Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Der Antrag des Vaters auf Ersatz seiner Verfahrenskosten wird abgewiesen.
Text
Begründung
Der am 7. 1. 2008 geborene Jonas W***** entstammt der Beziehung des Vaters Johannes W***** und der Mutter Alena P*****. Der Minderjährige und die Mutter sind tschechische Staatsangehörige, der Vater ist österreichischer Staatsbürger.
Die Lebensgemeinschaft der Eltern wurde bereits im Juni 2008 aufgelöst. Schon vor der Geburt des Kindes war es zu zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern gekommen. Nach der Geburt des Minderjährigen kümmerte sich die Mutter zunächst sehr gut um ihn. Es gab jedoch auch Zeiten, in denen sie sich überfordert fühlte. In der Betreuung wurde sie vom Vater des Kindes und ihrer Tochter Nikola (aus einer früheren Beziehung) unterstützt. Im Frühjahr 2008 ging die Mutter ca dreimal abends aus und kam alkoholisiert nach Hause. In dieser Zeit kümmerte sich der Vater um den Minderjährigen. Nach einer schweren Auseinandersetzung im Juni 2008 zog die Mutter mit Jonas (neuerlich) ins Frauenhaus M*****. Sie erstattete Anzeige gegen den Vater und erhob den Vorwurf, er habe sie geschlagen. Der Vater wurde allerdings vom Vorwurf der Körperverletzung freigesprochen. Die ältere Tochter Nikola zog im August 2008 zu den mütterlichen Großeltern nach Tschechien, wobei die Mutter mit dem Minderjährigen ebenfalls nach Tschechien fuhr, um dort zu leben. Nach einer Auseinandersetzung kehrte die Mutter jedoch mit den Kindern wieder nach Österreich zurück.
Ein Antrag des Vaters, der Mutter die Obsorge zu entziehen und ihm allein zu übertragen, wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Stockerau vom 15. 9. 2008 abgewiesen (ON 16 in Band I), dies im Wesentlichen mit der Begründung, dass eine innige Mutter-Kind-Beziehung festgestellt worden und eine Gefährdung des Kindeswohls nicht gegeben sei. Am 30. 9. 2008 stellte der Vater einen neuerlichen Obsorgeantrag (ON 19), beantragte auch die einstweilige Übertragung der Obsorge und führte aus, der Mutter sei bereits die Obsorge für ihre Tochter Nikola entzogen und dem Jugendwohlfahrtsträger übertragen worden, dies aufgrund von Misshandlungen der Tochter durch ihre Mutter. Die vorläufige Obsorge für Nikola war mit Beschluss des Bezirksgerichts Stockerau vom 22. 8. 2008 dem Land Niederösterreich als Jugendwohlfahrtsträger übertragen worden. Sie lebt seither bei einer Pflegefamilie. Nikola lehnt den Kontakt zu ihrer Mutter und eine Rückkehr zu ihr ab.
Die Mutter zog mit dem mj Jonas am 24. 10. 2008 in ein Mutter-Kind-Heim in H*****. Sie ging sehr liebevoll und bedürfnisgerecht mit dem Minderjährigen um. Jonas wirkte altersentsprechend entwickelt und gesund. Die Mutter war selbst in Karenz und betreute Jonas rund um die Uhr. Sie nahm Betreuungsangebote der Mitarbeiter des Mutter-Kind-Heims nicht in Anspruch, verhielt sich aber sehr kooperativ. Im Jänner 2009 beschloss sie, in eine eigene Wohnung in P***** zu ziehen, was sie auch am 10. 2. 2009 verwirklichte. Weiterhin wurde sie von Mitarbeitern der Jugendwohlfahrt unterstützt.
Aus diesem Grund wurde der Antrag des Vaters, ihm die Obsorge einstweilig zu übertragen, am 16. 1. 2009 im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, dass keine Kindeswohlgefährdung festzustellen sei und die Mutter die Unterstützung entsprechender Einrichtungen gerne annehme und sich kooperativ verhalte (ON 56).
