European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00021.20G.0429.000
Spruch:
Beide Revisionen werden zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig der beklagten Partei die mit 391,38 EUR (darin enthalten 65,23 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
Am 9. 9. 2016 ereignete sich auf der B17 in Wiener Neudorf auf Höhe der Kreuzung mit der Mühlgasse bzw der Parkstraße ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Fußgängerin und ein 2,55 m breites und ca 17 m langes Sattelkraftfahrzeug mit rumänischem Kennzeichen beteiligt waren.
Aus Sicht des Lenkers dieses Fahrzeugs mündet die Mühlgasse vor der Brücke über den Mödlingbach von rechts in die B17 ein. Fahrzeuglenker, die aus der Mühlgasse kommend in die Kreuzung einfahren wollen, müssen zunächst einen unbeschrankten Bahnübergang überqueren, ehe sie zu einer den Fahrbahnrand der B17 markierenden Begrenzungslinie gelangen. Vor dem Bahnübergang ist eine Stoptafel angebracht. Eine für Fußgänger bestimmte Verkehrsfläche ist in diesem Bereich nicht vorhanden. Allerdings befindet sich zwischen der Mühlgasse und dem parallel zu dieser verlaufenden Mödlingbach neben dem Bachbett eine als Gehweg gekennzeichnete Unterführung mit einer Breite von gut 1 m, auf der die Gleisanlage und die Fahrbahn der B17 unterquert werden kann.
Die Klägerin fuhr mit dem Fahrrad in der Mühlgasse auf die Kreuzung zu, passierte den Bahnübergang und wollte die B17 geradeaus in Richtung Parkgasse überqueren. Sie entschied sich damals gegen die rechts von ihr gelegene Unterführung, die sie bereits mehrmals benutzt hatte, weil sie sich dort wegen teils mit hoher Geschwindigkeit fahrender Radfahrer nicht sicher fühlte. Stattdessen fuhr die Klägerin bis zum Fahrbahnrand der B17 vor und stieg dort vom Fahrrad ab. Das Sattelkraftfahrzeug befand sich zu diesem Zeitpunkt auf der B17 aufgrund einer Rotlicht zeigenden Ampel hinter mehreren anderen Kraftfahrzeugen im Stillstand, wobei der Abstand zum nächsten vor ihm stehenden Fahrzeug 1,5 m betrug. Das Sattelzugfahrzeug verfügte über einen Frontspiegel, mit dem vom Fahrersitz aus der Bereich unmittelbar vor der Fahrzeugfront eingesehen werden konnte.
Die Klägerin begann, ihr Fahrrad schiebend, mit einem Abstand von 0,5 m zur Vorderseite des Zugfahrzeugs die Fahrbahn zu überqueren. Dabei wäre sie für den Fahrzeuglenker nur bei einem Blick in den Frontspiegel sichtbar gewesen, es bestand keine unmittelbare Sicht. Dass vor dem Betreten der Fahrbahn der B17 ein Blickkontakt zwischen der Klägerin und dem Lenker stattgefunden hätte, konnte nicht festgestellt werden. Die Klägerin blieb in der Mitte der Fahrbahn stehen. Da in der Gegenrichtung gerade PKWs (an‑)fuhren, trat sie so weit zurück, dass die Vorderseite ihres Fahrrads nicht in die Gegenfahrbahn hineinragte. Die Klägerin blieb in dieser Position für einen Moment stehen, als sich das Sattelkraftfahrzeug in Bewegung setzte, ohne dass dessen Lenker zuvor einen Blick in den Frontspiegel geworfen hätte. Hätte er dies getan, hätte er die Klägerin gesehen. Das Zugfahrzeug überrollte mit dem linken Vorderrad die Klägerin, wodurch diese schwere Verletzungen erlitt.
Die Klägerin begehrt 27.346,66 EUR sA an Schadenersatz und die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle künftigen Schäden im Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall, beschränkt auf die zum Unfallstag geltenden gesetzlichen Haftungsbeträge. Das Alleinverschulden am Verkehrsunfall treffe den Lenker des Sattelkraftfahrzeugs. Dieser sei losgefahren, ohne in den Frontspiegel zu blicken, weshalb er die Klägerin übersehen habe. Sie habe die Benutzung der Unterführung zu Recht gemieden, da diese auf Grund ihrer „Ungeregeltheit“ zu gefährlich gewesen sei.
Die Beklagte legte der Klägerin das Alleinverschulden zur Last. Sie habe die Bundesstraße an völlig ungeeigneter Stelle und so knapp vor dem Sattelkraftfahrzeug gequert, dass dessen Lenker sie zu keiner Zeit habe sehen können. Sie wäre verpflichtet gewesen, die vorhandene Radfahr- und Fußgängerunterführung zu benützen.
