OGH 1Ob57/02t

OGH1Ob57/02t30.4.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer, Dr. Zechner und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Brigitte P*****, vertreten durch Dr. Peter Paul Wolf, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Helmut L*****, vertreten durch Mag. Dieter Ebner, Rechtsanwalt in Wien, wegen Leistung und Feststellung (Revisionsinteresse EUR 11.060,72) infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 16. Jänner 2002, GZ 12 R 153/01k-52, mit dem infolge Berufung beider Streitteile das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 19. April 2001, GZ 13 Cg 171/98g-42, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie unter Einschluss der bereits in Rechtskraft erwachsenen Teilabweisung insgesamt zu lauten haben:

"Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei EUR 24.055,68 (S 331.013,38) samt 4 % Zinsen seit 3. 4. 1997 zu zahlen, und es werde festgestellt, dass die beklagte Partei der klagenden Partei für sämtliche zukünftige Schäden aus dem Vorfall vom 31. 8. 1996 zur Gänze hafte, wird abgewiesen."

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit EUR 12.599,27 (darin EUR 1.791,51 Umsatzsteuer und EUR 1.850,22 Barauslagen) bestimmten Verfahrenskosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 31. 8. 1996 befand sich die Klägerin mit ihrer Riesenschnauzerhündin in der Grünanlage einer Wohnhausanlage. Da die Hündin folgsam war, war sie nicht angeleint und trug keinen Beißkorb. Die Klägerin ließ sie auch dann frei laufen, wenn andere Hunde "dabei waren". Als der Beklagte mit seinem Dobermannweibchen, das ebenfalls nicht angeleint war und keinen Beißkorb trug, dazukam, unterhielten sich die Streitteile miteinander, während die beiden Tiere in der Wiese herumtollten. Im Zuge dieses Herumstollens gerieten beide Hunde an die Klägerin und kamen in Kontakt mit deren rechtem Bein, das dabei verdreht wurde. Dabei erlitt die Klägerin eine schwere Knieverletzung und musste sich mehreren Operationen unterziehen.

Sie begehrte vom Beklagten Schmerzengeld, Verdienstentgang, Heilungskosten inklusive diverser Nebenspesen und Kosten für die notwendige Haushaltshilfe im Ausmaß von zuletzt S 331.013,38 sowie die Feststellung der Haftung für zukünftige Schäden. Sie brachte im Wesentlichen vor, der Beklagte habe seinen Hund nicht ausreichend verwahrt, weshalb es zu ihrer Verletzung gekommen sei. Auch wenn sie sich darauf eingelassen habe, dass die beiden jungen Hunde ohne Leine miteinander spielen, hafte der Beklagte; lediglich die Haftung des Beklagten für Verletzungen der Hunde selbst könnte dadurch ausgeschlossen sein. Die Klägerin habe sich in das Spiel der Hunde nicht eingemengt und daher nicht damit rechnen müssen, durch die spielenden Hunde verletzt zu werden.

Der Beklagte wendete dagegen im Wesentlichen ein, dass er seine Verwahrungspflicht keineswegs vernachlässigt habe. Die Klägerin habe mit ihrer Hündin bewusst einen Platz zum Spielen aufgesucht und dieser auch freien Lauf gelassen. Die beiden Hunde hätten einander schon seit längerer Zeit gekannt; sie seien während des Herumtollens von den Streitteilen ständig beaufsichtigt worden.

