OGH 2Ob109/10h

OGH2Ob109/10h17.2.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Goran S*, vertreten durch Dr. Bruno Pedevilla und Dr. Kristina Gruber‑Mariacher, Rechtsanwälte in Lienz, gegen die beklagten Parteien 1. Pauline B*, und 2. K*, beide vertreten durch Olsacher & Gradnitzer Rechtsanwälte OG in Spittal an der Drau, wegen 8.230 EUR sA, über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Berufungsgericht vom 17. März 2010, GZ 3 R 295/09f‑15, womit infolge Berufung des Klägers das Urteil des Bezirksgerichts Spittal an der Drau vom 22. Oktober 2009, GZ 1 C 849/09x‑9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2011:E96476

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 818,66 EUR (darin 136,44 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Am 9. 5. 2009 ereignete sich um 22:22 Uhr auf der Drautalbundesstraße B 100 ein Verkehrsunfall, im Zuge dessen zuerst Thomas B* als Lenker des von der Erstbeklagten gehaltenen und bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten Pkws VW Golf, polizeiliches Kennzeichen * und danach der aus der entgegengesetzten Fahrtrichtung kommende Kläger als Lenker des von ihm gehaltenen Pkws Ford Galaxy, polizeiliches Kennzeichen *, gegen eine auf der Fahrbahn befindliche Hirschkuh stießen.

Die B 100 ist im Unfallbereich „weiträumig übersichtlich“, sodass die Lichtquellen entgegenkommender Fahrzeuge schon auf mehrere hundert Meter Entfernung deutlich erkennbar sind. Die Unfallstelle lag im Freilandgebiet; Verkehrszeichen, die auf einen Wildwechsel hingedeutet hätten, waren nicht vorhanden.

Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs fuhr auf der 7,9 m breiten Fahrbahn der B 100 in westliche Richtung und hielt eine Geschwindigkeit von ca 90 bis 100 km/h ein. Wegen des entgegenkommenden Klagsfahrzeugs schaltete er das Abblendlicht ein; danach betrug seine Sichtstrecke nur noch 35 m.

Die Hirschkuh hatte sich der B 100 über ein ‑ aus Sicht Thomas B*s ‑ rechts von der Fahrbahn befindliches, im Niveau ca 2 m tiefer liegendes Wiesengelände genähert. Das Tier überwand die Böschung zur Fahrbahn und versuchte, diese in südliche Richtung zu überqueren. Dabei bewegte es sich in die Sichtstrecke Thomas B*s, der seine Geschwindigkeit bis zum Anprall nur noch auf 75 km/h verringern konnte. Durch den Anstoß wurde die Bewegungsrichtung des Tiers nach Südwesten abgeändert. Es stürzte rund 12 m bzw 0,5 sek nach der Kollision zu Boden, wobei es in der von Thomas B* befahrenen Fahrbahnhälfte eine 11,52 m lange Blutspur hinterließ.

Rund 40 bis 50 m westlich des Primärkontakts wurde das Tier, das noch einmal auf die Beine gekommen war, sodann vom Klagsfahrzeug erfasst. Für beide Fahrzeuglenker war die jeweilige Kollision nicht vermeidbar.

Der Kläger begehrte den Ersatz seines Sachschadens, den er zuletzt mit 8.230 EUR sA bezifferte. Er brachte vor, das Beklagtenfahrzeug habe das Wildtier erfasst und auf die Gegenfahrbahn geschleudert, wo es gegen die Windschutzscheibe des Klagsfahrzeugs geprallt sei. Das Verschulden treffe den Lenker des Beklagtenfahrzeugs, der eine relativ überhöhte Geschwindigkeit eingehalten und verspätet reagiert habe. Zumindest habe er nicht die äußerst mögliche Sorgfalt aufgewendet, um den Unfall zu verhindern. Der Schaden am Klagsfahrzeug sei auch auf die vom Beklagtenfahrzeug ausgehende außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen.

