OGH 2Ob177/21z

OGH2Ob177/21z25.11.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Musger und Dr. Nowotny, die Hofrätin Mag. Malesich sowie den Hofrat MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J* B*, vertreten durch Kölly Anwälte OG in Oberpullendorf, gegen die beklagte Partei Marktgemeinde B*, vertreten durch Dr. Hans Peter Sauerzopf et al, Rechtsanwälte in Eisenstadt, und die Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei B* GmbH, *, vertreten durch Mag. Patrick Mandl, Rechtsanwalt in Wien, wegen 10.595 EUR sA und Feststellung (Streitwert 500 EUR), über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 7.120,33 EUR sA) gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Berufungsgericht vom 17. Mai 2021, GZ 18 R 13/21x‑41, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichts Wiener Neustadtvom 13. November 2020, GZ 2 C 42/19h‑37, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00177.21Z.1125.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 626,52 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin enthalten 104,42 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger kam am 15. 8. 2018 gegen 11:30 Uhr auf einer Gemeindestraße, deren Halterin die Beklagte ist, in einer in Fahrtrichtung mit einer Steigung von 11 bis 12 % bergauf führenden Rechtskurve mit seinem Motorrad mit einer Geschwindigkeit von 57 bis 65 km/h zu Sturz und erlitt Verletzungen. Die Nebenintervenientin hatte zuvor Sanierungsarbeiten im späteren Unfallbereich durchgeführt und in deren Zug am 31. 7. 2018 Rollsplitt ausgebracht, der in der Folge durch den Verkehr „eingewalzt“ werden sollte. Am 15. 8. 2021 war der Rollsplitt im Unfallbereich wegen eines zuvor niedergegangenen Gewitters und des Gefälles „zusammengeschoben“. Während der Bauarbeiten galt eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h, danach – also auch zum Unfallzeitpunkt – eine solche auf 50 km/h (§ 52 lit a Z 10a StVO). Bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 50 km/h wäre das Kurvenmanöver leichter zu beherrschen gewesen, allerdings ist ein „fahrdynamischer Grenzzustand“ auch bei dieser Geschwindigkeit nicht auszuschließen. Noch vor dem 15. 8. 2018 veranlasste die Beklagte die Aufstellung eines Dreieckständers mit dem Gefahrenzeichen „Achtung Baustelle“ (§ 50 Z 9 StVO) und der Zusatztafel „Rollsplitt“; dieser war jedoch nicht zusätzlich befestigt oder etwa mit Steinen beschwert. Mitarbeiter der beklagten Gemeinde oder deren Bürgermeister kontrollierten täglich – so auch am 15. 8. 2018 „in der Früh“ – die Beschilderung entlang der Straße. „Wahrscheinlich“ zwischen der Kontrollfahrt und dem Unfall fiel der Dreieckständer aus ungeklärter Ursache um. Der Kläger konnte aufgrund der wechselnden Lichtverhältnisse den Rollsplitt auf der Straße ebensowenig wahrnehmen wie den umgefallenen Dreieckständer.

[2] Der Kläger begehrt die Zahlung von 10.595 EUR sA unter anderem an Schmerzengeld und die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden. Die Beklagte hafte als Straßenhalterin gemäß § 1319a ABGB wegen grober Fahrlässigkeit, weil sie weder eine angemessene Geschwindigkeitsbeschränkung verordnet noch ein Gefahrenzeichen aufgestellt habe, um auf die durch den Rollsplitt veränderten Straßenverhältnisse hinzuweisen. Auch bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 50 km/h wäre an der Unfallstelle bei einer entsprechend ungünstigen Konstellation der Schotteranhäufung ein fahrdynamischer Grenzzustand erreicht worden. Der Kläger habe wegen des umgefallenen Gefahrenzeichens den Gefährdungsgrad der Strecke nicht erkennen können.

