OGH 4Ob48/16m

OGH4Ob48/16m30.3.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Jensik, Dr. Musger, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Rassi als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R***** Y*****, vertreten durch Dr. Hans Pucher, Rechtsanwalt in St.Pölten als Verfahrenshelfer, gegen die beklagten Parteien 1. Land Niederösterreich, St. Pölten, Landhausplatz 1, vertreten durch Urbanek Lind Schmied Reisch Rechtsanwälte OG in St. Pölten, 2. F***** GmbH & Co KG, *****, Deutschland, vertreten durch Mag. Gernot Strobl, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen 9.500 EUR sA und Feststellung (Streitwert 500 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom 14. Oktober 2015, GZ 21 R 120/15b‑98, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts St. Pölten vom 17. April 2015, GZ 8 C 935/11s‑89, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0040OB00048.16M.0330.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts, das hinsichtlich der Abweisung des Klagebegehrens gegen die erstbeklagte Partei und der Stattgebung des Feststellungsbegehrens gegen die zweitbeklagte Partei unbekämpft in Rechtskraft erwachsen ist, wird teilweise dahin abgeändert, dass es hinsichtlich der gegen die zweitbeklagte Partei geltend gemachten Ansprüche ‑ unter Einbeziehung des in Rechtskraft erwachsenen Teils ‑ insgesamt zu lauten hat:

„Die zweitbeklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 5.000 EUR samt 4 % Zinsen seit 22. 9. 2011 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die zweitbeklagte Partei der klagenden Partei für sämtliche zukünftige Schäden aus dem Bruch der Schere bei der Operation am 8. 10. 2008 im Landesklinikum St. Pölten haftet.

Das Mehrbegehren, die zweitbeklagte Partei sei weiters schuldig, der klagenden Partei 4.500 EUR samt 4 % Zinsen seit 22. 9. 2011 zu zahlen, wird abgewiesen.“

Die zweitbeklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 4.010,21 EUR (darin 668,37 EUR USt) an Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Gemäß § 70 ZPO wird ausgesprochen, dass die zweitbeklagte Partei zum Ersatz der Pauschalgebühr für die Klage und für die Revision zur Gänze und für die Berufung der klagenden Partei mit 10 % verpflichtet ist.

 

Entscheidungsgründe:

Der damals 36‑jährige Kläger wurde 2008 im Landesklinikum St. Pölten am Herzen operiert. Dabei brach die Spitze der verwendeten Präparierschere ab und rutschte in die linke Pulmonalvene. Die Versuche, den abgebrochenen Teil zu bergen, scheiterten. Die Operation wurde danach fortgeführt und zum Abschluss gebracht. Der abgebrochene Teil der Schere in einer Länge von zumindest 1 cm verblieb im Körper des Klägers und befindet sich seitdem dort als Fremdkörper.

Üblicherweise wird ein derartiger Fremdkörper im weiteren Verlauf innerhalb kurzer Zeit in den Körper integriert: Zunächst versucht der Organismus die fremde Oberfläche mit einer Schicht von Endothelzellen im Sinne einer Biotapete zu überwachsen. Zusätzlich lagern sich oft Blutplättchen, weiße Blutzellen und bindegewebige Fasern ab und führen schließlich dazu, dass der Fremdkörper ganz oder teilweise von einer bindegewebigen Kapsel umgeben wird. Diese hat eine herabgesetzte Stoffwechselfunktion und schützt den Organismus vor möglicher stärkerer Einschwemmung von Partikeln des Fremdkörpers und diesen vor lokaler Keimbesiedelung.

Aufgrund des Verbleibs der abgebrochenen Scherenspitze im Körper des Klägers bestand in der Frühphase zunächst ein erhöhtes Risiko für lokale Entzündungen bis hin zur Blutvergiftung, wobei sich dieses Risiko aber erwartungsgemäß nicht verwirklicht hat.

Dieser Fremdkörper hat keinerlei Einwirkung auf den allgemeinen Gesundheitszustand des Klägers. Er verspürt aufgrund des im Körper verbliebenen Teils der Schere keine Schmerzen. Mit dem Verbleib eines Teils der Schere im Körper des Klägers ist keine krankheitswertige psychische Beeinträchtigung verbunden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist das Wandern des Fremdkörpers für die Zukunft auszuschließen. Dauer‑ und Spätfolgen in Zusammenhang mit der abgebrochenen Scherenspitze sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen.

