European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E124603
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
1. Die außerordentliche Revision wird, soweit sie sich auf das verbundene Verfahren AZ 19 Cg 112/11h bezieht, gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
2. Soweit sich die „außerordentliche Revision“ auf das führende Verfahren AZ 19 Cg 36/12h bezieht, werden die Akten dem Erstgericht zurückgestellt.
Begründung:
Die klagende Partei begehrt in den verbundenen Verfahren Zahlung von 14.247,03 EUR sA (AZ 19 Cg 36/12h) und von 111.267,09 EUR sA (AZ 19 Cg 112/11h).
Das Erstgericht wies im zweiten Rechtsgang beide Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.
Dagegen richtet sich das undifferenziert als „außerordentliche Revision“ bezeichnete Rechtsmittel der klagenden Partei, welches das Erstgericht dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung vorlegte.
Rechtliche Beurteilung
Das Rechtsmittel erweist sich teilweise mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO als unzulässig, teilweise fehlt es (derzeit) an einer Entscheidungskompetenz des Obersten Gerichtshofs.
1. Verbundene Verfahren:
Bei Verbindung mehrerer Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung ist die Rechtsmittelzulässigkeit jeweils gesondert zu prüfen und zu beurteilen; die Streitgegenstände der verbundenen Verfahren sind und bleiben voneinander unabhängig. Das gilt auch für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels gegen die gemeinsame Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz (stRsp; vgl bereits 2 Ob 163/15g mwN zum Anlassfall). Die Zulässigkeit der „außerordentlichen Revision“ ist daher für das führende und das verbundene Verfahren gesondert zu prüfen.
2. Zum (verbundenen) Verfahren AZ 19 Cg 112/11h:
2.1 Die klagende Partei verfügt aus dem mit den beteiligten Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) abgeschlossenen Wagenverwendungsvertrag über keinen vertraglichen Anspruch gegen das beklagte Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU). Mögliche Anspruchsgrundlagen wären daher die Gefährdungshaftung nach dem EKHG oder die Verschuldenshaftung nach deliktischen Grundsätzen. Die beklagte Partei berief sich auf die für sie günstigeren Haftungsbestimmungen des Wagenverwendungsrechts (CUV iVm AVV), weil sich der Unfall im internationalen Eisenbahngüterverkehr ereignet habe. Diese letztgenannte Voraussetzung konnte im ersten Rechtsgang noch nicht abschließend beurteilt werden (2 Ob 18/16k SZ 2017/21 [in der Folge: Vorentscheidung]; vgl zu dieser auch Schellerer, Zu Struktur und Grundzügen des COTIF‑Haftungsrechts, ZVR 2018/249; Freise, Die komplizierten Haftungsbeziehungen zwischen Fahrzeughaltern, Eisenbahnverkehrsunternehmen und Eisenbahninfrastrukturunternehmen, TranspR 2017, 437).
2.2 Das Berufungsgericht bejahte im zweiten Rechtsgang das Vorliegen einer durchgehenden internationalen Beförderung iSv Art 1 CIM als Voraussetzung für die Anwendung der CUV (iVm AVV). Es habe sich um einen Gütertransport von Deutschland in die Türkei gehandelt, wofür ein einziger grenzüberschreitender Frachtbrief ausgestellt worden sei. Entscheidend sei die vertraglich vorgesehene Beförderung, nicht die tatsächliche Ausführung. Diese Beurteilung entspricht den rechtlichen Vorgaben der Vorentscheidung (Punkt 8.11 iVm 8.2 samt Hinweis auf 7 Ob 275/00t und Freise in MüKoHGB³ [2014] CIM Art 1 Rn 5 f).
Die klagende Partei stellt in ihrer Revision das Vorliegen eines einzigen Frachtbriefs auch gar nicht in Frage. Sie hält es jedoch im Gegensatz zum Berufungsgericht für entscheidend, dass das österreichische EVU (die Nebenintervenientin auf Seite der beklagten Partei) nur einen Teilstreckentransport im österreichischen Netz durchgeführt habe. Daher liege keine internationale Beförderung vor. Irgendeine Belegstelle zur Stütze dieser These vermag sie allerdings nicht anzuführen. Mit ihrer – auch von der zitierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abweichenden – Argumentation zeigt sie keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf. Ihre Ausführungen zu § 9 EKHG können aus diesem Grund auf sich beruhen.