Die beklagten Parteien bestritten jegliches Fehlverhalten des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs. Die Hirschkuh sei wohl durch den Anprall auf die Gegenfahrbahn und zwar ‑ wie sich später herausgestellt habe ‑ gegen das Klagsfahrzeug geschleudert worden. Thomas B* habe aber weder eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten, noch verspätet reagiert. Die beklagten Parteien wandten überdies eine Gegenforderung ein.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es ging im Wesentlichen vom eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt aus und vertrat die Ansicht, dass den Lenker des Beklagtenfahrzeugs kein Verschulden treffe. Das Wildtier sei erst nach dem Abblenden in seinen Sichtbereich „eingetaucht“. Mit dem plötzlich auftretenden Hindernis habe er nicht rechnen müssen; ein Verstoß gegen das Gebot des Fahrens auf Sicht liege nicht vor. Der Unfall habe für ihn vielmehr ein unabwendbares Ereignis iSd § 9 EKHG dargestellt, weil er jede nach den Umständen gebotene Sorgfalt beachtet habe, der Unfall auf das Verhalten eines Tieres zurückzuführen sei und dieses auch keine außergewöhnliche Betriebsgefahr ausgelöst habe.

Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahin ab, dass es die Klagsforderung als zu Recht, die Gegenforderung hingegen als nicht zu Recht bestehend erkannte und dem Klagebegehren stattgab. Es sprach zunächst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Das Berufungsgericht erörterte rechtlich, wenn man dem Lenker des Beklagtenfahrzeugs nicht ohnehin einen schuldhaften Verstoß gegen das Gebot des Fahrens auf Sicht zur Last legen wolle, so sei den beklagten Parteien jedenfalls der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG misslungen. Es erübrige sich daher das Eingehen auf die Frage, ob vom Beklagtenfahrzeug eine außergewöhnliche Betriebsgefahr ausgegangen sei. Da die beklagten Parteien in erster Instanz keinen Einwand gegen das Fahrverhalten des Klägers erhoben hätten, komme eine allfällige, auf die gewöhnliche Betriebsgefahr des Klagsfahrzeugs gegründete Schadensteilung nach § 11 Abs 1 EKHG nicht in Betracht.

Über Antrag der beklagten Parteien ließ das Berufungsgericht in Abänderung seines ursprünglichen Ausspruchs die ordentliche Revision doch zu. Der Oberste Gerichtshof habe zu 2 Ob 142/98s in der Bestreitung des eigenen Verschuldens durch den Beklagten den denklogischen Einwand des Alleinverschuldens bzw der Unachtsamkeit des Unfallgegners erblickt und sei damit von der ständigen Rechtsprechung abgewichen. Insoweit liege daher eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO vor.

Gegen das Berufungsurteil richtet sich die Revision der beklagten Parteien mit dem Abänderungsantrag, die erstinstanzliche Entscheidung wiederherzustellen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil es der folgenden Klarstellung der Rechtslage bedarf. Sie ist jedoch nicht berechtigt.

Die beklagten Parteien machen geltend, das Berufungsgericht sei zwar zutreffend vom fehlenden Verschulden des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs ausgegangen, habe aber ohne nähere Begründung das Gelingen des Entlastungsbeweises nach § 9 Abs 2 EKHG zu Unrecht verneint. Es habe keine Verpflichtung bestanden, bei guten Straßen- und Sichtverhältnissen die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h zu reduzieren. Bei welcher Geschwindigkeit ein Unfall allenfalls vermeidbar gewesen wäre, sei nicht festgestellt worden. Die Bestreitung eigener Sorglosigkeit umfasse den Einwand, dass der Unfall auf das Alleinverschulden bzw die Unachtsamkeit des Klägers zurückzuführen sei.

Demgegenüber hält der Kläger in seiner Revisionsbeantwortung daran fest, dass den Lenker des Beklagtenfahrzeugs das alleinige Verschulden treffe.