Das Erstgericht erkannte den Beklagten schuldig, der Klägerin S 127.198,89 samt 4 % Zinsen seit 3. 4. 1997 zu zahlen, und stellte fest, dass der Beklagte der Klägerin für sämtliche (zukünftigen) Schäden aus dem Vorfall vom 31. 8. 1996 zu 50 % hafte; das Mehrbegehren wurde abgewiesen. In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Auffassung, beide Streitteile hätten dadurch, dass sie die Hunde frei umherlaufen ließen, die Gefahr einer Verletzung der Klägerin und auch anderer Passanten geschaffen; solche Tiere bedürften infolge ihres dynamischen Wesens einer andauernden Beaufsichtigung. Im vorliegenden Fall sei beiden Streitteilen eine Vernachlässigung der Aufsicht sowie eine Verletzung der Verwahrungspflicht vorzuwerfen. Es sei ein Verschulden beider Tierhalter anzunehmen, die das Herumtollen der Tiere nicht nur in Kauf genommen, sondern sogar gewünscht hätten, um ihnen den entsprechenden Auslauf zu ermöglichen. Von einer Einlassungsfahrlässigkeit der Klägerin könne hingegen nicht gesprochen werden, würde dies doch bedeuten, dass "jeder Hundehalter sich bereits im Zustand einer Einlassungsfahrlässigkeit" befinde. Da beide die Tiere nicht ausreichend verwahrt und beaufsichtigt hätten, sei von gleichteiligem Verschulden auszugehen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung; es erklärte die ordentliche Revision für nicht zulässig. Das "Gewähren eines freien und unbeschränkten Auslaufs in einem Bereich, in dem sich potentiell gefährdete Personen oder Sachen befinden", stelle "einen Sorgfaltsverstoß dar, weil von unkontrollierten Tieren aufgrund des ihnen eigenen Wesens (innere Dynamik, lebhaftes Verhalten, Größe und Gewicht sowie allenfalls Einsatz des Gebisses) stets ein beträchtliches Gefährdungspotential ausgehe, welches Verwahrungsmaßnahmen" erfordere, "die diesen Gefahren entgegenwirken oder sie ausschließen". Die Sorgfaltspflicht des Hundehalters werde nicht überspannt, werde von ihm verlangt, dass er den frei laufenden und mit einem anderen Hund herumtollenden Hund wenigstens ständig im Blickfeld halte, um zumindest durch Zuruf auf das Verhalten des Hundes einwirken zu können. Die an den Verhältnissen des konkreten Einzelfalls zu orientierende Bestimmung der den Tierhalter treffenden Verwahrungspflichten unter Berücksichtigung der von größeren herumtollenden Hunden ausgehenden Gefahren führe zur Annahme eines Sorgfaltsverstoßes, der beiden Streitteilen anzulasten sei. Eine unterschiedliche Betrachtung beider Hunde unter dem Aspekt der von ihnen aufgrund der Größe, des Gewichts und ihres Wesens ausgehenden Gefährlichkeit sei nicht angebracht, weil es sich sowohl bei der Dobermannhündin des Beklagten als auch bei der Riesenschnauzerhündin der Klägerin um große Tiere gehandelt habe. Das Argument des Beklagten "in Richtung eines echten Handelns der Klägerin auf eigene Gefahr" schlage schon deshalb nicht durch, weil von einer Einwilligung in die Gefahr einer schweren Körperverletzung von vornherein nicht ausgegangen werden könne. Die in diesem Zusammenhang notwendige Abwägung zwischen den allgemeinen Interessen bzw den Interessen anderer Personen an der Teilnahme an einer "Veranstaltung" und dem Interesse an der körperlichen Integrität des Einzelnen führe im vorliegenden Fall dazu, dass das Interesse an der körperlichen Integrität, insbesondere unter dem Blickwinkel schwerer körperlicher Schäden, höher zu bewerten sei, als das Interesse an einer "freizügigen Bewegung" von Haustieren. Das Laufenlassen derartiger Hunde, ohne sich "in irgendeiner Weise näher zu kümmern", stelle jedenfalls eine Verletzung der den Tierhalter treffenden Aufsichts- und Verwahrungspflicht dar, und zwar auch dann, wenn beide beteiligten Hunde ihren Haltern als "gutmütig" und "ungefährlich" erschienen. Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil das Berufungsgericht den Grundsätzen höchstgerichtlicher Rechtsprechung gefolgt sei, deren Anwendung auf den Einzelfall in ihrer Bedeutung nicht über diesen hinausgehe.

Die außerordentliche Revision des Beklagten ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist. Sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Zutreffend weist der Revisionswerber darauf hin, dass der Oberste Gerichtshof bereits einen vergleichbaren Fall zu beurteilen hatte und dort eine Haftung des Hundehalters verneint hat (RZ 1985/28). In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte der beklagte Hundehalter - ebenso wie der dortige Kläger und andere Hundebesitzer - seinen Hund bei einem Spaziergang in einem Stadtwäldchen frei herumlaufen lassen. Die Gruppe von insgesamt vier Personen ging etwa 10 bis 15 Minuten gemeinsam. Im Zuge des spielerischen Umherlaufens der Hunde stieß der Hund des damaligen Beklagten gegen den damaligen Kläger, weshalb dieser stürzte und sich (schwer) verletzte.

