European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0300DS00003.19Y.1017.000
Spruch:
In Stattgebung der Beschwerde wird der angefochtene Beschluss aufgehoben und der Antrag des Kammeranwalts auf Anordnung einer einstweiligen Maßnahme abgewiesen.
Gründe:
Mit dem angefochtenen Beschluss wurde dem Beschuldigten – über Antrag des Kammeranwalts – als einstweilige Maßnahme gemäß § 19 Abs 1 Z 1 und Abs 3 Z 1 lit b DSt das Vertretungsrecht in Strafsachen vor dem Bezirksgericht Ried im Innkreis, dem Landesgericht Ried im Innkreis, dem Oberlandesgericht Linz und dem Obersten Gerichtshof sowie in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vor der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis und der Oberstaatsanwaltschaft Linz entzogen, weil gegen ihn zu AZ ***** der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Begehung dem Vergehen des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1, Abs 2 StGB unterstellter Taten geführt wird.
Nach den Verdachtsannahmen soll er
a./ dazu beigetragen haben, dass Franz S***** seine Vorsorgevollmacht dazu nutzen konnte, um Johann J***** finanziell zu schädigen, indem er bei der Raiffeisenbank A***** eGen einen Kredit im Namen von J***** aufnahm, der mit einem Pfandrecht über 40.000 Euro sichergestellt werden sollte, obwohl Letzterer die Kreditvaluta nicht benötigte und auch nicht in der Lage war, den Abschluss des Kreditvertrags wie auch die hypothekarische Besicherung des Kredits zu begreifen, und
b./ durch Erstellung einer Löschungserklärung und Unterfertigung eines Liegenschaftskaufvertrags zwischen Petra W***** und der durch ihn als Bürgermeister vertretenen Marktgemeinde A***** dazu beigetragen haben, dass Petra W***** ihre Vorsorgevollmacht dazu nutzte, um zu versuchen, Maria W***** dadurch finanziell zu schädigen, dass das ob der Liegenschaft EZ ***** KG ***** A***** zugunsten der Vollmachtgeberin verbücherte Wohnungsrecht sowie das Recht auf Betreuung im Krankheits- und Gebrechlichkeitsfall gelöscht werden sollten, um einen lastenfreien Erwerb durch die genannte Marktgemeinde zu ermöglichen, obwohl die Vollmachtgeberin nicht in der Lage war, den Inhalt der Löschungserklärung zu begreifen.
Rechtliche Beurteilung
Gegen den Beschluss richtet sich die Beschwerde des Beschuldigten; sie ist im Recht.
Der Beschuldigte hatte am 2. Juli 2019 gegenüber dem Disziplinarrat die schriftliche Selbstverpflichtungserklärung abgegeben, wonach er „nicht anstehe, schriftlich definitiv zu bekunden, auch weiterhin keinerlei persönliche Strafverhandlungsverrichtungen und Verfahrensbegleitungen zu pflegen“, und „ausdrücklich erklärt, keinerlei Vertretung in Strafsachen vorzunehmen“.
Gemäß § 19 Abs 1 Z 1 DSt kann (zum Auswahlermessen s RIS-Justiz RS0125185) der Disziplinarrat gegen einen Rechtsanwalt einstweilige Maßnahmen beschließen, wenn gegen diesen als Beschuldigten oder Angeklagten ein Strafverfahren nach der StPO geführt wird (Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO10 § 19 DSt Rz 13 f; RIS-Justiz RS0104960). Eine einstweilige Maßnahme bildet ua die Entziehung des Vertretungsrechts vor bestimmten oder allen Gerichten, Staatsanwaltschaften oder Verwaltungsbehörden (Abs 3 Z 1 lit b leg cit). Für die Verhängung einer einstweiligen Maßnahme ist die Besorgnis schwerer Nachteile für die rechtsuchende Bevölkerung oder für das Ansehen des Anwaltsstands maßgebend (RIS-Justiz RS0078293). Schwere Nachteile für die Bevölkerung sind aufgrund eines eingeleiteten Strafverfahrens bereits mit der Möglichkeit gegeben, dass der vom Rechtsanwalt seinen Mandanten geschuldete umfassende Einsatz für Strafgerichte nicht mehr gewährleistet ist, wenn sich dieser selbst als Beschuldigter zu verantworten hat (RIS-Justiz RS0056752). Zudem ist es auch dem Ansehen des Standes abträglich, wenn ein Rechtsanwalt vor derselben Behörde einmal in eigener Sache als Beschuldigter und ein anderes Mal als Parteienvertreter agiert (RIS-Justiz RS0056745). Der Ausspruch einer einstweiligen Maßnahme muss in einem angemessenen Verhältnis zum Gewicht der angelasteten Tat, zum Grad des Verdachts und zum angestrebten Erfolg stehen und unter mehreren zur Auswahl stehenden Zwangsmaßnahmen das gelindeste zum Ziel führende Mittel bilden (§ 5 Abs 1 StPO iVm § 77 Abs 3 DSt; RIS-Justiz RS0117087 [T1]; Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO10 § 19 DSt Rz 3 und 10).
