OGH 7Ob32/20m

OGH7Ob32/20m25.11.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D* Company, *, vertreten durch Dr. Alma Steger, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei P* GmbH, *, vertreten durch Dr. Dominik Schärmer, Rechtsanwalt in Wien, wegen 203.896,98 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 28. November 2019, GZ 1 R 137/19b‑94, womit das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 11. Juli 2019, GZ 40 Cg 90/12d‑90, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129975

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung allenfalls nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Die Beklagte wurde als Frachtführerin mit dem Transport einer DVD‑Herstellungsmaschine von Bulgarien nach Korea zur Klägerin als Empfängerin beauftragt. Der Transport zwischen Sofia/Bulgarien und Wien sollte per Lkw erfolgen und von Wien nach Korea per Luftfracht.

Die Maschine wurde in fünf Packstücken mit einem Gesamtgewicht von 9.000 kg mit dem Lkw von Sofia/Bulgarien nach Wien gebracht. Am 24. 8. 2011 wurde ein Teil der Maschine beim Herabstürzen vom Gabelstapler beschädigt. Dieser Vorfall ereignete sich bei der Umladung auf einem Lkw‑Abladeplatz im Lager der Beklagten am Gelände des Flughafens Wien, wo die Beklagte die Ware auch vermisst und wiegt und dann auf einer Überstellstraße für den Luftverkehr eincheckt.

Die Kiste mit dem beschädigten Maschinenteil wies eine geringe Kippstabilität und keine Schwerpunktkennzeichnung auf. Letzterer Umstand war nicht schadenskausal. „Der Schaden ist darauf zurückzuführen, dass der Staplerfahrer den Mast beim Verfahren der Last nicht geneigt hatte und durch ein abruptes Bremsmanöver und/oder durch Fliehkräfte die Last nach vorne, vom Stapler weg, beschleunigt wurde. Risikoerhöhend war die spezielle Ausbildung des Bodenrahmens der Verpackung. Es liegt ein Konstruktionsmangel der Kiste vor. Der Fahrfehler bzw fehlendes Kippen des Mastes war primär schadenskausal. Die Konstruktion der Kiste war ungeeignet und im Hinblick auf Manipulationsfehler risikoerhöhend.“

Die Klägerin begehrte die Zahlung jenes Euro‑Betrags sA, der am Tag des Urteils dem Gegenwert von 171.000 Sonderziehungsrechten (SZR) des Internationalen Währungsfonds entspricht. Auch wenn ein multimodaler Transport vereinbart worden sei, sei auf den Schadensfall das Montrealer Übereinkommen (MÜ) anzuwenden, weil die Beklagte selbst die Entladung vom Lkw vorgenommen und damit das Transportgut in ihre Obhut übernommen habe. Ein Verpackungsmangel sei nicht vorgelegen; die Kennzeichnung sei nicht Teil der Verpackung; das Transportgut habe keinen außermittigen Schwerpunkt aufgewiesen.

Der Schaden belaufe sich auf 208.000 EUR. Die Haftung sei aber nach Art 18 iVm Art 22 Abs 3 MÜ auf 19 SZR pro Kilogramm beschränkt. Da die Nebenteile wegen der Beschädigung des Hauptteils der Maschine nicht mehr verwendbar seien, sei für die Haftungsbegrenzung das Gesamtgewicht sämtlicher Frachtstücke und nicht nur das Gewicht des beschädigten Packstücks heranzuziehen.

Die Beklagte bestritt und erwiderte, der Schaden sei dem Straßengüterabschnitt des multimodalen Transports zuzurechnen. Die Waren seien in einem Speditionslager der Beklagten angekommen und noch nicht in ihrer Obhut gewesen. Die Beklagte müsse die Ware erst wiegen, vermessen und auf Sprengstoff testen, bevor sie sie auf den Frachtterminal überstelle und der jeweiligen Airline als Luftfrachtführer zuordne. Die fehlende Kennzeichnung des außermittigen Schwerpunkts und die mangelhafte Verpackung schließe die Haftung der Beklagten aus, zumindest sei ein Mitverschulden der Klägerin anzunehmen. Für die Schadenshöhe sei nur das Gewicht des beschädigten Guts heranzuziehen.

