dies das Interesse des pflegebefohlenen Kindes erfordert (RIS‑Justiz RS0006893). Im vorliegenden Verfahren sind Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG zur Sicherung des Kindeswohls in Form einer Erziehungsberatung aufgetragen worden; da dieser Punkt der erstinstanzlichen Entscheidung für vorläufig vollstreckbar erklärt wurde, sollte die Beratung während des Rechtsmittelverfahrens stattgefunden haben. Davon ausgehend stehen aber nunmehr neue, erweiterte Beurteilungsgrundlagen dafür zur Verfügung, ob mit der Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Kommunikationsfähigkeit und wechselseitigen Kooperationsbereitschaft der Eltern so weit gerechnet werden kann, dass die Aufrechterhaltung der gemeinsamen Obsorge weiterhin dem Kindeswohl entspricht.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher aufzuheben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.

2. Soweit sich der Revisionsrekurs gegen die nach § 107 Abs 3 Z 1 AußStrG getroffene Anordnung des Besuchs einer Erziehungsberatung wendet, ist er nicht berechtigt.

Dem Erstgericht ist beizupflichten, dass eine einseitige und objektiv unbegründete Ablehnung eines Elternteils grundsätzlich nicht ohne weiters dazu führen darf, dass eine gemeinsame Obsorge unmöglich wird, sondern es geboten ist, im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten Maßnahmen zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit anzuordnen. Der Besuch derselben Beratungsstelle ist jedenfalls geeignet, den Erfolg der Maßnahme zu fördern; eine Verpflichtung zur Absolvierung gemeinsamer Gesprächstermine enthält der angefochtene Beschluss ohnehin nicht. Der Revisionsrekurs wendet sich auch nicht gegen die Auswahl der vom Erstgericht für den Fall der Nichteinigung der Eltern genannten Beratungsstelle, weshalb nicht geprüft werden muss, wie weit eine solche Anordnung überhaupt durchsetzbar wäre (vgl 3 Ob 122/16m; Beck in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG § 107 Rz 19).

Auch eine Rücksichtnahme bei der Festlegung von Kursterminen auf die Arbeits‑ und Ausbildungszeiten der Antragstellerin wird durch den Beschluss nicht ausgeschlossen.

Eine unzumutbare Belastung durch die Anordnung der Erziehungsberatung für beide Elternteile vermag der Revisionsrekurs insgesamt nicht aufzuzeigen.

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