[3] Die Beklagte bestreitet das Vorliegen grober Fahrlässigkeit. Dass Arbeiten im Unfallbereich erfolgt seien, sei erkennbar gewesen. Die Beklagte habe ohnehin ein Gefahrenzeichen aufgestellt, das allerdings offenkundig kurz vor dem Unfall umgefallen sei. Die von der Beklagten für die Belagsarbeiten beigezogene Nebenintervenientin, auf deren Expertise sich die Beklagte verlassen habe, habe die Aufstellung einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf weniger als 50 km/h nicht für notwendig erachtet. Die Unfallstelle sei von Mitarbeitern der Beklagten oder deren Bürgermeister täglich kontrolliert worden. Der Kläger habe eine weit überhöhte Geschwindigkeit eingehalten.

[4] Die Nebenintervenientin schließt sich im Wesentlichen dem Vorbringen der Beklagten an.

[5] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit 6.787 EUR sA und dem Feststellungsbegehren im Ausmaß von zwei Dritteln statt. Das Mehrbegehren auf Zahlung weiterer 3.808 EUR sA und das Feststellungsmehrbegehren wies es unbekämpft ab. Die Beklagte hafte als Wegehalterin nach § 1319a ABGB, weil sie das aufgestellte Gefahrenzeichen ungeachtet täglicher Kontrollen nicht gegen Umfallen abgesichert habe, obwohl dies aufgrund des „unsteten Untergrunds“ und des großen Gefälles geboten und leicht möglich gewesen wäre. Die Beklagte hätte auch die Verordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h veranlassen müssen und habe daher insgesamt grob fahrlässig gehandelt. Dem Kläger sei die geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitung als Mitverschulden im Ausmaß eines Drittels anzulasten.

[6] Das Berufungsgericht wies über Berufung der Beklagten das gesamte Klagebegehren ab. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht jedoch 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision zulässig sei. Die Gefahrenstelle sei durch ein täglich kontrolliertes Gefahrenzeichen grundsätzlich abgesichert gewesen; vor diesem Hintergrund könne im Umfallen des Verkehrszeichens allein keine grobe Fahrlässigkeit erblickt werden, zumal Hinweise auf ein wackeliges Stehen des Dreieckständers fehlten. Auch die fehlende Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h sei nicht grob fahrlässig, weil ohnehin eine für „Freilandverhältnisse“ restriktive Beschränkung auf 50 km/h gegolten habe und bei deren Einhaltung ein gefahrloses Durchfahren der Kurve möglich gewesen wäre.

[7] Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zur Frage der Notwendigkeit des zusätzlichen Absicherns eines üblichen Dreieckständers keine aktuelle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

[8] Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Urteils des Erstgerichts; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

[10] Die Nebenintervenientin beteiligt sich nicht am Revisionsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

[11] Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision nicht zulässig, weil keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zu beantworten ist.

[12] 1. Dass Rechtsprechung zu einem (genau) vergleichbaren Sachverhalt fehlt, begründet noch nicht das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage (RS0122015 [T4]).

[13] 2. Nach § 1319a Abs 1 Satz 1 ABGB haftet der Halter eines Weges den Benützern, wenn durch seinen mangelhaften Zustand ein Schaden herbeigeführt wird und dem Halter selbst oder seinen Leuten grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorzuwerfen ist.

[14] 3. Im Allgemeinen ist grobe Fahrlässigkeit anzunehmen, wenn der Halter die Gefährlichkeit einer bestimmten Stelle des Weges kannte und eine zumutbare Behebung unterblieb (2 Ob 16/21y mwN; RS0030171 [T4]). Der Begriff erfordert, dass ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß bei Überlegung aller Umstände des konkreten Einzelfalls auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (2 Ob 180/20i mwN; RS0030171 [T2]). Die Beurteilung eines konkreten Verhaltens als grob fahrlässig stellt regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage dar (RS0030171 [T7, T11]).

