OGH 6Ob165/24v

OGH6Ob165/24v20.9.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber, Mag. Pertmayr und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E* G*, vertreten durch Breiteneder Rechtsanwalt GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. Mag. S* K*, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, 2. E* GmbH & Co KG *, Deutschland, vertreten durch Dorda Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 15.114,32 EUR sA, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 22. Februar 2024, GZ 2 R 139/23k‑37, mit dem der Beschluss des Handelsgerichts Wien vom 24. Juli 2023, GZ 31 Cg 49/22y‑27, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0060OB00165.24V.0920.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht, Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

I. Die Bezeichnung der zweitbeklagten Partei wird auf E* GmbH & Co KG * berichtigt.

II. Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Einrede der (internationalen) Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts hinsichtlich der zweitbeklagten Partei verworfen und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens (auch) gegen die zweitbeklagte Partei unter Abstandnahme von diesem Zurückweisungsgrund aufgetragen wird.

Die zweitbeklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.231,40 EUR (darin enthalten 371,90 EUR an Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Zwischenstreits über die internationale Zuständigkeit binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Ad I.

[1] Aufgrund der am 1. 2. 2024 im Handelsregister A des Amtsgerichts S* eingetragenen formwechselnden Umwandlung war die Bezeichnung der Zweitbeklagten gemäß § 235 Abs 5 ZPO wie aus dem Kopf ersichtlich zu berichtigen.

Ad II.

[2] Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens ist die internationale Zuständigkeit für eine Schadenersatzklage eines österreichischen Aktionärs gegen die Zweitbeklagte als die in Deutschland ansässige Abschlussprüferin der mittlerweile insolventen deutschen W* AG (künftig: AG). Der Kläger nimmt die Zweitbeklagte zugleich mit einem in Österreich wohnhaften Aufsichtsratsmitglied der AG (Erstbeklagter) in Anspruch und beruft sich dabei auf den Deliktsgerichtsstand nach Art 7 Nr 2 EuGVVO und den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO.

[3] Der Kläger stützt sein Begehren darauf, dass er zwischen 30. 4. und 20. 5. 2020 150 Stück Aktien der AG erworben und am 29. 6. 2020 mit einem Verlust von 14.423,35 EUR wieder veräußert habe. Da er bei einer alternativen Veranlagung einen Gewinn von 690,97 EUR erzielt hätte, sei ihm durch den Erwerb der ungewollten Aktien ein Schaden in Höhe des Klagebetrags entstanden, für den ihm die Beklagten solidarisch hafteten.

[4] Der Erstbeklagte sei in der Zeit von 2009 bis 2020 Mitglied des Aufsichtsrats der AG gewesen und habe in dieser Funktion die Zweitbeklagte mit der Prüfung des Jahresabschlusses und des Lageberichts der AG beauftragt. Obwohl zumindest ab 2015 wesentliche Teile des Umsatzes der AG frei erfunden gewesen seien und es bereits ab 2008 Hinweise auf Malversationen („Luftbuchungen“) gegeben habe, hätten in dieser Hinsicht weder der Erstbeklagte seine Kontrollbefugnisse als Aufsichtsrat wahrgenommen noch die Zweitbeklagte konkrete Nachforschungen angestellt. Vielmehr habe diese seit 2009 uneingeschränkte Bestätigungsvermerke erteilt, das sogar noch nach Bekanntwerden der Bilanzmanipulationen im April 2019. Sowohl die Vorstände als auch die Beklagten hätten durch bewusstes und gewolltes Täuschen über kapitalmarktrelevante Tatsachen Anleger dazu verleitet, Aktien zu erwerben, um dadurch sich oder die AG zu bereichern. Hätten die Beklagten gesetzes- und pflichtgetreu gehandelt, wäre ihm kein Schaden entstanden, weil er in diesem Fall nicht auf das Funktionieren der Kontrollmechanismen (Aufsichtsrat und Abschlussprüfer) sowie die Vollständigkeit und Richtigkeit der Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der AG vertraut und deren Aktien nicht gekauft hätte. Er hätte sein Geld vielmehr anderweitig veranlagt und dabei einen Gewinn erzielt.