Das Erstgericht gab der Klage statt. Die beklagte Luftfrachtführerin habe vor Schadenseintritt schon mit dem Abladen begonnen und die Ware so in ihre Obhut genommen. Trotz der Vereinbarung eines multimodalen Transports sei daher auf den Schadensfall das MÜ anzuwenden. Ein Haftungsausschluss komme nicht zum Tragen. Die mangelhafte Kiste sei „lediglich risikoerhöhend“ gewesen. Die Schadenshöhe sei nach dem Gesamtgewicht des Transportguts zu berechnen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Das Herunterfallen des Frachtstücks von der Gabel des Gabelstaplers sei bereits während des mit dem Abladen beginnenden Obhutszeitraums der Beklagten als Luftfrachtführerin eingetreten. Eine Kausalität zwischen Absturz und fehlender Schwerpunktmarkierung sei in den Urteilsfeststellungen ausdrücklich ausgeschlossen worden. Die Risikoerhöhung durch die Verpackung habe sich nicht ausgewirkt. Beeinträchtige – wie hier – die Beschädigung eines Teils der Güter oder eines darin enthaltenen Gegenstands den Wert anderer Frachtstücke des selben Luftfrachtbriefs, sei das Gesamtgewicht dieser Frachtstücke für die Feststellung der Haftung des Luftfrachtführers maßgebend.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten mit einem Abänderungsantrag, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in der ihr freigestellten Revisionbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Die Revision wendet sich nur gegen die Zurechnung des Schadensfalls der Lufttransportstrecke und gegen die Nichtbeachtung des Mitverschuldenseinwands.

1. Bei der hier vorliegenden multimodalen Beförderung richtet sich die Ersatzpflicht des mit der Beförderung über die gesamte Strecke beauftragten Frachtführers nach der für das jeweilige Beförderungsmittel geltenden Haftungsordnung („network‑System“; vgl 7 Ob 45/20y mwN; RS0062353). Das Network‑System ist für die Ermittlung der Haftungsordnung bestimmend. Es ist daher bei bekanntem Schadensort auf den zwischen den Parteien des multimodalen Frachtvertrags hypothetisch abgeschlossenen Vertrag über die Beförderung auf derjenigen Teilstrecke abzustellen, auf der der Schaden eingetreten ist. Anstelle des Übernahme‑ und Auslieferungsorts der multimodalen Beförderung treten der Ort des Beginns und des Endes der betreffenden Teilstrecke (7 Ob 2/16v; RS0062353 [T3]).

2. Hier geht es um den Übergang von der Straßenbeförderung mittels LKW zur Luftfrachtbeförderung.

Sowohl Art 17 CMR als auch Art 18 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Übereinkommen – MÜ) stellen für die Haftung auf die Obhut des Frachtführers ab (zum MÜ vgl auch 7 Ob 147/10h = RS0126656).

Die Bestimmung der Obhutszeit durch die Begriffe „Annahme“ und „Ablieferung“ ist den meisten frachtvertraglichen Haftungsregelungen gemeinsam. Die Annahme bedeutet den Erwerb des unmittelbaren oder mittelbaren Besitzes zum Zweck der alsbaldigen Beförderung. Sie enthält daher auch ein Willenselement (7 Ob 3/94). Wie die Übernahme ist auch die Ablieferung ein zweiseitiger Akt, die der Mitwirkung des Empfängers bedarf, also nur mit Wissen und Willen des Empfängers erfolgen kann (RS0062704). Der Ablieferungsvorgang ist abgeschlossen, wenn ein Verhältnis hergestellt wird, das dem zur Entgegennahme bereiten Empfänger die Einwirkungsmöglichkeit auf das Gut einräumt (RS0074012; RS0062537).

