OGH 4Ob79/20a

OGH4Ob79/20a12.8.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.‑Prof. Dr. Brenn, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen O* G*, geboren am *2004, wegen Übertragung der Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Dr. E* G*, vertreten durch Mag. Emil Golob, Rechtsanwalt in Ferlach, gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom 21. April 2020, GZ 4 R 89/20k‑415, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Klagenfurt vom 31. Dezember 2019, GZ 1 Ps 262/11f‑391, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129305

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die (im Übrigen in Rechtskraft erwachsenen) Beschlüsse der Vorinstanzen werden im Punkt 1.) (Obsorgeentziehung und ‑übertragung) aufgehoben und die Rechtssache wird insoweit zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Der 2004 geborene Minderjährige lebte seit seiner Geburt bis zum September 2019 bei der Mutter, der auch die alleinige Obsorge zukommt. Sie lebt seit 2005 vom Vater des Kindes getrennt, ihre Ehe wurde 2010 geschieden, und sie ist mittlerweile wieder verheiratet. Durch ihr Verhalten kam es bereits 2011 zum gänzlichen Kontaktabbruch zwischen Vater und Sohn. Das Verhalten der Mutter belastet den Minderjährigen sehr. Sie ist sehr aufbrausend, erzählt von anderen Leuten Schlechtes und fordert den Sohn auf, ihr gegen diese Leute zu helfen, schreit mit ihm und setzt ihn äußerst unter Druck. Der 16‑jährige Bursche strebt wegen der belastenden Situation zu Hause an, möglichst bald mit einer Lehre Geld zu verdienen, um eine eigene Wohnung erhalten zu können. Es kam auch zu eskalierenden Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Sohn in der Öffentlichkeit. Im Zuge einer solchen erstattete der Schuldirektor des Minderjährigen eine Gefährdungsmeldung an den Jugendwohlfahrtsträger, der sodann im September 2019 eine Unterbringung im Kriseninterventionszentrum verfügte. Nunmehr ist der Jugendliche in einer Wohngemeinschaft untergebracht, in der er sich wohlfühlt und nicht vorstellen kann, wieder zu Hause bei der Mutter zu wohnen. Er fürchtet, dass er dann weiter unter Druck gesetzt und alles noch schlimmer werde. Einen Kontakt mit der Mutter lehnt er vehement ab. Er hat keine Einwände, dass die Mutter und der Stiefvater von wichtigen, ihn betreffenden Angelegenheiten verständigt werden, spricht sich aber dagegen aus, dass eine Verständigung auch in minderwichtigen Angelegenheiten, wie über seine Freizeitgestaltung, erfolge, damit die Mutter und der Stiefvater nicht Gelegenheit fänden, ihn aufzusuchen.

Das Erstgericht entzog der Mutter die Obsorge für den Minderjährigen – erkennbar im Teilbereich Pflege und Erziehung – und betraute damit den Kinder‑ und Jugendhilfeträger. Den Antrag der Mutter und der Geschwister, ihr Kontaktrecht zum Minderjährigen zu regeln, wies es ab. Weiters trug es dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger auf, der Mutter ärztliche und psychologische Diagnosen über den Minderjährigen sowie Halbjahres‑ und Abschlusszeugnisse und allfällige schwerwiegende Schulprobleme mitzuteilen, wies jedoch den darüber hinausgehenden Antrag der Mutter betreffend Information über Freizeitgestaltung, soziale Kontakte und Ernährungsgewohnheiten des Minderjährigen ab. Dem wiederholt, ernstlich und authentisch geäußerten Willen des Jugendlichen komme entscheidende Bedeutung zu. Sein Konflikt mit der Mutter sei aufgrund ihrer mangelnden Reflexionsfähigkeit und der fehlenden Bereitschaft und Fähigkeit, auf die Wünsche und Bedürfnisse ihres Sohnes einzugehen, nicht ohne weiteres behebbar. Die Abweisung der Kontaktrechtsanträge von Mutter und Geschwister beruhe auch auf § 108 AußStrG. Auch sei dem Wunsch eines mündigen Kindes zu folgen, wenn es sich gegen Informationswünsche ausspreche.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig. Die vom Erstgericht beschlossene Obsorgeübertragung an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger sei unerlässlich und entspreche den wohlverstandenen Interessen des Minderjährigen.

Mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs macht die Mutter die Mangelhaftigkeit des Verfahrens wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs des leiblichen Vaters und der Großmutter und wegen mangelhaft erhobener Tatsachengrundlage sowie unrichtige rechtliche Beurteilung geltend; der Kinder‑ und Jugendhilfeträger sei nur dann mit der Obsorge zu betrauen, wenn sich dafür Verwandte oder andere nahestehende oder sonst besonders geeignete Personen nicht finden ließen.

Der Kinder- und Jugendhilfeträger beantragte in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen bzw ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Solche Verfügungen können nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB – unter anderem – vom Kinder‑ und Jugendhilfeträger beantragt werden (wie dies auch hier der Fall war); ihm kam überdies nach § 211 Abs 1 letzter Satz ABGB im Umfang der getroffenen Sofortmaßnahme auch die vorläufige Obsorge zu.

2. § 178 ABGB normiert für den Fall der Verhinderung eines allein obsorgeberechtigten Elternteils die Übertragung der Obsorge an den anderen Elternteil, die Großeltern (den Großelternteil) oder die Pflegeeltern (den Pflegeelternteil). Eltern, Großeltern und Pflegeeltern haben nach § 178 ABGB Vorrang vor Dritten (RIS‑Justiz RS0123509 [T1]; 1 Ob 189/18b mwN; 5 Ob 143/19v). Nur wenn weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, ist eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen (§ 204 ABGB). Die Übertragung der Obsorge an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger kann dabei nur das letzte Mittel zur Hintanhaltung einer Gefährdung des Kindeswohls sein. Das Gericht hat die Obsorge dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger nur dann zu übertragen, wenn sich dafür Verwandte oder andere nahestehende oder sonst besonders geeignete Personen nicht finden (§ 209 ABGB). Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger ist somit nur subsidiär zu Verwandten, anderen nahestehenden Personen oder sonst besonders geeigneten Personen mit der (Teil‑)Obsorge zu betrauen (RS0123509; RS0048707 [T3]). Es ist daher zu prüfen, ob unter Beachtung des Kindeswohls der andere Elternteil (in erster Linie) oder Groß‑ bzw Pflegeeltern (in zweiter Linie) mit der Obsorge zu betrauen sind. In dritter Linie hat das Gericht dann, wenn weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen (10 Ob 69/09h; 5 Ob 68/15h; 3 Ob 198/18s).

3.1. Gemäß § 160 Abs 3 ABGB sind die Eltern gesetzlich verpflichtet, in Angelegenheiten der Pflege und Erziehung auch auf den Willen des Kindes Bedacht zu nehmen, soweit dem nicht dessen Wohl oder ihre Lebensverhältnisse entgegenstehen. Der Wille des Kindes ist umso maßgeblicher, je mehr es den Grund und die Bedeutung einer Maßnahme einsehen und seinen Willen nach dieser Einsicht zu bestimmen vermag. Je älter daher ein bereits einsichts‑ und urteilsfähiges Kind ist, desto eher ist seinem Wunsch nach einem Obsorgewechsel zu entsprechen (1 Ob 172/01b; 1 Ob 248/06m), wobei die Rechtsprechung im Regelfall ab dem 12. Lebensjahr von der Urteilsfähigkeit eines Kindes bezüglich einer Obsorgezuteilung ausgeht (RS0048820 [T9]; 10 Ob 53/16s; 5 Ob 10/18h). Der Meinung eines mündigen Minderjährigen kommt im Allgemeinen bereits entscheidende Bedeutung zu, da ihm das Andauern einer bestimmten Obsorgeregelung ohne Vorliegen schwerwiegender Gründe nicht gegen seinen Willen aufgezwungen werden soll (1 Ob 248/06m mwN; 5 Ob 10/18h; 7 Ob 115/18i).