Bei einer Befundaufnahme durch die Gerichtssachverständige Dr. S***** am 20. 3. 2009 machte die Mutter jedoch auf die Sachverständige einen völlig überforderten Eindruck und verhielt sich auch aggressiv (ON 70). Der Minderjährige wies am Kopf eine Beule auf, deren Ursache im Krankenhaus M***** aufgeklärt werden sollte. Das Kind legte ein verstörtes Verhalten an den Tag, in dem es immer wieder auf dem Boden sitzend mit dem Kopf gegen den Boden schlug. Die behandelnden Ärzte konnten jedoch Misshandlungsspuren nicht feststellen (ON 74). Das Verhältnis zwischen Mutter und Kind wurde als normal eingestuft.
Über seinen Antrag wurde dem Vater am 7. 4. 2009 einstweilig bis zur endgültigen Entscheidung über den Obsorgeantrag die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung übertragen (ON 72). Die Begründung dafür war eine aus den Ergebnissen des Sachverständigengutachtens abgeleitete Kindeswohlgefährdung. Die Mutter zog einen dagegen erhobenen Rekurs zurück (ON 89).
Seither lebt der Minderjährige bei seinem Vater. Seit Juli 2010 bewohnen sie ein Haus in G*****, das über zwei Trakte verfügt und wo auch die väterliche Großmutter lebt. Der Vater, der in Elternteilzeit 16 Stunden pro Woche arbeitet, wird bei der Betreuung des Minderjährigen von seiner Mutter unterstützt. Er hat das Kind bereits im Kindergarten angemeldet und beabsichtigt, bis zum Schuleintritt des Minderjährigen in Teilzeit zu arbeiten, um Jonas so weit wie möglich selbst betreuen zu können. Er hat gegenüber dem Minderjährigen ein fürsorgliches, feinfühliges und empathievolles Verhalten, kann Jonas gut motivieren und lenken, setzt ihm aber auch adäquate Grenzen und zeigt eine gute Interaktionskompetenz. Verpflegung, Erziehung und Beaufsichtigung sowie eine möglichst günstige Voraussetzung für eine seelische und geistige Entwicklung des Minderjährigen scheinen beim Vater gewährleistet. Der Minderjährige zeigt in Anwesenheit des Vaters ein Verhalten, das einer emotional engen Bindung an den Vater zuzuschreiben ist.
Die Mutter erhob nach der vorläufigen Obsorgeübertragung an den Vater strafrechtlich relevante Vorwürfe gegen diesen, wobei sämtliche Strafverfahren gemäß § 190 Z 2 StPO eingestellt wurden. Nach Anordnung begleiteter Besuchskontakte fanden zunächst wöchentliche Besuchskontakte der Mutter zum Minderjährigen statt. Im Sommer 2010 wurden diese aufgrund einer Erkrankung der Mutter ausgesetzt und im Herbst 2010 nur unregelmäßig wieder aufgenommen. Im Dezember 2010 ersuchte die Mutter wieder um Aussetzung der Kontakte, weil sie eine Arbeit in W***** aufgenommen habe. Sie werde sich wieder melden, wenn sich die Arbeitszeiten „eingespielt“ hätten. Erst im Februar 2011 ersuchte sie wieder, wöchentliche Besuchstermine zu organisieren. Es gelang ihr bisher nicht, eine Kontinuität der Besuchskontakte aufzubauen, sodass es immer wieder erforderlich wurde, den Minderjährigen auf Kontakte einzustellen. Zwischen den Eltern besteht nach wie vor keine Kommunikationsbasis, wobei der Vater sich allerdings hinsichtlich der Vereinbarung von Besuchskontakten kooperativ verhält.
Am 21. 7. 2010 wurde der Mutter die Obsorge auch im Teilbereich gesetzlicher Vertretung und Geltendmachung des Kindesunterhalts vorläufig entzogen und dem Vater bis zur endgültigen Obsorgeentscheidung übertragen (ON 184 in Band III).
