OGH 4Ob20/18x

OGH4Ob20/18x20.2.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.‑Prof. Dr. Brenn, Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DI G***** K*****, vertreten durch Mag. Barbara Loipetsberger, Rechtsanwältin in Vöcklabruck als Verfahrenshelferin, gegen die beklagte Partei A***** B*****, vertreten durch Prof. Mag. Dieter Schnetzinger, Rechtsanwalt in Linz, wegen 12.500 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 2.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 6. März 2017, GZ 22 R 172/17a‑13, womit das Urteil des Bezirksgerichts Vöcklabruck vom 17. März 2017, GZ 55 C 346/16s‑9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0040OB00020.18X.0220.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

 

Begründung:

Die Beklagte spazierte im September 2013 mit ihrem 10 Monate alten und noch „verspielten“ französischen Hirtenhund der Rasse Briard zwischen zwei dörflichen Ortschaften und ließ ihn auf einer Wiese außerhalb des Ortsgebiets frei laufen. Der Kläger befand sich mit seinem Pudel neben einem angrenzenden Weg ca 200 m außerhalb des Ortsgebiets, als ihnen der Hund der Beklagten auf der Wiese entgegenlief, ohne sie zu attackieren oder zu berühren. Der Kläger fühlte sich bzw seinen Pudel durch das Heranlaufen des anderen Hundes irritiert und versuchte, den vermeintlichen Angriff dadurch abzuwehren, dass er seinen Hund in die Höhe hob. Bei seinen Abwehrbewegungen und dem Hochheben des zappelnden Pudels verlor er das Gleichgewicht, stürzte zu Boden und verletzte sich dabei.

Der Hund der Beklagten hatte damals eine Schulterhöhe von etwa 60–70 cm und ein Gewicht von 25 kg, während der Pudel des Klägers ca 11 kg wog. Abgesehen vom klagsgegenständlichen Vorfall wurden davor keine weiteren Vorfälle mit dem Hund der Beklagten festgestellt. Ihr Hund besuchte mit fünf Monaten die Welpenschule, bei der er auch die Welpenprüfung ablegte.

Der Kläger begehrt den Ersatz des ihm bisher entstandenen Schadens (Schmerzengeld, Kosten für Haushaltsführung, Spesen) von 12.500 EUR sA sowie die Feststellung, dass ihm die Beklagte für sämtliche Spät- und Dauerfolgen aus dem Unfall hafte. Der Kläger warf der Beklagten eine Vernachlässigung der Verwahrungspflicht ihres Hundes vor. Sie hätte ihren Hund aufgrund seines ungestümen Wesens und seiner Größe nicht ohne Leine auf einer öffentlichen Fläche herumlaufen lassen dürfen.

Die Beklagte bestritt im Anlassfall eine Leinenpflicht. Es sei für sie nicht vorhersehbar gewesen, dass der Kläger durch das bloße Hinlaufen ihres Hundes zu Sturz kommen und sich dadurch verletzen würde.

Das Erstgericht wies die Klage ab, weil es einen Sorgfaltsverstoß der Beklagten verneinte. Das freie Herumlaufen des Hundes der Beklagten sei unbedenklich gewesen, zumal sich dieser weder beim Anlassfall noch vorher angriffslustig benommen habe; er sei damals ein verspielter junger Hund gewesen. Der Kläger sei aus eigener Unaufmerksamkeit gestürzt, ohne umgerannt oder angesprungen worden zu sein.

Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge. Bei Spaziergängen im freien Gelände dürften Hundehalter ihre nicht bösartigen, folgsamen Hunde frei umherlaufen lassen. Eine Haftung des Tierhalters komme nur bei Erkennbarkeit einer Gefährdung von Personen in Frage, weil die Tierhalterhaftung keine Erfolgshaftung sei und daher auch nicht überspannt werden dürfe. Die Beklagte habe davon ausgehen können, dass sie ihren Hund bei einem Spaziergang im freien Gelände (auf einer Wiese außerhalb des Ortsgebiets) unangeleint laufen lassen dürfe, ohne dadurch andere Personen oder Tiere zu gefährden, auch wenn der Kläger zur gleichen Zeit mit seinem angeleinten Pudel in diesem Bereich entlang eines Weges unterwegs gewesen sei.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobene Revision des Klägers ist ungeachtet des – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – nachträglichen Zulassungsausspruchs des Berufungsgerichts nicht zulässig.

1. Das Maß der Sorgfaltspflichten bei Verwahrung und Beaufsichtigung durch den Tierhalter hängt immer von den Umständen des Einzelfalls ab und wirft daher in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage auf (RIS‑Justiz RS0030567 [T1]; RS0030157 [T10]). Welche Maßnahmen dabei im Einzelnen notwendig sind, richtet sich nach den dem Tierhalter bekannten oder erkennbaren Eigenschaften des Tieres und den jeweiligen Umständen (RIS‑Justiz RS0030058).