Hiezu wurde erwogen:

1. Der aus § 20 Abs 1 Satz 1 StVO abgeleitete Grundsatz des Fahrens auf Sicht bedeutet, dass ein Fahrzeuglenker seine Fahrgeschwindigkeit so zu wählen hat, dass er sein Fahrzeug beim Auftauchen eines Hindernisses rechtzeitig zum Stehen bringen und zumindest das Hindernis umfahren kann. Jeder Kraftfahrer muss daher seine Fahrweise so gestalten, dass der Weg des abzubremsenden Fahrzeugs in der Zeit vom Erkennen eines Hindernisses auf der Fahrbahn bis zum vollen Stillstand des Fahrzeugs nie länger als die durch ihn eingesehene Strecke ist (2 Ob 65/05f mwN; 2 Ob 148/08s; 2 Ob 32/10k; RIS‑Justiz RS0074750, RS0074808). Diese Pflicht besteht auch auf Freilandstraßen (8 Ob 48/85).

Fährt ein Kraftfahrer bei Dunkelheit mit Abblendlicht, dann hat er, soweit nicht besondere Umstände die Sicht über die vom Abblendlicht erleuchtete Strecke hinaus ermöglichen, grundsätzlich mit einer Geschwindigkeit zu fahren, die ihm das Anhalten seines Fahrzeugs innerhalb der Reichweite des Abblendlichts gestattet (8 Ob 62/86 mwN; 2 Ob 154/88; vgl auch 2 Ob 55/95; 2 Ob 77/01i; 2 Ob 213/02s; 2 Ob 32/10k; RIS‑Justiz RS0074769). Fährt er mit höherer Geschwindigkeit, dann hat er Fernlicht zu verwenden. Darf er dies nicht, weil der Lenker eines entgegenkommenden Fahrzeugs geblendet werden könnte (§ 99 Abs 4 lit c KFG), dann hat er mit entsprechend geringerer Geschwindigkeit zu fahren (8 Ob 62/86 mwN). Wird die Fahrbahn durch vorausfahrende und entgegenkommende Fahrzeuge entsprechend ausgehellt, wird das Gebot des Fahrens auf Sicht nicht verletzt (2 Ob 55/95; 2 Ob 162/01i; 2 Ob 32/10k; RIS‑Justiz RS0074669).

Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Lenker des Beklagtenfahrzeugs vor der Kollision mit der Hirschkuh bei Verwendung des Abblendlichts eine Geschwindigkeit von zumindest 90 km/h eingehalten hat und dass seine Sichtstrecke nur 35 m betrug. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, dass er unter diesen Umständen objektiv gegen das Gebot des Fahrens auf Sicht verstieß, vermochte er doch seine Geschwindigkeit trotz ‑ behaupteter ‑ sofortiger Reaktion bis zum Anstoß nur auf 75 km/h zu reduzieren (vgl auch 2 Ob 55/95). Die in der Revision erstmals aufgestellte Behauptung, die Fahrbahn sei „durch die eigenen und die Lichtquellen des Gegenverkehrs ausgeleuchtet“ gewesen, geht nicht vom festgestellten Sachverhalt aus und ist daher unbeachtlich.

2. § 20 Abs 1 StVO ist eine Schutznorm, die allen Gefahren des Straßenverkehrs vorbeugen soll, die eine überhöhte Geschwindigkeit mit sich bringt (RIS‑Justiz RS0027748). Den nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dem Schädiger obliegenden Beweis, dass ihm die objektive Übertretung einer Schutznorm nicht als schutzgesetzbezogenes Verhaltensunrecht anzulasten ist, etwa weil ihn an der Übertretung kein Verschulden traf oder der Schaden auch im Fall vorschriftsmäßigen Verhaltens eingetreten wäre (vgl 2 Ob 174/06m; 2 Ob 41/10h; je mwN; RIS‑Justiz RS0112234 [T5], RS0111707), haben die beklagten Parteien nicht einmal angetreten.