Die Mutter, die zunächst als Zimmermädchen 35 Wochenstunden gearbeitet hatte, konnte diese Tätigkeit aufgrund eines langen Krankenstands im Sommer 2010 nicht mehr ausüben. Seit Dezember 2010 arbeitet sie in einer Bäckerei in W***** und bewohnt eine Wohnung in P*****. Aus psychiatrischer Sicht ist die Erziehungskompetenz der Mutter zwar eingeschränkt, aber insgesamt als ausreichend zu beurteilen; unreife, passiv-dependente Persönlichkeitszüge erreichen nicht das Ausmaß einer krankheitswertigen Persönlichkeitsstörung. Sie bedürfte jedenfalls unterstützender Maßnahmen im Sinn einer Erziehungsberatung und einer psychotherapeutischen Begleitung. Es ist der Mutter nicht möglich, feinfühlig und empathievoll auf die Bedürfnisse des Kindes zu reagieren und diese in adäquater Art und Weise zu erkennen. Die Bedürfnisse des Kindes werden von der Mutter uminterpretiert, was zu einer psychischen Irritation des Kindes führt. Obwohl sie sich bemüht, Nähe zu Jonas zu finden, gelingt ihr dies nicht. Das Kind verhält sich der Mutter gegenüber zuletzt abweisend und ablehnend.
Mit dem verfahrenseinleitenden Antrag begehrte der Vater, der Mutter die Obsorge für den Minderjährigen dauernd zu entziehen und ihm im vollen Umfang allein zu übertragen. Unter Hinweis auf ihre Unfähigkeit, das ältere Kind zu betreuen und erziehen, auf ihre fehlende soziale Integration und geistige Entwicklung sei sie nicht in der Lage, sich adäquat um den Minderjährigen zu kümmern. Dem gegenüber sei er in der Lage, dem Minderjährigen ein verlässliches Zuhause zu bieten und Personen im Umfeld wie Freunde, Großeltern und Geschwistern könnten dieses ergänzen.
Die Mutter sprach sich gegen die Übertragung der Obsorge an den Vater aus. Der Vater sei während der Beziehung zu ihr gewalttätig gewesen und hätte auch ihre Autorität gegenüber ihrer Tochter Nikola untergraben. Es sei zwar richtig, dass sie ihre Tochter geschlagen habe, dies jedoch in einer für sie sehr schwierigen Zeit der Schwangerschaft, in der es auch viele Auseinandersetzungen mit dem Vater gegeben habe. Seit Jonas auf der Welt sei, gehe sie auch nicht mehr aus, sie habe andere Sorgen und müsse sich um ihre Zukunft kümmern.
Das Erstgericht entzog der Mutter das Obsorgerecht für den Minderjährigen und übertrug es zur Gänze an den Vater.
Die eingangs wiedergegebenen Feststellungen beurteilte das Erstgericht in rechtlicher Hinsicht wie folgt:
Der Minderjährige sei tschechischer Staatsangehöriger. Das anzuwendende Familiengesetz der tschechischen Republik vom 4. 12. 1963 regle in seinem zweiten Teil die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Nach Art 34 Abs 1 dieses Gesetzes obliege die elterliche Verantwortung beiden Elternteilen. Art 44 sehe die Einschränkung oder Entziehung der Obsorge eines Elternteils unter gewissen Umständen grundsätzlich vor. Weil der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich habe, sei das Haager Minderjährigenschutzübereinkommen (MSA) anzuwenden. Dementsprechend sei das Heimatrecht des Kindes hinsichtlich der rechtlichen Obsorgeverhältnisse anzuerkennen (Art 3 MSA). Vorbehaltlich Art 3, 4 und 5 MSA hätten die Gerichte am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Minderjährigen hinsichtlich der Obsorgeregelung eigenes innerstaatliches Recht, somit im vorliegenden Fall § 167 iVm § 177a ABGB anzuwenden.
Für die Entscheidung maßgeblich sei neben dem Kindeswohl, welcher Elternteil zur Übernahme der alleinigen Obsorge besser geeignet sei. Dabei seien die Umstände beim einen oder anderen Elternteil in ihrer Gesamtheit gegenüberzustellen und nicht nur von der momentanen Situation auszugehen, sondern auch eine Zukunftsprognose zu erstellen. Nur bei gleichwertigen Verhältnissen sei nach der Rechtsprechung bei Kleinkindern der Betreuung der Mutter der Vorzug zu geben. Nach den maßgeblichen Feststellungen sei die emotionale Bindung des Minderjährigen zu seinem Vater sehr eng ausgeprägt, dieser sei auch in der Lage, das Kind gut zu motivieren und zu lenken. Er habe den Alltag mit dem Kind schnell organisiert und sei bemüht, die Aufgaben möglichst selbst wahrzunehmen, verfüge jedoch auch über das notwendige familiäre Umfeld, aus dem Unterstützung zu erwarten sei. Dem gegenüber sie die Mutter nicht in der Lage, mit den Bedürfnissen des Kindes umzugehen. Sie lebe allein in Österreich, ihre Familie sei in Tschechien. Bei der Betreuung des Kindes sei sie ausschließlich auf Fremdhilfe angewiesen. Dazu komme, dass sie bei wechselnden Beschäftigungen und gesundheitlichen Problemen bereits Schwierigkeiten habe, wöchentliche Besuchskontakte zu organisieren. Die beim Vater gegebenen günstigeren Voraussetzungen für die seelische und geistige Entwicklung des Kindes sprächen jedenfalls für einen Verbleib des Minderjährigen beim Vater (ON 200).