2. Dabei hat die Rechtsprechung folgende Grundsätze entwickelt:

Es ist die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer Schadenszufügung durch das Tier zu berücksichtigen (RIS‑Justiz RS0030024 [T12]). Konkret vorhersehbare Gefahren sind zu vermeiden (vgl auch RIS‑Justiz RS0027339 [T7]). Die Beweislast für die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt trifft den Tierhalter (RIS‑Justiz RS0105089), die Anforderungen dürfen dabei nicht soweit überspannt werden, dass das Halten von an und für sich ungefährlichen Haustieren unmöglich gemacht wird (RIS‑Justiz RS0030365, RS0029999, RS0030326). Grundsätzlich besteht kein allgemeiner Leinenzwang, sodass es der Verkehrsübung entspricht, gutmütige Hunde im freien Gelände unangeleint herumlaufen zu lassen (6 Ob 79/08y; 2 Ob 624/84 [Stadtwäldchen]). Im Gelände ist nur dann erhöhte Sorgfalt geboten, wenn besondere Gefahrenmomente für Personen bestehen (6 Ob 104/04v), wobei auch die Beherrschbarkeit des Tieres zu berücksichtigen ist (vgl 6 Ob 227/05h).

3. Das Berufungsgericht ist von diesen Grundsätzen ausgegangen und hat sie auf den konkreten Einzelfall angewendet. In seiner Beurteilung, dass die Beklagte weder wegen der konkreten Örtlichkeiten (Wiese im Freilandgebiet, vgl 1 Ob 57/02t), noch wegen des Naturells ihres Hundes auf besondere Gefahrenmomente schließen musste, weshalb das freie Herumlaufenlassen nicht sorgfaltswidrig gewesen sei, ist dem Berufungsgericht keine krasse Fehlbeurteilung unterlaufen, die vom Obersten Gerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit oder der Einzelfallgerechtigkeit korrigiert werden müsste. Damit liegt insoweit keine Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO vor.

4. Das Rechtsmittel zeigt auch nicht auf, dass die Vorinstanzen von der bisherigen Rechtsprechung abgewichen sind.

4.1 Die angefochtene Entscheidung ist mit dem Sachverhalt, der der Entscheidung 5 Ob 513/92 zugrundelag, nicht zu vergleichen, weil dort ein Vorfall im Stadtgebiet zu beurteilen war.

4.2 Auch ein Widerspruch zur Entscheidung 6 Ob 227/05h besteht nicht, weil der Oberste Gerichtshof dort eine Haftung wegen des fehlenden Blickkontakts bejahte, nicht aber eine allfällige Leinenpflicht.

4.3 In der Entscheidung 3 Ob 133/08t wurde die Haftung des Hundehalters wegen des behördlich angeordneten Leinenzwangs bejaht, weshalb sich der Kläger auch auf diese Entscheidung nicht berufen kann. Es ist unstrittig, dass im Anlassfall kein behördlich angeordneter Leinenzwang bestand.

5. Aufgrund des vertretbar verneinten Verstoßes von Verwahrungspflichten stellen sich die im Rechtsmittel aufgeworfenen Fragen zur Adäquanz und zum Rechtswidrigkeitszusammenhang nicht, sodass die Zulässigkeit der Revision auch darauf nicht gestützt werden kann.

6.1 Auch der Vorwurf eines sekundären Verfahrensmangels kann keine erhebliche Rechtsfrage begründen. Der Kläger vermisst die Feststellung, dass man den Hund der Beklagten aufgrund seines jungen Alters nicht immer zurückhalten konnte. Aufgrund der Aussage eines Zeugen hätten hier sogenannte „überschießende Feststellungen“ getroffen werden müssen.

6.2 Nach gesicherter Rechtsprechung setzen Feststellungsmängel voraus, dass bereits im Verfahren erster Instanz ein entsprechendes Tatsachenvorbringen erstattet wurde (RIS‑Justiz RS0053317 [T2]). Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts hat sich daran orientiert und ein entsprechendes Vorbringen des Klägers verneint. Ob im Hinblick auf den Inhalt der Prozessbehauptungen eine bestimmte Tatsache als vorgebracht anzusehen ist, ist aber eine Frage des Einzelfalls, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung keine erhebliche Bedeutung zukommt (RIS‑Justiz RS0042828).

6.3 Zudem hat der Oberste Gerichtshof bereits geklärt, dass aus der möglichen Berücksichtigung von überschießenden Feststellungen nicht der Schluss abgeleitet werden kann, das Erstgericht wäre verpflichtet gewesen, weitere, vom Klagevorbringen nicht gedeckte Feststellungen zu treffen. Es bedeutet demnach im Zivilprozess keinen Feststellungsmangel, wenn Feststellungen nicht getroffen werden, denen eine Behauptungsgrundlage fehlt (1 Ob 163/98x mwN = RIS‑Justiz RS0037972 [T12]).

7. Die gerügte Aktenwidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens wurden geprüft. Diese Rechtsmittelgründe liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

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