Jedoch nagt am Kläger die ‑ obwohl ihm das Gegenteil versichert wird ‑ Ungewissheit, ob die Spitze nicht doch zu wandern beginnt und oder allenfalls auch aus anderen Gründen der Gesundheit schadet.

Die Entfernung der Scherenspitze ist ohne substantielle Beschädigung des Lungengewebes nicht möglich. Das müsste zudem unter Vollnarkose mit chirurgischer Öffnung des Brustkorbs erfolgen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit müsste dabei ein Teil des linken Lungenflügels entfernt werden, was naturgemäß zu einer Verringerung des Lungenvolumens führt. Dieser Eingriff wäre nur mit einem geringen perioperativen anästhesiologischen und operativen Risiko behaftet. Aus medizinischer Sicht ist von der Entfernung des Fremdkörpers abzuraten.

Es kann für die Zukunft nicht völlig ausgeschlossen werden, dass eine allenfalls medizinisch indizierte MR‑Untersuchung aufgrund des Fremdkörpers nicht durch eine vollwertige alternative Diagnosemethode ersetzt werden kann. Das ist jedoch vom medizinischen Anlassfall abhängig. Derzeit besteht eine solche Notwendigkeit nicht. Dieser Umstand stellt für den Kläger derzeit keine Belastung dar.

Die Schere wurde von der zweitbeklagten Partei vertrieben und enthält als Herstellerhinweis einen Teil ihres Namens.

Die gegen die erstbeklagte Partei als Rechtsträger des Krankenhauses erhobenen Ansprüche des Klägers wurden von den Vorinstanzen rechtskräftig abgewiesen. Die auf das PHG gestützte Haftung der zweitbeklagten Partei für sämtliche zukünftige Schäden wegen des Bruchs der Schere wurde mit Feststellungsurteil rechtskräftig festgestellt. Die gegen die zweitbeklagte Partei geltend gemachten Leistungsansprüche sind im Revisionsverfahren nur mehr der Höhe nach strittig.

Der Kläger machte Schmerzengeld in der Höhe von 9.500 EUR sA geltend und brachte dazu im Wesentlichen vor, dass er seit der Operation psychisch extrem belastet sei. Er lebe in ständiger Angst, dass die Spitze wandern und auch unabhängig davon Schaden anrichten und so seinen Tod herbeiführen könnte. Zudem verhindere sie medizinische Untersuchungen. Seine dadurch hervorgerufenen körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen rechtfertigten ein Schmerzengeld von 9.500 EUR. Im hier vorliegenden Ausnahmefall stehe auch ein Schmerzengeld für bloße Unlustgefühle zu.

Die zweitbeklagte Partei brachte vor, es sei nicht nachvollziehbar, dass der Kläger Schmerzen erlitten habe, weil die Operation unter Vollnarkose durchgeführt worden sei. Die verbliebene Scherenspitze verursache beim Kläger keine psychische Beeinträchtigung mit Krankheitswert. Eine sonstige psychische Alteration ohne Krankeitswert sei nur bei einer Körperverletzung abzugelten.

Das Erstgericht bejahte eine auf PHG gestützte Haftung der zweitbeklagten Partei als Scherenherstellerin, verurteilte diese zur Zahlung eines Schmerzengeldes von 5.500 EUR und wies das Mehrbegehren ab. Es stehe fest, dass der Kläger aufgrund des Fremdkörpers weder (körperliche) Schmerzen verspürt noch eine psychische Erkrankung erlitten habe. Dennoch leuchte wohl ein, dass sich niemand in der Lage des Klägers befinden möchte. Auch unter Berücksichtigung der vernachlässigbaren Wahrscheinlichkeit einer Gesundheitsgefährdung verbleibe beim Kläger ein ‑ über bloße Unlustgefühle hinausgehendes ‑ Unbehagen bzw Ungewissheit; dies sei ihm abzugelten. Der Kläger habe über einen gewissen Zeitraum eine erhöhte Angst verspürt. Aufgrund des nicht auszuschließenden Restrisikos sei es verständlich, wenn bei ihm ein allenfalls zwar abnehmendes, aber dennoch immerwährendes Unbehagen bleibt. Nach § 273 ZPO sei dafür ein Ersatzbetrag mit 5.000 EUR festzusetzen.