Dem dagegen von der Mutter erhobenen Rekurs gab das Gericht zweiter Instanz nicht Folge.
Während im Zeitpunkt der Fassung des erstinstanzlichen Beschlusses noch das Haager Minderjährigenschutzübereinkommen (MSA) in Geltung gestanden sei, sei zwischenzeitig, nämlich mit 1. 4. 2011 für Österreich (und Tschechien) das Haager Übereinkommen vom 19. 10. 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, die Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (KSÜ) in Kraft getreten. Gemäß Art 53 Abs 1 KSÜ seien dessen Regeln über das anwendbare Recht ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Übereinkommens anzuwenden. Während nach Art 3 MSA ein Gewaltverhältnis - also die bestehende elterliche Obsorge - nach den Sachnormen des Heimatrechts des Kindes zu beurteilen sei, also beiden Elternteilen nach tschechischem Recht die Obsorge hinsichtlich eines Kindes zukomme, regle Art 16 Abs 1 KSÜ, dass das Recht des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Kindes dafür maßgeblich sei, wem gesetzlich die Obsorge zukomme. Das sei in Österreich zufolge § 166 ABGB allein die Mutter.
Dieser Frage komme insofern entscheidende Bedeutung zu, als bei Anwendung des KSÜ und damit des österreichischen Sachrechts nicht von einer Obsorgeübertragung auf einen anderen Elternteil, sondern von einer Entziehung der Elternrechte des allein Obsorgeberechtigten auszugehen sei, die nur dann zulässig sei, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB vorlägen. Es sei also zunächst zu prüfen, wem in rechtlicher Hinsicht bisher die Obsorge hinsichtlich des Minderjährigen zukomme.
Art 53 KSÜ enthalte zwar Regeln über das Inkrafttreten und Übergangsvorschriften für die Zuständigkeit zur Ergreifung von Schutzmaßnahmen, die Anerkennung und Vollstreckung von Schutzmaßnahmen und die Kollisionsregeln des Art 15. Es regle jedoch nicht die Folgen des Inkrafttretens der international privatrechtlichen Regelung des Art 16 Abs 1 KSÜ, weshalb insoweit eine Lücke vorläge. Im vorliegenden Fall würde das dazu führen, dass einer der bisherigen Obsorgeträger, nämlich der uneheliche Vater, ex lege sein Obsorgerecht verlöre. Um dem zu begegnen, habe der nationale Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 53 Abs 2 IPRG geregelt, dass nach dem Inkrafttreten des KSÜ auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern die elterliche Verantwortung, die das bis zu diesem Zeitpunkt maßgebende Recht kraft Gesetz einer Person zugewiesen hatte, weiter fortbestehe. Damit lasse sich die Vorfrage, wer derzeit mit der Obsorge für das uneheliche Kind betraut sei, dahin lösen, dass derzeit beide Elternteile mit der Obsorge für das uneheliche Kind - wie bisher nach tschechischem Recht - betraut seien.