[15] 4. Zur Instandhaltung der Straße gehört die Kenntlichmachung einer Gefahrenstelle durch Aufstellen von Gefahrenzeichen, wozu der Straßenerhalter nach § 98 Abs 3 StVO auch ohne behördlichen Auftrag berechtigt ist. Dazu gehören jedenfalls die Straßenverkehrszeichen iSd § 50 StVO (§ 31 Abs 1 iVm § 98 Abs 3 StVO). Die Unterlassung einer solchen Kennzeichnung ist dann grob fahrlässig, wenn sie sich nach den Umständen des Einzelfalls aus der Menge der alltäglich vorkommenden Fahrlässigkeitshandlungen als ungewöhnliche, auffallende Sorglosigkeit heraushebt und der Eintritt eines Schadens geradezu als wahrscheinlich vorhersehbar ist (2 Ob 293/98x mwN; RS0030113). Die Verpflichtung, das Verkehrszeichen aufzustellen, impliziert auch, es zu erhalten bzw für den Fall seiner Beschädigung oder Entfernung sogleich dafür Sorge zu tragen, dass es durch ein neues Verkehrsschild ersetzt wird (8 Ob 39/85).

[16] Zur Erhaltung der gefahrlosen Benützbarkeit der Straßen gehört weiters die Verpflichtung des Straßenerhalters, iSd § 98 Abs 4 StVO (iVm § 44 Abs 1 StVO) der zuständigen Behörde die Umstände bekanntzugeben, die für die Verordnung unter anderem eines Vorschriftszeichens (hier nach § 52 lit a Z 10a StVO) maßgebend sind (6 Ob 503/82 SZ 55/142).

[17] 5. Das Berufungsgericht hat das Vorliegen grober Fahrlässigkeit der Beklagten auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung verneint. Die gegenteilige Ansicht des Klägers wirft keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[18] 5.1. Die Beklagte hat durch das Aufstellen des Gefahrenzeichens „Achtung Baustelle“ (§ 50 Z 9 StVO) mit der Zusatztafel „Rollsplitt“ und die täglich durchgeführten Kontrollen die ihr zumutbaren Maßnahmen ergriffen. Hinweise auf eine für die Beklagte erkennbare Gefahr, dass der Dreieckständer mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit umfallen könnte (und daher gesichert werden müsste), lassen sich dem festgestellten Sachverhalt nicht entnehmen. Auf dieser Grundlage erweist sich die Auffassung des Berufungsgerichts, das am Aufstellort vorhandene Gefälle und der (vom Erstgericht disloziert festgestellte, aber nicht näher definierte) „unstete Untergrund“ allein hätten eine Notwendigkeit zusätzlicher Absicherungsmaßnahmen gegen das Umfallen nicht erkennen lassen, als nicht korrekturbedürftig. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der offenkundig schon längere Zeit aufgestellte Dreieckständer „wahrscheinlich“ erst wenige Stunden vor dem Unfall umgefallen war.

[19] Die Beklagte hatte nach den Feststellungen auch keinen Hinweis darauf, dass an der Unfallstelle gehäuft Unfälle aufgetreten wären. Dass (nach dem Vorbringen des Klägers „wenige Minuten“ vor dem Unfall des Klägers) ein anderer Motorradfahrer an der selben Stelle stürzte, konnte die Beklagte schon aufgrund des zeitlichen Ablaufs nicht in zumutbarer Weise zu weiteren Vorkehrungen veranlassen.

[20] 5.2. Da das Befahren der Unfallstelle mit einem Motorrad unter Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nach den Feststellungen „grundsätzlich leichter zu beherrschen“ gewesen wäre, fehlen insgesamt verlässliche Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte Schadenseintritte geradezu als wahrscheinlich voraussehen musste, wenn sie nicht bei der Behörde die Aufstellung eines Verbotszeichens nach § 52 lit a Z 10a StVO anregt. Nicht zu beanstanden ist in diesem Zusammenhang die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass ein „fahrdynamischer Grenzzustand“, der nach den Feststellungen auch bei Einhaltung von 50 km/h im Fall „ungünstiger Schotteranhäufung“ (bloß) nicht ausgeschlossen werden konnte, keine andere Beurteilung rechtfertigt, weil dem Kläger der Beweis für das Vorliegen grober Fahrlässigkeit iSd § 1319a ABGB obliegt (RS0124486).

[21] 6. Da somit keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zu lösen war, ist die Revision zurückzuweisen.

[22] Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1 iVm § 50 Abs 1 ZPO. Da die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen hat, diente ihr Schriftsatz der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung.

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