Nach Art 18 Abs 3 MÜ umfasst die Luftbeförderung im Sinne des Absatzes 1 den Zeitraum, während dessen die Güter sich in der Obhut des Luftfrachtführers befinden, und nach Abs 4 Satz 2 leg cit besteht für die Beförderung außerhalb eines Flughafens zum Zweck der Verladung, der Ablieferung oder der Umladung bei Ausführung des Luftbeförderungsvertrags bis zum Beweis des Gegenteils die Vermutung, dass der Schaden durch ein während der Luftbeförderung eingetretenes Ereignis verursacht worden ist. Das MÜ erweitert daher in Art 18 Abs 3 den Haftungszeitraum der „Luftbeförderung“ auf den Zeitraum der Ausübung der „Obhut“ durch den Luftfrachtführer, wodurch nach herrschender Ansicht etwa auch eine (Zwischen‑)Einlagerung im Warenlager des Luftfrachtführers außerhalb des Flughafengeländes erfasst wird. Die Obhut des Luftfrachtführers bleibt also bestehen, wenn seine rechtlichen und tatsächlichen Einwirkungsmöglichkeiten aufrecht bleiben, sodass er jederzeit in der Lage ist, das Gut seiner Obhutspflicht entsprechend vor Verlust oder Beschädigung zu schützen (RS0126656).

3. Hier erfolgte das zur Beschädigung führende Entladen des LKW zur weiteren Umladung auf Luftfracht durch einen der Beklagten zuzurechnenden Bediensteten mittels Gabelstapler auf einem Abladeplatz am Flughafen. Die Beurteilung der Vorinstanzen, dass damit die Obhut bereits auf die Beklagte übergangen war, erweist sich daher im Sinn des dargestellten Judikatur als zutreffend (in diesem Sinn auch Schärmer in Schütz/Schärmer, Transportrecht, 131 f).

4. Soweit sich die Beklagte auf die Entscheidung 7 Ob 116/17k und die darin angeführte Literatur bezieht, und daraus abzuleiten sucht, dass die Entladung hier noch dem Abschnitt des Straßentransports zuzurechnen sei, ist darauf zu verweisen, dass dort seefrachtrechtliche Sonderbestimmungen der §§ 662 und 663 UGB zu beurteilen waren. Dass das Ausladen jedenfalls der vorangegangenen Teilstrecke zuzurechnen wäre, und das Berufungsgericht insofern von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen wäre, ergibt sich aus dieser Entscheidung nicht.

5. Vielmehr hat der Fachsenat in der Entscheidung 7 Ob 45/20y ausgesprochen, dass mit der Ablieferung des Frachtguts im Terminal die Beförderung hinsichtlich des ersten Transportabschnitts abgeschlossen wurde und sich das Frachtgut danach in der Gewahrsame der Zweitbeklagten befand. Die Beschädigung des Frachtguts bei Manipulationen im Terminal der dortigen Zweitbeklagten wurde daher auch in diesem Fall nicht mehr dem ersten Transportabschnitt zugerechnet.

6. In der von der Revisionswerberin angeführten Entscheidung 7 Ob 3/94 wurde die Entladung durch den Transporteur des vorangegangenen Teilabschnitts durchgeführt, der also die Obhut noch nicht aufgegeben hatte, sodass sie mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar ist.

7. Soweit sich die Revisionswerberin darauf beruft, dass der Lufttransport konkret noch nicht begonnen hatte und bis dahin noch umfangreiche Manipulationen (wie wiegen, messen und einchecken) vorzunehmen waren, ist sie wiederum auf die Entscheidung 7 Ob 45/20y zu verweisen. Auch hier dienten diese Tätigkeiten offensichtlich der Vorbereitung des anschließenden (hier: Luft‑)Transports durch die Beklagte und sind daher nicht mehr dem vorhergehenden Transportabschnitt zuzuordnen.

Die Beklagte hat daher für den Schaden zu haften.

8. Zum Mitverschuldenseinwand:

8.1. Nach Art 20 MÜ ist der Luftfrachtführer ganz oder teilweise von der Haftung befreit, wenn er nachweist, dass die Person, die den Schadenersatzanspruch erhebt, oder ihr Rechtsvorgänger den Schaden durch eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung, sei es auch nur fahrlässig, verursacht oder dazu beigetragen hat.