3. Die Adäquanz des Kausalzusammenhangs wird von den beklagten Parteien nicht in Frage gestellt. Sie wird in ständiger Rechtsprechung auch dann bejaht, wenn eine weitere Ursache für den entstandenen Schaden dazugetreten ist und nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge dieses Hinzutreten als wahrscheinlich zu erwarten ist. Es kommt nur darauf an, ob nach den allgemeinen Erkenntnissen und Erfahrungen das Hinzutreten der weiteren Ursache, wenn auch nicht gerade normal, so doch wenigstens nicht gerade außergewöhnlich ist (RIS‑Justiz RS0022918). Besteht die weitere Ursache in der Handlung eines Dritten, der auch der Verletzte selbst sein kann, so besteht nur dann keine Haftung, wenn mit dem dadurch bedingten Geschehensablauf nach der Lebenserfahrung nicht zu rechnen war (2 Ob 58/07d mwN).

In diesem Zusammenhang wurde bereits mehrfach ausgesprochen, dass das Zustandekommen weiterer Auffahrunfälle eine geradezu typische Folge einer Behinderung des Verkehrs durch ein Unfallfahrzeug ist (2 Ob 58/07d mwN; vgl RIS‑Justiz RS0022675). In derartigen Fällen bleibt der adäquate Kausalzusammenhang zwischen der ersten Unfallursache und dem schließlich eingetretenen Erfolg selbst dann gewahrt, wenn Aufmerksamkeitsfehler der Lenker auffahrender Fahrzeuge wesentlich dazu beigetragen haben (2 Ob 58/07d mwN).

Diese Grundsätze sind auch auf den hier zu beurteilenden Fall übertragbar, in welchem nach einer nächtlichen Primärkollision zwar kein Unfallfahrzeug, dafür aber ein verletztes und in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränktes Wildtier von beträchtlicher Größe als Hindernis für andere Fahrzeuglenker auf der Fahrbahn einer Freilandstraße verblieb. Liegt es doch keineswegs außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit, dass ein nachfolgender oder entgegenkommender Fahrzeuglenker gegen ein derartiges Hindernis stößt. Umstände, aus denen zu schließen wäre, dass es auch ohne den Primärunfall zur Kollision des Klagsfahrzeugs mit der Hirschkuh gekommen wäre, wurden von den beklagten Parteien nicht behauptet. Auch aus den Feststellungen der Vorinstanzen ergibt sich kein diesbezüglicher Anhaltspunkt.

4. Die bisherigen Ausführungen sind somit dahin zusammenzufassen, dass der Lenker des Beklagtenfahrzeugs die Primärkollision mit der Hirschkuh durch Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit verschuldete und die Folgekollision des Klägers in einem adäquaten Kausalzusammenhang mit dem Primärunfall steht. Daraus folgt, dass die beklagten Parteien für den Schaden des Klägers die Verschuldenshaftung trifft.

In Fällen, in denen einen Unfallbeteiligten ein eindeutiges Verschulden trifft, kommt es aber bei dem vom Berufungsgericht erwogenen Schadensausgleich nach § 11 EKHG auf die Erbringung des Entlastungsbeweises nach § 9 Abs 2 EKHG nicht an; es ist nur danach zu fragen, ob nach den Umständen Anlass besteht, auch den anderen Unfallbeteiligten, hier also den Kläger, zum Schadensausgleich heranzuziehen (2 Ob 23/09k mwN; RIS‑Justiz RS0058304).

Solche denkbaren Tatumstände gehen aus dem Prozessvorbringen der beklagten Parteien nicht hervor. Selbst in der Revision wird nicht dargelegt, worauf sich die Mithaftung des Klägers gründen soll. Die Berufung auf die Entscheidung 2 Ob 142/98s muss hier schon deshalb versagen, weil bei der vorliegenden Unfallskonstellation die bloße Bestreitung des Verschuldensvorwurfs keineswegs denklogisch den Einwand des Allein‑ oder eines Mitverschuldens des Unfallgegners umfasst. Es bedarf daher auch keines weiteren Eingehens auf die vom Berufungsgericht angesprochene (angebliche) Judikaturdivergenz.

5. Aus den dargelegten Erwägungen ist der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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