Gemäß Art 18 KSÜ könne ein elterliches Gewaltverhältnis geändert und eine Obsorgeentscheidung unter Anwendung des österreichischen Rechts getroffen werden. Dementsprechend komme § 167 Abs 1 ABGB zur Anwendung, der die Obsorgezuteilung nach Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft unter Heranziehung der Bestimmungen der §§ 177 und 177a ABGB regle. In Ermangelung einer Einigung der Eltern über die Betrauung mit der Obsorge habe das Gericht darüber zu entscheiden, welchem Elternteil in Hinkunft die Obsorge allein zukomme. Dabei sei ausschließlich das Wohl des Kindes maßgebend und aufgrund einer Gesamtabwägung aller für das Kindeswohl relevanten Lebensumstände beider Elternteile zu entscheiden. Eine solche Abwägung ergebe, dass der Vater dem Minderjährigen eine dem Kindeswohl entsprechende kontinuierliche Betreuung biete, bei der er auch von seiner im gleichen Haus wohnenden Mutter unterstützt werde. Die Mutter hingegen wäre auf die Schaffung einer stabilen Betreuungssituation durch die Hilfe verschiedener Organisationen angewiesen. Wenn auch ihre Erziehungsfähigkeit als ausreichend beurteilt worden sei, ließen sich doch aus den Feststellungen gewisse Einschränkungen dahin entnehmen, dass sie unterstützender Maßnahmen im Sinn einer Erziehungsberatung und psychotherapeutischer Begleitung bedürfe. Eine Abwägung unter dem Aspekt des Kindeswohls ergebe, dass die derzeit bestehende Betreuungssituation beim Vater dem Wohl des Minderjährigen besser entspreche, als eine von der Mutter zu schaffende Situation.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Bedeutung des Rechtswechsels vom MSA zum KSÜ während eines anhängigen Verfahrens, konkret nach erstinstanzlicher Entscheidung und damit zum zeitlichen Anwendungsbereich des § 16 Abs 1 KSÜ vorliege. Auch fehle es an einheitlicher höchstgerichtlicher Rechtsprechung über die Maßgeblichkeit von Rechtsänderungen im Verfahren Außerstreit zwischen den Entscheidungen erster und zweiter Instanz.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung des angefochtenen Beschlusses im Sinne einer Abweisung des Obsorgeantrags des Vaters samt Alleinübertragung auf sie. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Vater beantragt in seinem und im Namen des Minderjährigen, den Revisionsrekurs der Mutter zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben. Darüber hinaus begehrt er, der Mutter die Verfahrenskosten aufzuerlegen.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs der Mutter erweist sich aus den vom Rekursgericht angeführten Gründen als zulässig. Er ist jedoch nicht berechtigt.
1.) Am 1. 4. 2011 ist für Österreich mit BGBl III 2011/49 das „Haager Übereinkommen vom 19. 10. 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern“ (KSÜ) in Kraft getreten. Dessen Regelungen über die internationale Zuständigkeit und das anwendbare Recht sind zufolge Art 53 Abs 1 KSÜ ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens anzuwenden. Das gilt auch für die Kollisionsregel des Art 16 Abs 1 KSÜ. Demnach bestimmt sich die „Zuweisung oder das Erlöschen der elterlichen Verantwortung kraft Gesetzes ohne Einschreiten eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde nach dem Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes“.
2.) Das hat in Österreich eine Änderung der kollisionsrechtlichen Anknüpfung der elterlichen Verantwortung (Obsorgerechte) zur Folge, weil bis dahin die Wirkung des Kindschaftsverhältnisses nach Art 3 des Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5. 10. 1961 (MSA; BGBl 1975/446) im Regelfall nach dem Heimatrecht des Kindes zu beurteilen war.
3.) Für die vorliegende Rechtssache ist die Änderung der kollisionsrechtlichen Anknüpfung insofern von Bedeutung, als bisher nach dem MSA und dem danach anzuwendenden tschechischen Recht beide Elternteile Obsorgeträger waren, nach dem zufolge KSÜ anzuwendenden österreichischen Recht hingegen nur die Mutter ihres unehelichen Kindes Obsorgeberechtigte ist (§ 166 ABGB).
4.) Eine Änderung der Verweisungsnorm führt nach herrschender österreichischer Auffassung bei Dauerrechtsverhältnissen dazu, dass diese ab dem Zeitpunkt nach den neuen Regeln anzuknüpfen und nach einem anderen Recht zu beurteilen sind (vgl Verschraegen in Rummel ABGB3 § 7 IPRG Rz 5; § 50 IPRG Rz 1f; Vor § 1 IPRG Rz 9).