Die amtliche, aber unverbindliche deutsche Übersetzung gibt den maßgeblichen englischen bzw französischen Originaltext nicht richtig wieder. In den verbindlichen Originalfassungen wird zuerst die Fahrlässigkeit genannt. Dieser wird sodann ein „other wrongful act“ bzw „autre acte ou omission prejudiciable“ gleichgestellt. Daraus ergibt sich, dass das „andere“ Handeln bzw Unterlassen zumindest einem fahrlässigen Fehlverhalten entsprechen muss (Pokrant in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, Handelsgesetzbuch4 Art 20 MÜ Rn 2; Koller in Koller, Transportrecht10 Art 20 MÜ Rn 2 mwN).

Art 20 MÜ enthält auch eine Beweislastregel. Der Luftfrachtführer ist insoweit von seiner Haftung befreit, als er eine Schadensverursachung durch den Geschädigten selbst oder dessen Rechtsvorgänger nachweisen kann. Die Behauptungs‑ und Beweislast für das Mitverschulden sowie den Kausalzusammenhang zwischen Mitverschulden und entstandenem Schaden obliegt somit dem Luftfrachtführer. Die prozessualen Anforderungen an den vom Luftfrachtführer zu erbringenden Beweis ergeben sich aus den Beweisregeln der lex fori (Pokrant in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, Handelsgesetzbuch4 Art 20 MÜ Rn 4; zur Beweislast vgl auch Koller in Koller, Transportrecht10 Art 20 MÜ Rn 6; Müller‑Rostin inMüKo zum HGB4 Art 20 MÜ Rn 14).

8.2 Zwischen den Parteien ist nur strittig, ob ein von der Klägerin zu vertretender Verpackungsmangel für den Eintritt des Schadens kausal war. Eine abschließende Beurteilung dazu kann mangels geeigneter Feststellungsgrundlage noch nicht erfolgen.

8.3. Fest steht, dass die Verpackung aus zwei Gründen mangelhaft war. Die Kiste wies keine Schwerpunktkennzeichnung und eine (zu) geringe Kippstabilität auf. Zur Schwerpunktkennzeichnung steht ausdrücklich fest, dass dieser Mangel für den Schadenseintritt nicht kausal war. Zur geringen Kippstabilität steht hingegen fest, dass sie „risikoerhöhend“ und „der Fahrfehler bzw das fehlende Kippen des Mastes primär schadenskausal“ war. Eine fehlende Verursachung steht damit zu diesem Verpackungsmangel (im Gegensatz zur Schwerpunktkennzeichnung) nicht ausdrücklich fest. Die Begriffe „risikoerhöhend“ und „primär“ indizieren vielmehr, dass die mangelhafte Verpackung, wenn auch nicht gleichrangig mit dem von der Beklagten zu vertretenden „Fahrfehler“, (mit‑)kausal für den Schadenseintritt war, zumal das Erstgericht diese Feststellungen ausdrücklich auf das Sachverständigengutachten gestützt hat, das von einer Risikoerhöhung von 20 bis 40 % durch diesen Verpackungsmangel ausgeht. Damit stehen aber die Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung im Widerspruch, sodass nicht klar ist, wie die Feststellungen tatsächlich zu verstehen sind. Sie bedürfen daher insofern einer Präzisierung. Nur wenn (ebenso wie zur fehlenden Schwerpunktkennzeichnung) feststeht, dass auch der Verpackungsmangel „geringe Kippstabilität“ den Schadenseintritt nicht mitverursacht hat, besteht der Einwand des Mitverschuldens nicht zu Recht. Hatte hingegen die Verpackung den Eintritt des Schadens begünstigt, war sie damit auch (wenn auch geringer als der Fahrfehler) kausal für den Schaden und ist im Umfang der Mitwirkung von einem Mitverschulden, das der Klägerin anzulasten ist, auszugehen.

8.4. Das Erstgericht wird daher für eine geeignete Tatsachengrundlage zu sorgen haben, bevor abschließend über die Sache entschieden werden kann.

9. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 zweiter Satz ZPO.

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