[5] Der allgemeine Gerichtsstand des Erstbeklagten liege im Sprengel des angerufenen Gerichts. Die internationale Zuständigkeit hinsichtlich der Zweitbeklagten ergebe sich aus Art 7 Nr 2 und Art 8 Nr 1 EuGVVO.

[6] Die Zweitbeklagte wandte die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts ein. Sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsort lägen in Deutschland. Mangels Übereinstimmung der anwendbaren Rechtsgrundlagen, der Haftungsmaßstäbe und der den Beklagten vorgeworfenen Pflichtverletzungen sei deren Haftung anhand einer gänzlich anderen Sach- und Rechtslage zu prüfen. Ein auf Art 8 Nr 1 EuGVVO gestützter gemeinsamer Gerichtsstand scheide daher aus. Gegen diesen spreche auch, dass es für einen Abschlussprüfer nicht vorhersehbar sei, am Wohnsitz eines jeden Aufsichtsratsmitglieds der geprüften Gesellschaft geklagt zu werden. Zudem erfolge die Berufung auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft missbräuchlich, weil die Klage gegen den Erstbeklagten nur erhoben worden sei, um die Zuständigkeit eines österreichischen Gerichts für das vom Kläger eigentlich angestrebte Vorgehen gegen sie zu begründen.

[7] Das Erstgericht sprach aus, für die Klage gegen die Zweitbeklagte örtlich unzuständig zu sein, und wies die Klage gegen sie zurück. Der Gerichtsstand des Art 7 Nr 2 EuGVVO scheide aus, weil nach den Klageangaben weder die unerlaubte Handlung noch das schädigende Ereignis in Österreich erfolgt seien. Obwohl zwischen den Klagen gegen den Erstbeklagten und die Zweitbeklagte ein ausreichender Zusammenhang bestehe, könne der Kläger den Gerichtsstand des Art 8 Nr 1 EuGVVO ebenfalls nicht in Anspruch nehmen. Die Berufung darauf sei nämlich missbräuchlich, weil er die Klage gegen den Erstbeklagten nur deshalb erhoben habe, um für das Vorgehen gegen die in seinem eigentlichen Fokus liegende Zweitbeklagte einen Gerichtsstand in Österreich zu schaffen.

[8] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung mit der Maßgabe, dass das Erstgericht international unzuständig sei. Auch wenn die geltend gemachten Ansprüche gegen die Beklagten auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhten, seien sie letztlich auf dasselbe Interesse, nämlich den Ersatz des Schadens durch den Erwerbder Aktien, gerichtet. Zudem stelle sich gegenüber beiden Beklagten die (Vor-)Frage, ob die von der Zweitbeklagten geprüften Abschlüsse der AG tatsächlich unrichtig gewesen seien und welches Investment der Kläger bei Kenntnis aller Umstände getätigt hätte. Der Inanspruchnahme des Gerichtsstands des Art 8 Nr 1 EuGVVO stehe daher nur ein etwaiger Missbrauch entgegen. Ein solcher sei hier anzunehmen, weil nach den als Feststellungen zu wertenden Ausführungen des Erstgerichts die Klage gegen den Erstbeklagten nur aus prozesstaktischem Kalkül erhoben worden sei, um künstlich einen Gerichtsstandfür die Klage gegen die Zweitbeklagte zu schaffen.

[9] Die Revision ließ das Rekursgericht unter Hinweis auf die zwischenzeitig ergangene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu 5 Ob 73/23f nachträglich zu.

Rechtliche Beurteilung

[10] Der dagegen gerichtete Revisionsrekurs des Klägersistzulässig, weil die Entscheidungen der Vorinstanzen von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abweichen. Er ist aus diesem Grund auch berechtigt.

[11] 1. Werden mehrere Personen zusammen geklagt, kann nach Art 8 Nr 1 EuGVVO eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, geklagt werden, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.