Das Erstgericht erkannte mit Teilzwischenurteil das Leistungsbegehren als dem Grunde nach zur Hälfte zu Recht bestehend. Der Lenker des Sattelkraftfahrzeugs sei verpflichtet gewesen, sich durch einen Blick in den Frontspiegel zu vergewissern, dass das Losfahren ohne Gefährdung von Menschen möglich sei. Die Klägerin habe die Fahrbahn, ihr Fahrrad neben sich schiebend, als Fußgängerin überqueren wollen. Sie habe damit gegen die in § 76 Abs 6 StVO normierte Verpflichtung verstoßen, die für diese Kreuzung geschaffene Unterführung zum Queren der Straße zu benützen. Die beiden Unfallbeteiligten treffe ein gleichteiliges Verschulden.
Gegen dieses Urteil erhoben beide Parteien Berufung, die Beklagte jedoch nur insoweit, als das Erstgericht seiner Entscheidung nicht eine Verschuldensteilung von 3 : 1 zu Lasten der Klägerin zugrunde legte.
Das Berufungsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.
Zur Berufung der Klägerin führte es aus, nach dem einen integrierenden Bestandteil des erstinstanzlichen Urteils bildenden maßstabgetreuen Plan stehe fest, dass die als Gehweg gekennzeichnete Unterführung jedenfalls weniger als 25 m von der Überquerungsstelle entfernt liege. Damit sei der Beklagten der Beweis gelungen, dass die Klägerin die Schutznorm des § 76 Abs 6 StVO objektiv übertreten habe. Hingegen habe die für ihr mangelndes Verschulden beweispflichtige Klägerin in erster Instanz die Unzumutbarkeit der Benützung der Unterführung nur mit deren „Ungeregeltheit“ begründet. Mit ihrer in der Berufung erstmals aufgestellten Behauptung, der Eingang zur Unterführung sei rund 100 m entfernt gewesen, verstoße sie daher gegen das Neuerungsverbot, sodass darauf nicht weiter einzugehen sei. Der Klägerin sei daher ein Verstoß gegen § 76 Abs 6 StVO zur Last zu legen. Stelle man dem die Verletzung der Verpflichtung des Lenkers des Sattelkraftfahrzeugs, beim Losfahren die gesamte Fahrbahn zu beobachten, gegenüber, sei die Schadensteilung des Erstgerichts unbedenklich, weshalb auch die Berufung der Beklagten erfolglos bleibe.
Die ordentliche Revision sei mangels Rechtsprechung zur Frage zuzulassen, ob nach § 76 Abs 6 StVO auch der „Einstieg/Abgang“ zu einer Unterführung innerhalb von 25 m zu liegen habe, damit diese benützt werden müsse, und wofür die die Verletzung des Schutzgesetzes behauptende Partei beweispflichtig sei.
Gegen diese Entscheidung richten sich die Revisionen beider Parteien . Die Klägerin beantragt, dem Leistungsbegehren dem Grunde nach zur Gänze, die Beklagte, ihm nur mit einem Viertel stattzugeben.
Die Klägerin bringt zusammengefasst vor, ein Verstoß ihrerseits gegen § 76 Abs 6 StVO liege aufgrund der Entfernung des Abgangs zur Unterführung von mehr als 25 m nicht vor; die Beklagte legt dar, dass angesichts der vergleichbaren Entscheidung 2 Ob 169/16s dem Lenker des Sattelkraftfahrzeugs nur ein Mitverschulden von einem Viertel anzulasten sei.
Beide Revisionen sind – entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) – nicht zulässig. Weder in der zweitinstanzlichen Zulassungsbegründung noch in den Revisionen wird eine erhebliche, für die Entscheidung auch präjudizielle Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO geltend gemacht:
Rechtliche Beurteilung
1. Zur Revision der Klägerin:
1.1 Auch ohne Vorhandensein einer Einrichtung iSd § 76 Abs 6 Satz 1 StVO in einer Entfernung von mindestens 25 m dürfen Fußgänger nach § 76 Abs 4 lit b StVO die Fahrbahn erst dann betreten, wenn sie sich vergewissert haben, dass sie hiebei andere Straßenbenützer nicht gefährden. Jeder Fußgänger muss daher vor dem Überqueren der Fahrbahn sorgfältig prüfen, ob er die Fahrbahn noch vor dem Herankommen von Kraftfahrzeugen mit Sicherheit überschreiten kann (RS0075656). Lässt die Verkehrslage das Betreten der Fahrbahn zu, hat der Fußgänger diese sodann in angemessener Eile zu überqueren (RS0075672). Er hat den kürzesten Weg zu wählen und darauf zu achten, dass der Fahrzeugverkehr nicht behindert wird (2 Ob 140/16a mwN; 2 Ob 193/19z).