2.3 Laut Vorentscheidung haftet das beklagte EIU gemäß Art 10 § 3 iVm Art 4 § 1 CUV und Art 22.1 AVV nur bei Verschulden, dessen Fehlen es zu beweisen hat (Punkt 8.10 iVm 8.7). Diese Haftung entspricht jener des Beförderers in Art 24 § 1 CIM (Verschulden mit umgekehrter Beweislast), wobei der Begriff des Verschuldens dem ergänzend anwendbaren nationalen Recht entnommen werden kann (Vorentscheidung Punkt 8.7).
Das Berufungsgericht hat sich bei seiner Entscheidung (auch) an dieser bindend vorgegebenen Rechtsansicht orientiert. Der in der Revision erhobene Vorwurf, es habe einen unrichtigen Haftungsmaßstab angewendet, richtigerweise hätte die beklagte Partei die äußerste, nach den Umständen des Falls mögliche und vernünftige Sorgfalt anwenden müssen, geht fehl: Die von der klagenden Partei dazu zitierte Lehre und Rechtsprechung bezieht sich auf den vierten Haftungsausschlussgrund des Art 17 Abs 2 CMR (vgl RIS‑Justiz RS0029824), der seinerseits dem vierten Haftungsausschlussgrund des Art 23 § 2 CIM und dem ersten Haftungsausschlussgrund des Art 22.2 AVV, nicht jedoch der Haftungsregel des Art 24 § 1 CIM und somit auch nicht jener des hier maßgeblichen Art 4 § 1 CUV iVm Art 22.1 AVV entspricht. Den letztgenannten Regelungen ist gemeinsam, dass der strenge Haftungsmaßstab des Transportrechts auf Schäden an Wagen – sei es als Gut (CIM), sei es als Beförderungsmittel (CUV/AVV) – nicht anwendbar ist. Daher wurde schon in der Vorentscheidung ausdrücklich festgehalten, dass die beklagte Partei im Anwendungsbereich der CUV den strengen Entlastungsbeweis des Transportrechts nicht zu erbringen hat (Punkt 9; vgl überdies Schütz in Straube/Ratka/Rauter, UGB I4 Art 24 CIM Rz 2, der auf das Fehlen besonderer Sorgfaltspflichten wie in Art 23 CIM verweist und den Sorgfaltsmaßstab eines ordentlichen Frachtführers für maßgeblich hält).
2.4 Die Beweislastumkehr in Bezug auf das Verschulden (Art 4 § 1 CUV) ändert zudem nichts daran, dass bei der hier in Frage kommenden Verletzung eines Schutzgesetzes iSd § 1311 ABGB zunächst der Geschädigte neben dem Schaden den vom Schutzgesetz erfassten Tatbestand – also die objektive Übertretung der Schutznorm – zu beweisen hat (vgl 2 Ob 243/16y [zu § 19 Abs 1 EisbG]; RIS‑Justiz RS0112234). Dieser Beweis ist der klagenden Partei nach Auffassung des Berufungsgerichts misslungen. Auch diese Beurteilung steht mit der Rechtslage im Einklang und wirft keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:
(a) Die klagende Partei lässt die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass der interne Dienstbehelf IS2 nicht als Schutzgesetz zu werten sei, in ihrer Revision unbekämpft. Sie befasst sich auch nicht mit der Frage, ob und warum sich aus dem Dienstbehelf allenfalls dennoch Handlungspflichten der beklagten Partei zugunsten der Benutzer der Infrastruktur ableiten lassen könnten (vgl Punkt 10.1.d der Vorentscheidung).
(b) Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der Vorentscheidung klargestellt, dass den technischen Empfehlungen des Berichts ORE B55 grundsätzlich kein normativer Charakter zukommt und ihre Vernachlässigung per se kein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten begründet. In ihrer Berufung hat sich die klagende Partei (mit Ausnahme ihrer nicht mehr relevanten Ausführungen zu § 9 EKHG; vgl Punkt 10.1.g der Vorentscheidung) auf eine haftungsbegründende Überschreitung der im Bericht ORE B55 festgelegten Grenzwerte – auch im Zusammenhang mit den von ihr behaupteten Verstößen gegen die Eisenbahnverordnung 2003 (EisbVO) – nicht mehr gestützt. Nach ständiger Rechtsprechung können aber, wenn eine Rechtsrüge in der Berufung nur zu bestimmten Punkten ausgeführt wurde, andere Punkte in der Revision nicht mehr geltend gemacht werden. Sie können auch die Zulässigkeit der Revision nicht begründen (2 Ob 74/18y mwN; vgl auch RIS‑Justiz RS0043573 [T31, T36, T41, T42]).