[12] 2. Der Oberste Gerichtshof hat sich mit der Frage der internationalen Zuständigkeit für Klagen österreichischer Aktionäre gegen die Zweitbeklagte als Abschlussprüferin der AG erstmals in seiner Entscheidung 9 Ob 18/22w beschäftigt. Er kam darin nach umfassender Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und dem Schrifttum zum Ergebnis, dass in der vorliegenden Konstellation, bei der neben der Zweitbeklagten auch ein in Österreich wohnhafter Erstbeklagter geklagt wird, die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts im Verfahren gegen die Zweitbeklagte nach Art 8 Nr 1 EuGVVO gegeben ist. Die auch hier ident vorgetragenen Argumente der Zweitbeklagten erachtete der Oberste Gerichtshof als nicht tragfähig und stellte klar, dass der erforderliche Sachzusammenhang zwischen den Klagen besteht und eine Klageführung unter Inanspruchnahme des Gerichtsstands des Art 8 Nr 1 EuGVVO für einen Schädiger auch vorhersehbar ist.Dem haben sich – ungeachtet der dazu geäußerten Kritik der Lehre – in der Folge weitere Senate angeschlossen (6 Ob 128/22z; 8 Ob 113/22h; 2 Ob 186/23a; 5 Ob 73/23f; 4 Ob 220/23s).

[13] Wenn die Vorinstanzen daher davon ausgehen, auch hier seien die in Art 8 Nr 1 EuGVVO ausdrücklich genannten Kriterien erfüllt, entspricht das der dargestellten Rechtsprechung. Die Ausführungen der Zweitbeklagten, mit denen sie lediglich ihre schon mehrfach abgelehnte Ansicht wiederholt, geben keinen Anlass, davon abzugehen. Mit der dazu ergangenen Rechtsprechung befasst sie sich zum Teil zwar im Revisionsrekursverfahren, dies aber nur im Kontext mit der von den Vorinstanzen bejahten missbräuchlichen Inanspruchnahme des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft. Stichhaltige Gründe, die die von ihr angestrebte abweichende Beurteilung tragen könnten, legt sie damit nicht dar.

[14] 3. Die Parteien bezweifeln nicht, dass Art 8 Nr 1 EuGVVO zwar keinen ausdrücklichen Missbrauchsvorbehalt wie Art 8 Nr 2 EuGVVO enthält, eine Missbrauchskontrolle aber insofern zu erfolgen hat, als es einem Kläger nicht erlaubt ist, eine Klage gegen mehrere Beklagte allein zu dem Zweck zu erheben, einen von diesen der Zuständigkeit der Gerichte seines Wohnsitzstaats zu entziehen. Sie stellen dazu auch nicht in Abrede, dass eine Zweckentfremdung des Gerichtsstands des Art 8 Nr 1 EuGVVO nur dann vorliegt, wenn beweiskräftige Indizien den Schluss zulassen, dass der Kläger die dafür erforderlichen Voraussetzungen künstlich herbeigeführt oder aufrechterhalten hat, wie etwa durch ein kollusives Zusammenwirken mit der Ankerpartei (5 Ob 73/23f [Rz 38]; 4 Ob 220/23s [Rz 24] mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH).

[15] Dass eine Missbrauchskontrolle (auch) beim Gerichtsstand des Art 8 Nr 1 EuGVVO zu erfolgen hat, ist in der Rechtsprechung somit geklärt und im Verfahren auch unbestritten. Da die dahingehende Prüfung dem nationalen Gericht obliegt (EuGH C‑352/13 , CDC Hydrogen Peroxide SA, [Rn 32]) und sich allgemein gültige Regeln dafür, welches Verhalten als rechtsmissbräuchlich anzusehen ist und daher dem Gerichtsstand der Streitgenossenschaft entgegensteht, nicht aufstellen lassen, besteht kein Anlass, vorab den EuGH zu befassen (5 Ob 73/23f [Rz 39]; 4 Ob 220/23s [Rz 25]).