Das Berufungsgericht gab der gegen die Entscheidung über das Leistungsbegehren erhobenen Berufung der zweitbeklagten Partei teilweise Folge und setzte das Schmerzengeld mit 500 EUR fest. Ausgehend von den Klagsbehauptungen seien weder körperliche Schmerzen noch eigenständige psychische Beeinträchtigungen hervorgekommen. Allerdings habe sich die Operation durch die „Bergeversuche“ entsprechend verlängert. Der Kläger sei aufgrund des Produktfehlers im zeitlichen Ausmaß der Verlängerung der Operation (zusätzlich) der Erlebnisfähigkeit beraubt gewesen, was ihm einen gewissen Anspruch nach § 1325 ABGB verschaffe. Dazu sei in der Frühphase zunächst ein erhöhtes Risiko für lokale Entzündungen gekommen. Aus diesen Elementen könne ein gemäß § 273 ZPO mit 500 EUR bemessenes Schmerzengeld abgeleitet werden. Darüber hinaus bestehe keine Möglichkeit, dem Kläger weitere Schmerzengeldbeträge zuzuerkennen, zumal die vom Erstgericht konstatierte „Ungewissheit“ weder körperliche Schmerzen noch psychische Beeinträchtigungen beinhalte und somit im nicht ersatzfähigen Bereich von Unbehagen und Unlustgefühlen verbleibe.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands insgesamt nicht 30.000 EUR übersteigt und erachtete die ordentliche Revision für zulässig, weil sich allenfalls die Ansicht vertreten ließe, dass die festgestellte Ungewissheit unter dem Aspekt seelischer Schmerzen ‑ als „Akzessorium“ einer Körperverletzung ‑, die weder konkreter Behauptungen noch Beweiserhebungen bedürften, sondern amtswegig wahrzunehmen seien, zu berücksichtigen wäre.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen die Abweisung des 500 EUR übersteigenden Leistungsbegehrens erhobene Revision des Klägers ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und auch teilweise berechtigt.

1. Das Schmerzengeld hat die Aufgabe, eine Globalentschädigung für alle durch die eingetretenen und nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen zu gewähren (RIS‑Justiz RS0031191). Die mit der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit einhergehenden Unlustgefühle sind dabei mitzuberücksichtigen (vgl RIS‑Justiz RS0022442).

2. Seelische Schmerzen sind ersatzfähig, wenn sie Folge einer Körperverletzung sind (RIS‑Justiz RS0031087). Sie sind dann auch ohne gesonderte Behauptung zu berücksichtigen, wenn nach Lage des Falls mit seelischen Schmerzen zu rechnen ist, etwa bei einer nachvollziehbaren länger dauernden Ungewissheit (2 Ob 51/88; Danzl/Gutierrez‑Lobos/Müller , Das Schmerzengeld 10  156 mwN) oder Sorge wegen späterer Komplikationen (2 Ob 101/05z). Dabei kommt es für die Ausgleichsfähigkeit weder auf das Vorliegen eines eigenständigen Leidenszustands von Krankheitswert noch einer ärztlichen Behandlungsbedürftigkeit an ( Danzl/Gutierrez-Lobos/Müller , Das Schmerzengeld 10  153).

3. Sind seelische Schmerzen hingegen keine Folge einer Körperverletzung, gebührt Ersatz nur in Ausnahmefällen, etwa bei schwerwiegenden Eingriffen in die psychische Sphäre (RIS‑Justiz RS0030778 [insb T1, T3]; 6 Ob 248/09b mwN [Todesangst]; 2 Ob 2009/96x [befürchtete Frühgeburt]). Allein eine Verärgerung, eine Aufregung, ein Schrecken oder Angstgefühle (9 Ob 36/00k) genügen nicht. Eine psychische Beeinträchtigung, die bloß in Unbehagen und Unlustgefühlen besteht, reicht somit für sich nicht aus, um als Verletzung am Körper angesehen oder einer Verletzung gleichgestellt zu werden (1 Ob 282/00b; RIS‑Justiz RS0030792 [T3]).