Von der Verhängung einer einstweiligen Maßnahme nach § 19 Abs 3 Z 1 lit b DSt kann bei Vorliegen einer vom Beschuldigten abgegebenen „Selbstverpflichtungserklärung“, bis zum rechtskräftigen Abschluss des gegen ihn anhängigen Strafverfahrens keine Vertretungstätigkeit vor den im Antrag des Kammeranwalts genannten Gerichten sowie allen ihnen beigeordneten Strafverfolgungsbehörden zu entfalten, abgesehen werden (RIS-Justiz RS0125185 [T1]; Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO10 § 19 DSt Rz 4; Feil/Wennig, Anwaltsrecht8 910).
Den Erwägungen des Disziplinarrats zuwider ist der Erklärung des Beschuldigten in seiner gemäß § 19 Abs 2 erster Satz DSt erstatteten Stellungnahme vom 2. Juli 2019 erkennbar eine „auf Dauer“ (jedenfalls aber bis zum rechtskräftigen Abschluss des Disziplinar- und justiziellen Strafverfahrens) wirksame „Selbstverpflichtungserklärung“, die sogar über die im angefochtenen Beschluss genannten, vom Ausschluss der Vertretungsbefugnis umfassten Gerichte und Strafverfolgungsbehörden hinausgeht, zu entnehmen. Deren – allenfalls erforderliche – Zustellung an (die betroffenen) Gerichte und Staatsanwaltschaften obliegt nicht dem Beschuldigten, sondern dem zuständigen Organ der Rechtsanwaltskammer (vgl Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO10 § 19 DSt Rz 4, 29 f).
Die Rolle des Obersten Gerichtshofs im Beschwerdeverfahren nach dem DSt (§§ 46, 56) ist nicht auf eine Rechtskontrolle des angefochtenen Beschlusses beschränkt, vielmehr stellt seine Entscheidung – sofern er die Beschwerde nicht als unzulässig zurückweist oder kassatorisch vorgeht – ein iudicium novum dar, das ohne Bindung an ein Neuerungsverbot oder das Beschwerdevorbringen ergeht (§ 89 Abs 2b StPO iVm § 77 Abs 3 DSt; vgl Ratz, WK-StPO Vor §§ 280–296a Rz 6/1). Dem Höchstgericht kommt daher – ebenso wie zuvor dem Disziplinarrat – das in § 19 DSt normierte Auswahlermessen zu.
Vorliegend bietet die Selbstverpflichtungserklärung in Zusammenhang mit dem Umstand, dass der Beschuldigte – nach seinen unbedenklichen Angaben – schon in der Vergangenheit keine Vertretungen in Strafsachen vorgenommen hat, und mit Blick darauf, dass die bisherige Aktenlage keine besondere Dringlichkeit des Tatverdachts ausweist, aus Sicht des Obersten Gerichtshofs eine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass die vom Kammeranwalt beantragte Maßnahme der Entziehung des Vertretungsrechts in Strafsachen vor bestimmten Gerichten und Behörden nicht erforderlich ist, um ein den angesprochenen Interessen der rechtsuchenden Bevölkerung und dem Ansehen des Standes abträgliches Verhalten des Beschuldigten hintanzuhalten. Daran vermögen die Umstände nichts zu ändern, dass die vom Beschuldigten abgegebene Erklärung keinen Widerrufsverzicht enthält und dass für einen Verstoß gegen sie eine weniger gravierende Strafdrohung (§ 16 Abs 1 DSt) besteht als für einen Suspensionsbruch (§ 17 DSt; vgl aber Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO10 § 17 DSt Rz 3/1).
Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben und der Antrag des Kammeranwalts abzuweisen.
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