(c) Davon abgesehen geben die in der Revision als Schutzgesetze qualifizierten eisenbahnrechtlichen Vorschriften (in der zum Unfallszeitpunkt geltenden Fassung; die Eisenbahnbau- und -betriebsverordnung – EisbBBV trat erst nach dem Unfall in Kraft) keine Auskunft darüber, auf welche Weise sie zu erfüllen sind (vgl 2 Ob 243/16y). Konkrete Anordnungen, aufgrund welcher technischer Bestimmungen die „Betriebssicherheit“ (§ 5 Abs 3 EisbVO), eine „sichere und ordnungsgemäße Betriebsführung“ (§ 6 Abs 1 EisbVO), die „Betriebssicherheit und Verfügbarkeit“ (§ 21 Abs 1 EisbVO), „gefährdete Stellen“ (§ 21 Abs 2 EisbVO) oder das Erfordernis von Dienstanweisungen (§ 8 Abs 1 EisbVO) beurteilt werden müssten, werden in ihnen nicht genannt. Auch darauf hat schon das Berufungsgericht verwiesen.
(d) Das Berufungsgericht hat bei seiner Auslegung der genannten Vorschriften nachvollziehbar begründet, warum es zur Bestimmung des Stands der Technik (§ 9b EisbG) die – von der beklagten Partei eingehaltenen – Grenzwerte der TSI (Technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystems „Infrastruktur“ des transeuropäischen Hochgeschwindigkeitsbahnsystems) für maßgeblich hält. Dem setzt die klagende Partei, soweit noch beachtlich, nur die nicht näher begründete Behauptung entgegen, dass die „TSI‑Bestimmungen“ zum Unfallszeitpunkt gar nicht anwendbar gewesen seien, weil diese für „derartige Strecken“ erst mit dem Beschluss der Kommission vom 26. 4. 2011 über die technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystems „Energie“ des konventionellen europäischen Eisenbahnsystems relevant geworden wären. Auch mit diesem den erstinstanzlichen Feststellungen widersprechenden, gänzlich unsubstanziierten Revisionsvorbringen vermag sie keine Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts aufzuzeigen, die ein korrigierendes Einschreiten des Obersten Gerichtshofs erforderlich machen würde.
2.5 Da keine erheblichen Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO zu beantworten sind, ist die außerordentliche Revision zurückzuweisen.
3. Zum (führenden) Verfahren AZ 19 Cg 36/12h:
3.1 Die Zulässigkeit der Revision richtet sich insoweit nach § 502 Abs 3 ZPO, weil der Entscheidungsgegenstand des Berufungsgerichts an Geld (14.247,03 EUR sA) zwar 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR überstieg und das Berufungsgericht – wie ausgeführt – die ordentliche Revision nach § 500 Abs 2 Z 3 ZPO für nicht zulässig erklärt hat.
3.2 Unter diesen Voraussetzungen steht der klagenden Partei nur die Möglichkeit offen, nach § 508 Abs 1 ZPO einen mit einer ordentlichen Revision verbundenen Antrag auf Abänderung des Zulässigkeitsausspruchs an das Berufungsgericht zu stellen. Dieser Antrag – verbunden mit dem ordentlichen Rechtsmittel – ist beim Prozessgericht erster Instanz einzubringen und gemäß § 508 Abs 3 und 4 ZPO vom Rechtsmittelgericht zu behandeln.
3.3 Das Erstgericht wird daher das Rechtsmittel bezüglich jener Teile, die sich auf das führende Verfahren beziehen, gemäß § 507b Abs 2 ZPO dem Berufungsgericht vorzulegen haben. Ob der Schriftsatz insoweit den Erfordernissen des § 508 Abs 1 ZPO entspricht oder ob er einer Verbesserung bedarf, bleibt der Beurteilung der Vorinstanzen vorbehalten.
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