4. Das Berufungsgericht hat im Anlassfall nicht ausreichend berücksichtigt, dass unter einer „Verletzung an dem Körper“ im Sinne des § 1325 ABGB jede Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit und Unversehrtheit zu verstehen ist (1 Ob 282/00b; RIS‑Justiz RS0030792). Der Oberste Gerichtshof hat etwa auch das Abschneiden der Haare ohne Einwilligung als Körperverletzung im Sinne des § 1325 ABGB qualifiziert (6 Ob 246/74 = SZ 47/147), wenngleich dies nicht mit Schmerzen verbunden ist oder Einwirkung auf den allgemeinen Gesundheitszustand hat und die Wiederherstellung des früheren Zustands durch das Nachwachsen der Haare zu erwarten ist. Umso mehr muss auch der dauerhafte Verbleib einer abgebrochenen Schere nach einer Operation als Körperverletzung im Sinne des § 1325 ABGB betrachtet werden, zumal damit auch Spät‑ bzw Dauerfolgen verbunden sein können. Auch ärztliche Eingriffe sind nämlich Körperverletzungen, wenn sie negative Folgen zeitigen ( Danzl in KBB 4 § 1325 ABGB Rz 2). Eine äußerlich sichtbare Körperverletzung muss nicht vorliegen (RIS‑Justiz RS0030792).

5. Bei den Sorgen des Klägers und seiner Ungewissheit wegen der Existenz eines Fremdkörpers handelt es sich daher nicht um psychische Beeinträchtigungen, die bloß in Unbehagen und Unlustgefühlen bestehen, sondern vielmehr um die nachvollziehbaren seelischen Folgen einer Körperverletzung im Sinne des § 1325 ABGB. Entgegen der Ansicht des Zweitgerichts ist diese Ungewissheit unter dem Aspekt seelischer Schmerzen als Akzessorium einer Körperverletzung zu berücksichtigen (vgl RIS‑Justiz RS0030972). Der erkennende Senat erachtet hier zur Abgeltung des Unbills, das der Kläger zu erdulden hatte und in Zukunft noch zu erdulden haben wird, ein Schmerzengeld von insgesamt 5.000 EUR für angemessen.

6.1 Im Hinblick auf die Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen war auch die Kostenentscheidung neu zu fassen. Diese gründet sich auf §§ 43, 50 ZPO.

6.2 Wegen der Abhängigkeit des Leistungsbegehrens von der Feststellung durch richterliches Ermessen hat der Kläger in der ersten und dritten Instanz gemäß § 43 Abs 2 ZPO Anspruch auf Ersatz seiner gesamten Verfahrenskosten (ohne Streitgenossenzuschlag), wobei als Bemessungsgrundlage (unter Berücksichtigung des mit 500 EUR bewerteten Feststellungsbegehrens und der ersiegten Geldleistung von 5.000 EUR) der Betrag von 5.500 EUR heranzuziehen war.

6.3 Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens stützt sich auf § 43 Abs 1 ZPO iVm § 50 ZPO. Unter Berücksichtigung des letztendlich zugesprochenen Betrags von 5.000 EUR blieben die Berufungen beider Streitteile jeweils nur mit gerundet 10 % erfolgreich. Im Ergebnis ergibt sich aus dem Berufungsverfahren kein wechselseitiger Kostenersatz, weil die anteiligen Kosten des Klägers für seine Berufungsbeantwortung der Höhe nach den Kosten der zweitbeklagten Partei für deren Berufungsbeantwortung (mit einer etwas niedrigeren Bemessungsgrundlage) samt anteiligen Barauslagen entsprechen.

6.4 Gemäß § 70 ZPO ist die Verpflichtung der zweitbeklagten Partei zum Ersatz jener Pauschalgebühren auszusprechen, von deren Zahlung der Kläger wegen Verfahrenshilfe vorläufig befreit war.

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