OGH 6Ob233/06t

OGH6Ob233/06t9.11.2006

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Pimmer als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schenk und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler und Univ. Doz. Dr. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Milena P*****, wohnhaft bei ihrer Mutter Iwona M*****, vertreten durch das Amt für Jugend und Familie-Rechtsfürsorge, *****, über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 30. Mai 2006, GZ 45 R 158/06b-U19, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 21. Dezember 2005, GZ 59 P 93/05p-U11, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben; dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Die am 30. 7. 2003 geborene Milena P***** ist polnische Staatsbürgerin und lebt bei ihrer Mutter in 1210 Wien. Der Vater ist polnischer Staatsbürger und befand sich vom 3. 10. 2004 bis 3. 7. 2006 in Strafhaft in einer österreichischen Justizanstalt. Die Minderjährige begehrt Unterhaltsvorschuss nach § 4 Z 3 UVG in Höhe der Richtsätze des § 6 Abs 2 UVG.

Das Erstgericht gab diesem Antrag statt.

Über Rekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien und des Unterhaltsschuldners wies das Rekursgericht diesen Antrag ab. Entscheidend sei, ob der Umstand, dass der Unterhaltsschuldner in Österreich eine Strafhaft verbüße, ausreiche, diesen als arbeitslosen Arbeitnehmer im Sinne der Wanderarbeitnehmerverordnung zu qualifizieren. Ob die Arbeitslosenversicherung gemäß § 66a StVG ausreiche, während der Strafhaft eine Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Wanderarbeitnehmerverordnung zu begründen, sei „fraglich", weil der Strafhäftling erst nach Beendigung der Strafhaft Anspruch auf Bezüge aus der Arbeitslosenversicherung habe. Eine diesbezügliche Judikatur bestehe - soweit überblickbar - nur für Untersuchungshäftlinge (2 Ob 172/05s).

Gemäß § 89 Abs 1 Z 1 ASVG ruhten Leistungsansprüche für die Dauer der Strafhaft sowohl in der Kranken- als auch in der Unfall- und in der Pensionsversicherung. Weiters gälten gemäß § 12 Abs 3 lit e AlVG alle Personen, die eine Freiheitsstrafe verbüßen oder auf behördliche Anordnung in anderer Weise angehalten werden, nicht als arbeitslos im Sinne des AlVG, was auch damit zusammenpasse, dass die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß § 4 Z 3 UVG allgemein damit gerechtfertigt werde, dass diese - zumindest teilweise - als Äquivalent der Arbeitspflicht des arbeitsfähigen Strafgefangenen gemäß § 44 Abs 1 StVG anzusehen seien.

Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil zur Subsumtion eines Strafhäftlings als Arbeitnehmer im Sinne der Wanderarbeitnehmerverordnung keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Der Revisionsrekurs der Minderjährigen ist aus den vom Rekursgericht dargelegten Gründen zulässig und im Sinne des darin enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Nach § 2 Abs 1 UVG haben Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind.

2. In seiner Entscheidung vom 15. 3. 2001, C-85/99 - Offermanns (Slg 2001, I-2261, 2285) beurteilte der EuGH Unterhaltsvorschüsse nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz als Familienleistung im Sinn der VO (EWG) 1408/71 . Dies gilt auch für Haftvorschüsse nach § 4 Z 3 UVG (EuGH vom 20. 1. 2005, C-302/02 , Effing; 10 Ob 53/06a). Nach Art 3 der VO 1408/71 haben die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnenden Personen unter denselben Bedingungen wie Inländer Anspruch auf eine im Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehene Leistung, sofern sie in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen. Die Entscheidung Offermanns erweiterte somit den Anwendungsbereich des österreichischen Unterhaltsvorschussgesetzes auf EWR-Bürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich haben und unter den Anwendungsbereich der VO 1408/71 fallen (Neumayr in Schwimann, ABGB³

I § 1 UVG Rz 17 mwN; RIS-Justiz RS0115509, RS0115844).

3. Art 2 der VO 1408/71 regelt ihren persönlichen Geltungsbereich. Sie gilt für Arbeitnehmer und Selbständige sowie Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Kinder, die als Mitglieder der Familie eines Arbeitnehmers oder Selbständigen in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung fallen, sind in Bezug auf Familienleistungen als Personen anzusehen, für die diese Verordnung für die Zwecke ihres Art 3 Abs 1 gilt.

4. Der Begriff des Arbeitnehmers ist in Art 1 lit a der VO 1408/71 definiert. Darunter ist jede Person zu verstehen, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit (unter anderem) für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Der Europäische Gerichtshof hat in der Entscheidung vom 12. 5. 1998, C-85/96 , Martinez Sala, klargestellt, dass eine Person Arbeitnehmer im Sinn dieser Verordnung ist, wenn sie - unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses - auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Art 1 lit a der Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist (vgl EuGH vom 7. 6. 2005, C-543/03 - Dodl/Oberhollenzer = wbl 2005/242). Der Oberste Gerichtshof ist dieser Auffassung in einer Reihe von Entscheidungen gefolgt ( 4 Ob 117/02p; 6 Ob 171/03w).

5. Die Antragstellerin leitet ihren Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz vom unterhaltspflichtigen Vater ab, der eine Freiheitsstrafe in einer Strafvollzugsanstalt in Österreich verbüßte. Der Vater der Antragstellerin unterliegt damit gemäß Art 13 Abs 1 und 2 lit a VO 1408/71 der österreichischen Rechtsordnung (10 Ob 53/06a). Kommt ein in Österreich inhaftierter Strafgefangener seiner Arbeitspflicht nach § 44 StVG nach, ist er gemäß § 66a AlVG im System der sozialen Sicherheit gegen Arbeitslosigkeit versichert; er ist als Arbeitnehmer im Sinn des Art 1 lit a der VO 1408/71 anzusehen (ebenso EuGH 20. 1. 2005, C-302/02 - Effing) und vermittelt daher gemäß Art 3 der VO 1408/71 seinen Kindern als seinen Familienangehörigen einen Unterhaltsvorschussanspruch nach § 4 Z 3 UVG (10 Ob 53/06a).

6. Im vorliegenden Fall blieb allerdings bisher ungeklärt, ob der Vater seiner gesetzlichen Arbeitspflicht tatsächlich nachkam. Insoweit blieb das Verfahren ergänzungsbedürftig, sodass nicht endgültig geklärt werden kann, ob der Vater - und damit auch die Antragstellerin als seine Familienangehörige - vom Anwendungsbereich der Verordnung erfasst sind.

Dem Revisionsrekurs war daher Folge zu geben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung seines Verfahrens im dargelegten Sinn aufzutragen.

7. Ergänzend ist darauf zu verweisen, dass dem Kindesvater - wie sich aus seiner Stellungnahme (ON U14) ergibt - das gegenständliche Verfahren bekannt war, sodass die Unterlassung der Mitteilung einer zustellungsfähigen Anschrift nach seiner Abschiebung aus Österreich (ON U26) die Rechtsfolge des § 8 Abs 2 ZustG auslöste.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte