OGH 2Ob176/18y

OGH2Ob176/18y17.12.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A* R*, vertreten durch Dr. Peter Schaden und Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei W* H* T*, vertreten durch Mag. Roland Zistler, Rechtsanwalt in Graz, wegen 55.000 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 5. Juli 2018, GZ 2 R 97/18d‑22, mit welchem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 24. April 2018, GZ 21 Cg 12/17g‑17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E123843

 

Spruch:

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Die Klägerin macht gegen ihren Bruder einen Pflichtteilsergänzungsanspruch (§ 951 ABGB idF vor dem ErbRÄG 2015) nach dem 2014 verstorbenen Vater geltend. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob die Berufung des Beklagten auf einen Pflichtteilsverzicht, der zur Anwendung der Zweijahresfrist nach § 785 Abs 3 ABGB aF führte, rechtsmissbräuchlich ist.

Die im Jahr 1950 geborene Klägerin war bei den mütterlichen Großeltern aufgewachsen, wo sie in der Landwirtschaft mitgearbeitet und die seit 1964 kranke Großmutter gepflegt hatte. Nach dem Tod des Großvaters im Jahr 1972 schenkten die Mutter und die Großmutter der Klägerin „als Dank und zur Absicherung“ zwei ihnen je zur Hälfte gehörende Liegenschaften, wobei die Schenkung durch die Großmutter auf den Todesfall erfolgte. Die Klägerin verzichtete aus diesem Anlass auf ihr Erbrecht nach der Mutter.

Die Eltern der Streitteile hatten „für sich beschlossen“, dass die Klägerin die von der Mutterseite und ihre drei Geschwister die von der Vaterseite stammenden Liegenschaften erhalten sollten. Die drei Geschwister akzeptierten diesen Willen der Eltern und erhoben nach dem Tod der Mutter und der Großmutter (mütterlicherseits) keine Ansprüche gegen die Klägerin. Die Klägerin hatte das von ihren Geschwistern akzeptierte „Apodiktum“ der Eltern schon 1987 „in Frage gestellt“, wurde von ihren Eltern aber „darauf verwiesen“.

Die Mutter starb 1989. Im Zug des Verlassverfahrens übertrug der Vater eine Liegenschaft (mit dem „Familienhaus“) und den Hälfteanteil einer weiteren Liegenschaft an den Beklagten; den zweiten Hälfteanteil erhielt der Beklagte aus dem Nachlass der Mutter. Auch zwei weitere Geschwister bekamen Liegenschaften vom Vater. Die Übernehmer verzichteten auf das Erb- und Pflichtteilsrecht nach ihrem Vater, weil sie „den Willen ihrer Eltern akzeptierten, das Liegenschaftsvermögen gleichmäßig zu verteilen“. Die Klägerin wurde in diese Regelung nicht einbezogen. Der Beklagte übergab 1996 die Hälfte der beiden Liegenschaften seiner Frau, weil sie ihr zweites Kind erwarteten und einen gemeinsamen Hausbau planten. Der Vater starb 2014 und hinterließ neben den bereits genannten zwei weitere Kinder, von denen eines ebenfalls auf das Erbrecht verzichtet hatte. Der geringfügige Nachlass wurde der Lebensgefährtin des Vaters eingeantwortet.

Die Klägerin begehrt 55.000 EUR. Die dem Beklagten geschenkten Liegenschaften hätten einen Wert von 220.000 EUR. Da vier Geschwister auf ihr Erbrecht verzichtet hätten, habe sie einen Pflichtteilsanspruch von einem Viertel. Die Berufung des Beklagten auf das Verstreichen der Zweijahresfrist des § 785 Abs 3 ABGB aF sei rechtsmissbräuchlich, weil dieser Pflichtteilsverzicht dazu gedient habe, den Pflichtteilsanspruch der Klägerin zu verkürzen. Sie sei bei den mütterlichen Großeltern aufgewachsen und habe sich bereits in jungen Jahren um die Großmutter gekümmert, weshalb ihr diese ihre Liegenschaftshälften geschenkt habe. Weiters habe die Großmutter erhebliche Zahlungen an die Mutter der Klägerin geleistet, damit auch diese ihre Hälftanteile der Klägerin schenke. Die Klägerin habe sich diese Liegenschaften „verdient“.