3.2. § 138 ABGB nennt als wichtige Kriterien bei der Beurteilung des Kindeswohls unter anderem die Wertschätzung und Akzeptanz des Kindes durch die Eltern (Z 3), die Berücksichtigung der Meinung des Kindes in Abhängigkeit von dessen Verständnis und der Fähigkeit zur Meinungsbildung (Z 5) sowie die Vermeidung der Beeinträchtigung, die das Kind durch die Um‑ und Durchsetzung einer Maßnahme gegen seinen Willen erleiden könnte (Z 6). Auch wenn der Wunsch des Kindes bei der Obsorgeentscheidung nicht allein den Ausschlag geben kann (RS0048981), ergibt sich doch aus § 138 Z 5 und Z 6 und § 160 Abs 3 ABGB, dass einem (fast) 16‑jährigen Minderjährigen nach Möglichkeit nicht gegen seinen Willen die Obsorge durch einen bestimmten Elternteil aufgezwungen werden soll (RS0048818; RS0048820; RS0115962). Dem Wunsch des Kindes ist nur dann nicht Rechnung zu tragen, wenn schwerwiegende Gründe dagegen sprechen und der Wunsch gegen die offenbar erkennbaren Interessen des Kindes gerichtet ist (RS0048820; RS0048818 [T3]).

3.3. Aus den Feststellungen und aus dem gesamten Akteninhalt ergeben sich weder Anhaltspunkte dafür, dass der Minderjährige zu einer eigenen unbeeinflussten Meinungsbildung nicht fähig wäre, noch dass sein Wunsch, nicht mehr im Haushalt der Mutter und des Stiefvaters zu leben, aus schwerwiegenden Gründen seinem Wohl widerspricht. Hingegen ergibt sich – gerade noch ausreichend – aus den Feststellungen, jedenfalls aber aus dem Akteninhalt zweifelsfrei, dass die Mutter nicht in der Lage ist, den Minderjährigen als Person wertzuschätzen und seine Vorstellungen in Bezug auf seine Ausbildung und spätere Berufswahl zu akzeptieren.

3.4. Wenn die Vorinstanzen vor diesem Hintergrund zum Ergebnis gelangten, dass unter Berücksichtigung des Alters des Minderjährigen von knapp 16 Jahren, seines wiederholt geäußerten gefestigten und eindeutigen Wunsches, nicht mehr zu Hause wohnen zu wollen, seiner Erklärung, mit der Obsorge des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers einverstanden zu sein, und der bestehenden Erziehungsdefizite der Mutter jedenfalls ein besonders wichtiger Grund für eine Obsorgeentziehung der Mutter vorliegt, so ist diese Entscheidung nicht zu beanstanden, zumal die Vorinstanzen dabei auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen (vgl RS0115719; RS0007101), keine leitenden Rechtsprechungsgrundsätze verletzt haben (vgl RS0115719 [T1]) und unterstützende Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG hier auf Basis des gesamten Akteninhalts mangels jeglicher Kooperationsbereitschaft der Mutter von vornherein aussichtslos sind.

4. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass zwar ausreichende Erhebungen im Hinblick auf die Kindeswohlgefährdung gepflogen wurden und diese einen tauglichen Grund für die Obsorgeentziehung bilden. Allerdings fehlt jegliche Auseinandersetzung der Vorinstanzen im Hinblick auf die noch vor dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger bei der Obsorgeübertragung bevorrangten nahestehenden Personen (siehe oben Punkt 2.).

Der Revisionsrekurs ist daher mit seiner Rechtsrüge berechtigt. Ihm ist somit im Sinne des Aufhebungsantrags Folge zu geben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen sind im Punkt 1. (Obsorgewechsel) aufzuheben und die Rechtssache ist insoweit zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen. Die Beschlusspunkte 2., 3. und 4. b) sind nicht von der Anfechtungserklärung umfasst und das Rechtsmittel enthält dazu auch keine Ausführungen, weshalb sie in Rechtskraft erwachsen sind.

Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren vor allem die Eignung des leiblichen Vaters sowie subsidiär der Großmutter als Obsorgeträger zu prüfen und – falls diese nicht für die Obsorgeübertragung in Betracht kommen – zu erheben haben, ob andere geeignete Personen (etwa aus dem Kreis der Verwandten) dafür zur Verfügung stehen. Dies wird auch mit dem Minderjährigen selbst zu erörtern sein. Auch wird das Erstgericht (neuerlich) zu entscheiden und zu begründen haben, in welchem Ausmaß (ob nur im Teilbereich Pflege und Erziehung oder zur Gänze) die Obsorge zu entziehen und zu übertragen ist.

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