5.) Da Art 53 KSÜ keine Übergangsregel in Bezug auf das auf die elterliche Verantwortung kraft Gesetzes anzuwendende Recht (Art 16 Abs 1) bietet, wird die Ansicht vertreten, dass insofern eine vollständige Lücke vorliegt, die vom innerstaatlichen Recht jedes Vertragsstaats zu lösen wäre (vgl Erläuternder Bericht zum Übereinkommen von P. Lagarde, Rz 179; Traar, Das Haager Kinderschutzübereinkommen iFamZ 2011, 44 ff und Nademsleinsky, Haager Kinderschutzübereinkommen in Kraft, EF-Z 2011, 85 ff).
6.) Der Ersatz einer Kollisionsnorm durch eine andere, beispielsweise von der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit auf das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts, könnte, wie der vorliegende Fall zeigt, einen gesetzlichen Wechsel des Trägers der elterlichen Verantwortung bewirken.
7.) Für ein Kind mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich, dessen Heimatrecht wie im gegenständlichen Fall beiden unehelichen Eltern ex lege die Obsorge einräumt, könnte dies zum Ergebnis haben, dass mit einem übergangslosen Inkrafttreten des Art 16 Abs 1 KSÜ ein Obsorgeträger, nämlich der uneheliche Vater, ex lege wegfiele und die Obsorge zufolge § 166 ABGB nur mehr der Mutter zukäme (vgl RV 1055 BlgNR 24. GP 12 ff).
8.) Um einer solchen Auslegung des Abkommens, die den Grundwertungen und Zielen des Übereinkommens tatsächlich widerspräche (vgl nur § 16 Abs 3 des Abkommens und dazu P. Lagarde aaO), zu begegnen, schuf der österreichische Gesetzgeber mit § 53 Abs 2 IPRG (idF BGBl I 2011/21, Art 3) eine Übergangsbestimmung, wonach nach dem Inkrafttreten des KSÜ die elterliche Verantwortung, die das bis zu diesem Zeitpunkt maßgebende Recht kraft Gesetzes einer Person zugewiesen hat, fortbesteht.
Für den gegenständlichen Fall wird damit klargestellt, dass das bisher maßgebliche tschechische Recht, nach dem die Obsorge beiden Elternteilen gemeinsam zukommt, insofern weiter anzuwenden ist (vgl RV 1055 BlgNR 24. GP 12 f).
9.) Die Zuständigkeit des österreichischen Gerichts folgt aus Art 1 Abs 1 lit a iVm Art 5 Abs 1 KSÜ. Demnach sind die Gerichte des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Kindes zuständig.
10.) Das auf Änderungen (Eingriffe) des Obsorgeverhältnisses anzuwendende Recht ergibt sich aus Art 1 Abs 1 lit b iVm Art 15 Abs 1 KSÜ. Demnach hat der zufolge Art 5 Abs 1 KSÜ zuständige Vertragsstaat sein eigenes Recht anzuwenden (vgl 6 Ob 160/11i). Gemäß Art 15 Abs 1 KSÜ wenden also die österreichischen Gerichte bei Ausübung ihrer Zuständigkeit auf Maßnahmen der elterlichen Verantwortung österreichisches Recht an (vgl Nademsleinsky aaO 89 Pkt E. 4.; Traar aaO 48 Pkt L. unter Hinweis auf Gruber in Geimer/Schütze, Rechtsverkehr Art 15 KSÜ Rz 25).
11.) Den Bedenken der Revisionsrekurswerberin, dass durch die Bestimmung des § 53 Abs 2 IPRG in die zwischenstaatliche Vereinbarung des KSÜ eingegriffen würde, ist Folgendes zu entgegnen: Wie schon ausgeführt, wollte der Gesetzgeber des § 53 Abs 2 IPRG das Übereinkommen nicht ändern, sondern lediglich eine Klarstellung bewirken, dass sich aus den Wertungen des Übereinkommens ergibt, dass es durch dessen Inkrafttreten jedenfalls nicht zu einem Wegfall eines Obsorgeberechtigten kommen soll (vgl nochmals Art 16 Abs 3 KSÜ und RV 1055 BlgNR 24. GP 12 ff).