[16] 3.1. Nach Ansicht des Rekursgerichts kann sich ein missbräuchliches Vorgehen auch aus der subjektiven Absicht bzw der Motivlage des Klägers ergeben. Anders als in den bisher vom Obersten Gerichtshof entschiedenen Fällen stehe hier fest, dass die Klage gegen den Erstbeklagten nur erhoben worden sei, um sich gegen die Zweitbeklagte auf Art 8 Nr 1 EuGVVO berufen zu können. Dieser Unterschied rechtfertige trotz ansonsten gleicher Ausgangslage ein anderes Ergebnis der Missbrauchskontrolle.

[17] 3.2. Der Oberste Gerichtshof hat erst jüngst zu 5 Ob 73/23f und 4 Ob 220/23s – bei Identität der Parteienvertreter – ausführlich begründet, dass die Intention, mit der Klageführung gegen den in Österreich wohnhaften Erstbeklagten auch die internationale Zuständigkeit für eine (in einem sachlichen Zusammenhang mit der Klage gegen den Erstbeklagten stehende) Klage gegen die Zweitbeklagte zu bewirken, für sich allein keinen Rechtsmissbrauch darstellt (5 Ob 73/23f [Rz 42]; 4 Ob 220/23s [Rz 28]). Damit wird auch nicht – wie in der Revisionsrekursbeantwortung behauptet – die Feststellung zur Motivlage des Klägers „umgedeutet“. Vielmehr wird die prozesstaktiksche Überlegung, neben der Zweitbeklagten den in Österreich wohnhaften Erstbeklagten zu klagen, um damit die internationale Zuständigkeit eines österreichischen Gerichts zu begründen, als zulässige Inanspruchnahme des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft gewertet, weil eine dem Kläger vorteilhaft scheinende Auswahl der Prozessgegner (und damit eines Gerichtsstands) ohne weitere Umstände keinen Rechtsmissbrauch indiziert (4 Ob 220/23s [Rz 31 f]). Die (schlüssig behauptete) Konnexität der Ansprüche ist ein ausreichend sachlicher Grund für die gleichzeitige Inanspruchnahme der Beklagten sowie des dadurch eröffneten Gerichtsstands des Art 8 Nr 1 EuGVVO und ohne zusätzliche tragfähige Indizien kein künstliches Herbeiführen (oder Aufrechterhalten) dieses Gerichtsstands.

[18] 4. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen erfolgte die Inanspruchnahme des Gerichtsstands nach Art 8 Nr 1 EuGVVO durch den Kläger somit nicht rechtsmissbräuchlich. Da der Revisionsrekurs schon deshalb berechtigt ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob die internationale Zuständigkeit auch auf den Deliktsgerichtsstand nach Art 7 Nr 2 EuGVVO gestützt werden könnte.

[19] 5. Die Kostenentscheidung gründet auf § 52 Abs 1 Satz 3 iVm §§ 41, 50 ZPO.

[20] Die Zweitbeklagte hat dem Kläger die Kosten des Zwischenstreits über die internationale Zuständigkeit zu ersetzen (RS0035955 [T4, T8, T17]; RS0036009 [T1]), soweit sie vom allgemeinen Verfahrensaufwand klar abgrenzbar sind (RS0036009 [T3]). Kosten von Prozesshandlungen, die im fortgesetzten Verfahren verwertbar sind, sind im Rahmen der Entscheidung über die Kosten des Zwischenstreits dagegen nicht zuzusprechen (siehe bloß 4 Ob 173/19y [ErwGr 6.]; 10 Ob 36/19w [ErwGr 4.]).

[21] Klar abgrenzbar sind hier nur die Kosten des Verfahrens zweiter und dritter Instanz (vgl 10 Ob 10/22a [Rz 19]). Für den Rekurs steht dabei nur ein Erhöhungsbetrag nach § 23a RATG (iVm BGBl II 2023/131) von 2,60 EUR zu (RS0126594); für die begehrte Verbindungsgebühr besteht keine Grundlage (vgl Obermaier, Kostenhandbuch4 Rz 1.447). Im Revisionsrekursverfahren stand der Kläger nur einer Partei gegenüber, sodass kein Streitgenossenzuschlag gebührt.

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