Der Beklagte beantragt die Abweisung der Klage. Die mehr als zwei Jahre vor dem Tod gemachte Schenkung sei wegen des Pflichtteilsverzichts nicht in Anschlag zu bringen. Rechtsmissbrauch liege nicht vor, weil der Verzicht dem Wunsch der Eltern entsprochen habe, die Liegenschaften der Familie in bestimmter Weise zu verteilen. Abgesehen davon betrage der Pflichtteilsanspruch der Klägerin nur ein Zwölftel, weil die Erb- und Pflichtteilsverzichte bei der Pflichtteilbemessung nicht zu berücksichtigen seien. Die Liegenschaft mit dem Wohnhaus habe einen Wert von 34.275 EUR, die andere einen Wert von 85.662 EUR. Von letzterer habe er die vom Vater erhaltene Liegenschaftshälfte seiner Frau geschenkt, sodass insofern überhaupt nichts in Anschlag zu bringen sei; von ersterer sei aus demselben Grund nur die Hälfte in Anschlag zu bringen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, weil die Zweijahresfrist des § 785 Abs 3 ABGB aF anzuwenden sei. Die Berufung auf den Pflichtteilsverzicht sei nicht rechtsmissbräuchlich, weil die Beteiligten der im Jahr 1989 erfolgten Liegenschaftsübertragungen von einer „gerechten Aufteilung“ des Familienvermögens ausgegangen seien. Damit sei die Missbrauchs- oder Schädigungsabsicht nicht erwiesen. Feststellungen zum Vorbringen der Klägerin, sie habe sich die von der Mutterseite erhaltenen Liegenschaften durch Pflege und Arbeit am Hof der Großeltern „verdient“, traf das Erstgericht nicht.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision nicht zu. Es teilte die Auffassung des Erstgerichts, dass der Pflichtteilsverzicht der Umsetzung des Willens der Eltern gedient habe, die Liegenschaften gleichmäßig zu verteilen. Damit habe der Beklagte einen gerechtfertigten Beweggrund für sein Verhalten bewiesen. Die Revision sei nicht zulässig, weil die Frage des Rechtsmissbrauchs von den Umständen des Einzelfalls abhänge.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung gerichtete außerordentliche Revision der Klägerin ist zulässig, weil das Berufungsgericht das Vorbringen der Klägerin zu ihrem eigenen Liegenschaftserwerb nicht beachtet hat; sie ist aus diesem Grund im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Als pflichtteilsberechtigt im Sinn von § 785 Abs 3 Satz 2 ABGB aF gilt, wer im Schenkungszeitpunkt abstrakt pflichtteilsberechtigt war und im Zeitpunkt des Erbanfalls konkret pflichtteilsberechtigt ist (1 Ob 152/03i SZ 2004/155 mwN; RIS‑Justiz RS0012855 [T4]; zuletzt etwa 2 Ob 145/16m und 2 Ob 98/17a). Da die konkrete Pflichtteilsberechtigung durch einen Pflichtteilsverzicht entfällt, ist in einem solchen Fall grundsätzlich die Zweijahresfrist anzuwenden (RIS‑Justiz RS0012855 [T2]), sofern die Berufung auf den Pflichtteilsverzicht nicht als Rechtsmissbrauch anzusehen ist (RIS‑Justiz RS0012855 [T4]; zuletzt etwa 2 Ob 98/17a mwN). Dafür bedarf es nach der jüngeren Rechtsprechung (7 Ob 106/07z mwN) nicht unbedingt der Feststellung der Missbrauchs- oder Schädigungsabsicht. Vielmehr genügt es, wenn der Kläger einen Sachverhalt beweist, der die Vermutung einer solchen Absicht nahe legt. In diesem Fall ist es Sache des Beklagten, einen gerechtfertigten Beweggrund für sein Verhalten zu behaupten und zu beweisen. Kann er das nicht, so kann er sich auch nicht auf den Pflichtteilsverzicht berufen (2 Ob 98/17a).

2. Die Vorinstanzen stützen ihre Verneinung des Rechtsmissbrauchs darauf, dass der Pflichtteilsverzicht des Beklagten der Umsetzung des Plans der Eltern gedient habe, die von der „Mutterseite“ gekommenen Liegenschaften der Klägerin, die von der „Vaterseite“ gekommenen Liegenschaften hingegen dem Beklagten und zwei weiteren Geschwistern zuzuwenden. Eine solche Absicht kann tatsächlich Pflichtteilsverzichte mit der daraus folgenden Beschränkung der Hinzurechnung nach § 785 Abs 3 ABGB aF rechtfertigen (2 Ob 220/15i). Auf dieser Grundlage wäre die Entscheidung der Vorinstanzen nicht zu beanstanden. Dass die Klägerin einen Teil der Liegenschaften von der Großmutter bekommen und die Großmutter nach dem Vorbringen der Klägerin der Mutter Ersatz für deren Liegenschaftsübertragung geleistet hatte, steht bzw stünde dieser Beurteilung nicht entgegen, da ein solches generationenübergreifendes Denken – also ein weites Verständnis des Begriffs „Familienvermögen“ – für den bäuerlichen Bereich typisch ist und daher nicht von vornherein die Vermutung einer Schädigungsabsicht begründen kann.