1.2 Nach ständiger Rechtsprechung muss sich jeder Fußgänger beim Überqueren einer „breiten“ Fahrbahn bei Erreichen ihrer Mitte vergewissern, ob sich nicht von seiner rechten Seite ein Fahrzeug nähert; er muss stehen bleiben, wenn ein Fahrzeug schon so nahe ist, dass er die Fahrbahn nicht mehr vor diesem gefahrlos überschreiten kann (RS0075648, RS0075656). Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn der Fußgänger die rechte Seite vor Erreichen der Fahrbahnmitte wegen angehaltener Fahrzeuge nicht ausreichend einsehen kann (2 Ob 44/08x). Der Fußgänger darf aber selbst dann nicht so stehen bleiben, dass er einen wesentlichen Teil des noch für den von links kommenden Verkehr bestimmten Fahrbahnteils blockiert (2 Ob 58/88).
1.3 Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin in dem ihr nächstgelegenen Fahrstreifen eine angehaltene Kolonne vor sich, mit deren Anfahren sie jederzeit rechnen musste. Ob sie beim Betreten der Fahrbahn angesichts der Kolonne Sicht auf die Gegenfahrbahn der zu überquerenden Straße hatte, steht zwar nicht fest. Allerdings musste ihr klar sein, dass ein im Sinne der zitierten Rechtsprechung rechtskonformes Stehenbleiben in der Fahrbahnmitte schon aufgrund des von ihr geschobenen Fahrrads nicht möglich sein würde. Unter diesen Umständen hätte sie die Fahrbahn der B17 nicht betreten dürfen.
1.4 Der Klägerin ist daher jedenfalls ein Verstoß gegen § 76 Abs 4 lit b StVO anzulasten, der bereits das von den Vorinstanzen angenommene Mitverschulden rechtfertigt (2 Ob 58/88). Damit fehlt es aber der als erheblich angesehenen Rechtsfrage zu § 76 Abs 6 StVO an der für die Zulässigkeit des Rechtsmittels erforderlichen Präjudizialität (RS0088931).
1.5 Die Revision der Klägerin ist deshalb zurückzuweisen.
2. Zur Revision der Beklagten:
2.1 Einziges Argument der Beklagten für eine für sie günstigere Verschuldensteilung ist die Entscheidung 2 Ob 169/16s. Die für den damaligen Anlassfall getroffene Verschuldensteilung im Verhältnis von 3 : 1 beruhte jedoch auf der Abwägung zwischen einem nicht erfolgten Blick in den Frontspiegel eines LKW und einer groben Vorrangverletzung bzw einem ebensolchen groben Verstoß gegen § 11 StVO. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass diese Entscheidungsgrundlagen mit dem hier vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar sind, begegnet keinen Bedenken. Denn ein Verstoß gegen die gesetzlichen Bestimmungen über den Vorrang wiegt wegen der besonderen Wichtigkeit für die Verkehrssicherheit – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – stets schwerer als andere Verkehrswidrigkeiten (RS0026775 [T6, T20]).
Zwar wurde auch in der Entscheidung 2 Ob 58/88 (vgl Punkt 1.2) das Verkehrsverhalten des Fußgängers als „gravierender Verkehrsverstoß“ gewertet. Dort hatte der Fußgänger allerdings aus Unachtsamkeit ein mit hoher (überhöhter) Geschwindigkeit von links herannahendes Fahrzeug übersehen, während die Klägerin im vorliegenden Fall die Situation (bloß) falsch einschätzte und vom Anfahren des zunächst im Stillstand befindlichen Sattelkraftfahrzeugs überrascht worden ist.
2.2 Die Frage, ob eine bestimmte Verschuldensteilung durch die Vorinstanzen angemessen ist und daher das Ausmaß eines Mitverschuldens des Geschädigten ausreichend berücksichtigt wurde, ist eine einzelfallbezogene Ermessensentscheidung, bei der im Allgemeinen keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zu lösen ist (RS0087606; RS0042405 [T15]).
Maßgeblich ist bei der Verschuldensabwägung vor allem die Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten bewirkten Gefahr und die Wichtigkeit der verletzten Vorschrift für die Sicherheit des Verkehrs (RS0027389) sowie der Grad der Fahrlässigkeit (RS0027466). Hingegen kommt es auf eine bloß zahlenmäßige Gegenüberstellung einzelner Verstöße der an einem Unfall beteiligten Personen nicht an (RS0027312). Unter Berücksichtigung dieser Kriterien wirft die Annahme gleichteiligen Verschuldens durch das Berufungsgericht unabhängig davon, ob der Klägerin ein Verstoß gegen § 76 Abs 6 StVO und/oder ein solcher nach § 76 Abs 4 lit b StVO zur Last liegt, keine erhebliche Rechtsfrage auf.
2.3 Auch die Revision der Beklagten ist daher zurückzuweisen.
3. Kosten:
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO. Da beide Parteien in ihren Revisionsbeantwortungen auf die Unzulässigkeit des jeweils gegnerischen Rechtsmittels hingewiesen haben, dienten ihre Schriftsätze jeweils der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung. Die in der Revisionsbeantwortung der Klägerin überhöht verzeichneten Kosten waren auf Basis des Revisionsinteresses der Beklagten zu berechnen und mit dem höheren Ersatzanspruch der Beklagten zu saldieren.
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