12.) Infolge der dargestellten kollisionsrechtlichen Übergangsregelung ergibt sich, wie das Rekursgericht zutreffend dargestellt hat, eine Fortwirkung der zitierten Bestimmungen des tschechischen Familiengesetzes, wonach beide Elternteile Träger der Obsorgeberechtigung waren und sind, sodass es einer Auseinandersetzung mit der vom Rekursgericht aufgeworfenen Frage der Berücksichtigungsmöglichkeit von Rechtsänderungen nicht bedarf. Im Übrigen wären zwingende Rechtsänderungen während des Verfahrens von Amts wegen auch im Rechtsmittelverfahren zu berücksichtigen (vgl Zechner in Fasching/Konecny 2 § 503 ZPO Rz 204 mwN; RIS-Justiz RS0008748 [T14]).
13.) Die Frage der Obsorgezuteilung an den Vater hat das Rekursgericht in Übereinstimmung mit den dazu in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen gelöst. Eine Obsorgeentscheidung, für die in erster Linie das Wohl des Kindes maßgeblich ist (RIS-Justiz RS0048632), ist immer eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung und nur dann sachgerecht, wenn sie auf aktueller Sachverhaltsgrundlage beruht (RIS-Justiz RS0048632 [T4]), weshalb nichts dagegen spricht, den beim Vater erwiesenermaßen guten Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes den Vorzug zu geben. Neben materiellen Interessen an Versorgung und Unterbringung eines Kindes ist auch das Interesse an möglichst guter Erziehung, sorgfältiger Beaufsichtigung und günstigen Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen seelischen und geistigen Entwicklung zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0047832). Dabei kann auch ein möglicher Betreuungsbeitrag von Großeltern eine Rolle spielen (RIS-Justiz RS0047832 [T11]).
Zu Recht weist die Revisionsrekurswerberin zwar darauf hin, dass durch die vorläufige Obsorgeregelung und Unterbringung des Kindes beim Vater zu ihrem Nachteil ein Faktum geschaffen wurde, was gerade bei vorläufigen Maßnahmen vermieden werden soll (RIS-Justiz RS0007012; RS0007008), und dass diesfalls der Grundsatz der Kontinuität der Erziehung gesondert zu beurteilen ist und nicht der (ausschließliche) Grund einer Obsorgezuteilung sein kann (7 Ob 253/01h mwN). Es trifft auch zu, dass für die Annahme, eine Obsorgezuteilung an die Mutter gefährde das Kindeswohl, keine Sachverhaltsgrundlage besteht, sondern letztlich nur eine gewisse Einschränkung der Erziehungsfähigkeit feststeht, der aber wiederum eine erwiesene Bereitschaft, die Hilfe von Einrichtungen des Jugendwohlfahrtsträgers auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen, gegenübersteht.
Für die Frage der Obsorgezuteilung nach §§ 167, 177a ABGB ist aber bei Abwägung, bei welchem Elternteil die Gesamtumstände dem Kindeswohl besser entsprechen, die Situation beim einen und beim anderen Elternteil gegenüberzustellen (RIS-Justiz RS0047832). Nach den festgestellten Lebensumständen der Mutter müsste sie neben einer Tätigkeit zum Gelderwerb unter voller Inanspruchnahme öffentlicher Kinderbetreuungseinrichtungen erst eine Situation schaffen, die die Versorgung eines Dreieinhalbjährigen ermöglicht. Besondere Umstände, die die Situation bei ihr besser erscheinen ließen, etwa eine besonders ausgeprägte emotionale Bindung, sind schon angesichts der Tatsache, dass die Mutter von ihr zustehenden Besuchsrechtsmöglichkeiten nur beschränkt Gebrauch machte, nicht zu erkennen.
Dem steht die sowohl in materieller als auch emotionaler Hinsicht gesicherte Situation beim Vater, der bei Beaufsichtigung und Betreuung des Kleinkindes von seiner Mutter unterstützt wird, gegenüber. Nach den maßgeblichen Feststellungen sind durch die dort gegebenen Lebensumstände jedenfalls wesentlich günstigere Voraussetzungen für die seelische und geistige Entwicklung des Kindes gegeben.
Nach dem allein zu berücksichtigenden Kindeswohl wurde daher der Vater zu Recht mit der Obsorge betraut.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 107 Abs 3 AußStrG.
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