3. Die Klägerin hat allerdings schon in erster Instanz vorgebracht, dass sie sich die von der Mutterseite gekommenen Liegenschaften durch Pflege und Arbeit am Hof der mütterlichen Großeltern „verdient“ habe. Damit hat sie in der Sache behauptet, dass ihr gegenüber in Wahrheit keine Schenkung oder nur eine solche aus sittlicher Pflicht (§ 785 Abs 3 ABGB aF) vorgelegen sei, sodass ihre drei Geschwister insofern gar keine Ansprüche hätten geltend machen können. Traf das zu, wäre die Bevorzugung dieser Geschwister und damit des Beklagten offenkundig gewesen. In diesem Fall wäre die Berufung des Beklagten auf den Pflichtteilsverzicht missbräuchlich und die Zweijahresfrist des § 785 Abs 3 ABGB daher nicht anwendbar (2 Ob 220/15i mwN).

4. Da die Vorinstanzen zu diesem Vorbringen keine Feststellungen getroffen haben, ist die Sache an das Erstgericht zurückzuverweisen. Dieses wird die aufgezeigte Rechtslage mit den Parteien zu erörtern und allenfalls weiteres Vorbringen entgegenzunehmen haben. Sodann sind– gegebenenfalls nach weiterer Beweisaufnahme – Feststellungen zu den Leistungen der Klägerin am Hof der Großeltern zu treffen. Gelingt der Klägerin der Beweis, dass die ihr gemachten Schenkungen ganz oder doch weit überwiegend der Abgeltung solcher Leistungen gedient hatten, wäre die Berufung des Klägers auf den Pflichtteilsverzicht rechtsmissbräuchlich. Ihm gemachte Schenkungen wären daher nach § 785 Abs 1 ABGB aF in Anschlag zu bringen. Sonst hätte es bei der Abweisung zu bleiben.

5. Sollten die Schenkungen in Anschlag zu bringen sein, wäre Folgendes zu beachten:

5.1. Nach § 767 Abs 1 ABGB aF sind jene vier Kinder, die auf ihr Erbrecht verzichtet haben, bei der Bemessung des Pflichtteils so zu betrachten, als wären sie nicht vorhanden. Damit erhöhte sich die Pflichtteilsquote der Klägerin (7 Ob 508/85 SZ 58/18; RIS-Justiz RS0106573 [T1]); sie betrüge bei zwei verbliebenen erbberechtigten Kindern ein Viertel. Der Schenkungspflichtteil errechnete sich daher mit einem Viertel des Werts der geschenkten Liegenschaft und des geschenkten Liegenschaftsanteils, wobei die Bewertung nach dem Zustand im Zeitpunkt der Schenkung für den Zeitpunkt des Todes zu erfolgen hätte (RIS‑Justiz RS0012973).

5.2. Soweit der Schenkungspflichtteil nicht im reinen Nachlass gedeckt ist – in welchem Fall er vom Erben zu leisten wäre –, besteht der hier geltend gemachte Anspruch gegen den Geschenknehmer nach § 951 ABGB aF. Dieser haftet grundsätzlich nur mit der geschenkten Sache (RIS‑Justiz RS0079874), was in den Spruch eines stattgebenden Urteils aufzunehmen wäre (6 Ob 232/09z; 2 Ob 129/16h). Eine teilweise Veräußerung des Schenkungsobjekts beschränkte daher den Haftungsfonds, berührte aber – anders als vom Beklagten angenommen – nicht die Höhe des Anspruchs. Keine solche Exekutionsbeschränkung besteht aber nach § 952 ABGB aF bei unredlicher Aufgabe des Besitzes. Diese ist anzunehmen, wenn der Beschenkte nach den Umständen des Falles mit einem Anspruch nach § 951 ABGB aF rechnen musste (RIS‑Justiz RS0012958), wobei schon leichte Fahrlässigkeit genügt (9 Ob 48/09p SZ 2009/146; RIS-Justiz RS0012958 [T1, T2]). Diese wäre hier anzunehmen, da die Klägerin schon 1987 – also lange vor der Schenkung des Beklagten an seine Frau – das „Apodiktum“ der Eltern „in Frage gestellt“ hatte.

6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 1 Satz 3 ZPO.

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