Der Oberste Gerichtshof sprach aus, es sei der auch für den Kläger eindeutig erkennbare Zweck des Spaziergangs der Hundebesitzer gewesen, ihnen den nötigen Auslauf zu gewähren. Bei derartigen Spaziergängen entspreche es daher der Verkehrsübung, dass die Hundehalter ihre nicht bösartigen und folgsamen Tiere frei im Gelände umherlaufen lassen. Für den Beklagten habe daher keine Veranlassung bestanden, für eine besondere Verwahrung seines Hundes Sorge zu tragen, zumal auch der Kläger seinen Hund frei umherlaufen ließ. Für den Beklagten sei es nicht vorhersehbar gewesen, dass der frei umherlaufende Hund nicht nur auf einer Straße mit Fahrzeugverkehr Unfälle herbeiführen könne, sondern auch im Wald eine Gefahrenquelle für Fußgänger darstelle. Auch der Kläger habe offenbar nicht mit einer derartigen Gefahr gerechnet, weil er sich den anderen Hundebesitzern angeschlossen habe und ihm habe klar sein müssen, dass die Hunde umherlaufen werden. Eine Verpflichtung des Beklagten, seinen Hund an der Leine zu führen, habe daher im vorliegenden Fall nicht bestanden, weshalb dem Beklagten der ihm obliegende Beweis, für die erforderliche Verwahrung und Beaufsichtigung des Hundes im Sinne des § 1320 ABGB gesorgt zu haben, gelungen sei. Dem Argument, der Tierhalter habe das volle Risiko für die von ihm geschaffene Gefahr zu tragen, wobei eine Interessenabwägung nicht zugunsten des freien Auslaufes des Hundes, sondern zugunsten der körperlichen Unversehrtheit von Menschen vorzunehmen sei, wurde entgegengehalten, dass das Gesetz keine reine Erfolgshaftung des Tierhalters kenne. Erbringe der Tierhalter einen Beweis im Sinne des § 1320 ABGB, dann treffe ihn keine Haftung, auch wenn durch sein Tier jemand zu Schaden gekommen sei.

Diesen Ausführungen schließt sich der erkennende Senat an. § 1320 Satz 2 ABGB statuiert eine Haftung des Tierhalters, sofern dieser nicht beweist, dass er für die [im Einzelfall] erforderliche Verwahrung oder Beaufsichtigung gesorgt hat. Hervorzuheben ist, dass es nicht nur "der Verkehrsübung" entspricht, nicht bösartige und folgsame Tiere im Gelände - aber auch auf einer Wiese - frei umherlaufen zu lassen, sondern dass die "erforderliche Verwahrung und Beaufsichtigung" auch verschiedenen (potentiell gefährdeten) Personen gegenüber unterschiedlich zu beurteilen ist. Lassen Hundehalter ihre an sich gutmütigen Hunde im gegenseitigen Einverständnis frei laufen, um ihnen einerseits den Auslauf und andererseits das Umhertollen miteinander zu ermöglichen, so kann jeder der Hundehalter davon ausgehen, dass dem jeweils anderen die von den frei laufenden Hunden ausgehenden Gefahren grundsätzlich bekannt sind und er ihnen entsprechendes Augenmerk schenken wird. Ebenso gibt jeder einzelne Hundehalter dem (oder den) anderen gegenüber zu erkennen, dass er sich auf die mit dem gemeinsamen Umhertollen von Hunden üblicherweise verbundenen Gefahren einlässt, wenn er seinen eigenen Hund frei laufen lässt und auch erkennbar (wenn vielleicht auch nur stillschweigend) sein Einverständnis damit zum Ausdruck bringt, dass auch andere Hunde frei laufen und miteinander umhertollen.

Unter den hier zu beurteilenden Umständen kann daher nicht gesagt werden, dass der Beklagte gegenüber der Klägerin seine Pflicht, für die erforderliche Verwahrung oder Beaufsichtigung seines Hundes zu sorgen, verletzt habe, hat sich doch (nur) gerade jene Gefahr verwirklicht, die mit dem einverständlichen gemeinsamen Herumlaufen der beiden Hunde erkennbar verbunden war. Vor dieser Gefahr hätte sich die Klägerin aber durch entsprechende Aufmerksamkeit selbst schützen müssen. Den getroffenen Sachverhaltsfeststellungen lässt sich nicht entnehmen, dass der Beklagte in der konkreten Situation das Herannahen der beiden umhertollenden Hunde so rechtzeitig hätte erkennen können, dass es ihm noch möglich gewesen wäre, Maßnahmen zur Verhinderung eines Zusammenstoßes mit der Klägerin zu ergreifen.

Da dem Beklagten somit der Beweis gelungen ist, dass er für die unter den gegebenen Umständen erforderliche Verwahrung und Beaufsichtigung seines Hundes im Hinblick auf eine allfällige Gefährdung der Klägerin ausreichend gesorgt hat, sind die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinne einer vollständigen Klageabweisung abzuändern.

Gemäß § 40 Abs 1 und § 50 Abs 1 ZPO hat die vollständig unterlegene Klägerin dem Beklagten die Prozesskosten zu ersetzen. Für die Vertagungsbitte ON 8 steht jedoch gemäß § 48 Abs 1 ZPO kein Kostenersatz zu; die verzeichnete Sachverständigengebühr von S 3.800 wurde aus einem Vorschuss der klagenden Partei beglichen; für die Tagsatzung am 14. 12. 2000 sind die Vertretungskosten auf der (nach Klageeinschränkung) verminderten Bemessungsgrundlage zu berechnen.

Stichworte