European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00101.21Y.1021.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und
es wird in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 17.990,44 EUR (darin enthalten 11.452 EUR Barauslagen und 1.089,74 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Am 12. 9. 2019 ereignete sich auf der L3026 zwischen Loidesthal und Velm-Götzendorf ein Verkehrsunfall, an dem eine im Eigentum der Klägerin stehende Erntemaschine und ein PKW Skoda mit dem behördlichen Kennzeichen (in der Folge nur: PKW) beteiligt waren.
[2] Der PKW war seit April 2019 auf M* (in der Folge: Halter) zugelassen und zum Zeitpunkt der Zulassung bei der Beklagten haftpflichtversichert. Da der Halter die Erstprämie nicht zahlte, sprach die Beklagte ihm gegenüber den Rücktritt vom Versicherungsvertrag aus, was sie dem Verband der Österreichischen Versicherungsunternehmen (VVO) gemäß § 61 Abs 4 KFG anzeigte. In das vom VVO geführte Zulassungsprogramm der Deckungsevidenz erfolgte am 22. 7. 2019 die Einmeldung der Anzeige des Haftungsendes; zugleich wurde die Einleitung eines Verfahrens über die Aufhebung der Zulassung vermerkt. Am 22. 7. 2019 erließ die Zulassungsbehörde einen (später in Rechtskraft erwachsenen) Bescheid über die Aufhebung der Zulassung, der dem Halter am 29. 7. 2019 zugestellt wurde. Nach dem Rücktritt der Beklagten und vor dem Unfall schloss der Halter einen neuen Haftpflichtversicherungsvertrag für den PKW mit der Nebenintervenientin ab. Letztere hinterlegte am 2. 8. 2019 die Versicherungsbestätigung (mit Gültigkeitsbeginn 12. 2. 2019) in der zentralen Deckungsevidenz. Am 30. 9. 2019 erfolgte die Rückgabe der Kennzeichentafeln und der Zulassungsbescheinigung.
[3] Die Klägerin begehrt die Zahlung von 236.270 EUR sA. Das Alleinverschulden am Unfall treffe den Lenker des PKW. Die Beklagte sei im Unfallszeitpunkt Haftpflichtversicherer des PKW gewesen. Auch wenn damals bereits ein Verfahren zurAbnahme der Kennzeichen eingeleitet gewesen sei, treffe die Beklagte die Nachhaftung. Gemäß § 158c VersVG sei zum Zeitpunkt des Unfalls jedenfalls Versicherungsdeckung der Beklagten gegeben gewesen; der Fall, dass ein anderer Haftpflichtversicherer dem Versicherungsnehmer gegenüber hafte, sei nicht eingetreten. Die Passivlegitimation der Beklagten folge auch daraus, dass sie in einer Zentralregisterauskunft der Behörde zum Stichtag des Unfalls als zuständiger Versicherer aufgeschienen sei.
[4] Die Beklagte bestritt das Verschulden des PKW-Lenkers sowie die behauptete Schadenshöhe und wandte mangelnde Passivlegitimation ein. Sie habe am 16. 7. 2019 das Ende ihrer Haftung für den PKW gemeldet, woraufhin ein „Aufhebungsverfahren“ eingeleitet worden sei. Während des laufenden Verfahrens habe die Nebenintervenientin am 2. 8. 2019 eine Versicherungsbestätigung mit Gültigkeitsdatum 12. 2. 2019 erlegt. Der PKW sei daher seit 2. 8. 2019 und damit auch zum Zeitpunkt des Unfalls bei der Nebenintervenientin versichert gewesen. Vorgänge im Rahmen der Zulassung eines KFZ seien von zivilrechtlichen Fragen zu trennen. Mit Hinterlegung der Versicherungsbestätigung habe die Nebenintervenientin zum Ausdruck gebracht, das Risiko tragen zu wollen. Eine allfällige Nachhaftung der Beklagten sei durch die Hinterlegung einer Versicherungsbestätigung durch die Nebenintervenientin beseitigt worden.
[5] Die Nebenintervenientin führte aus, dass die Beklagte die Zulassungsbehörde über ihre Nichthaftung informiert habe, woraufhin die Behörde das Aufhebungsverfahren eingeleitet habe. Die Behörde habe mit dem Halter am 29. 7. zugestelltem Bescheid vom 22. 7. 2019 die Aufhebung der Zulassung ausgesprochen. Ein Rechtsmittel gegen den Bescheid sei nicht erhoben worden; die Verwendung des PKW sei ab 29. 7. 2019 rechtsmissbräuchlich gewesen. Die erst danach eingelangte und zur zuvor bereits aufgehobenen Zulassung erfolgte Versicherungsbestätigung der Nebenintervenientin sei nicht geeignet gewesen, etwas am Zulassungsstatus des PKW zu ändern. Die Hinterlegung der Versicherungsbestätigung für ein Fahrzeug, dessen Zulassung bereits aufgehoben sei, sei ein rechtliches Nullum. Es verbleibe damit die Nachhaftung der Beklagten gemäß § 24 Abs 2 KHVG.
[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Versicherungsverhältnis zur Beklagten sei mit deren Rücktritt vom Vertrag wegen Nichtzahlung der Erstprämie beendet worden. Eine Nachhaftung der Beklagten gemäß § 24 Abs 2 KHVG bestehe nicht, weil diese mit dem Abschluss des Versicherungsvertrags des Halters mit der Nebenintervenientin, spätestens aber mit der Hinterlegung und Erfassung deren Versicherungsbestätigung erloschen sei. Feststellungen zum Unfallhergang und zur Schadenshöhe seien daher nicht erforderlich.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, hob das angefochtene Urteil auf und ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu. Auch die durch die Ausstellung einer Versicherungsbestätigung bewirkte vorläufige Deckungszusage lasse einen echten Versicherungsvertrag entstehen. Allerdings sei zu beachten, dass sowohl § 1 Abs 1 KHVG als auch die hier relevanten Bestimmungen des § 47 und des § 59 KFG nur auf zum Verkehr zugelassene Fahrzeuge abstellten. Da der Bescheid über die Aufhebung der Zulassung sofort nach dessen Erlassung vollstreckbar gewesen sei, habe die am 2. 8. 2019 erfasste Versicherungsbestätigung der Nebenintervenientin ein nicht mehr zum Verkehr zugelassenes Fahrzeug betroffen. Ohne einen Neuantrag auf Zulassung habe damit keine gesetzliche Haftpflichtversicherungspflicht bestanden; nach dem Wortlaut des § 1 Abs 1 KHVG komme die Anwendung des KHVG auf ein nicht zum Verkehr zugelassenes Fahrzeug nicht in Betracht. Daher könne der Abschluss eines Haftpflichtversicherungsvertrags nach Aufhebung der Zulassung nicht zu einem Direktklagerecht des Geschädigten nach § 26 KHVG führen. Da die Beklagte nicht nachweisen habe können, dass dem Geschädigten ein anderer Versicherer direkt zur Leistung verpflichtet sei, treffe sie die Nachhaftung nach § 24 Abs 2 KHVG. Das Erstgericht werde sich daher im fortgesetzten Verfahren mit dem Unfallhergang und der Schadenshöhe zu befassen haben.
[8] Der Rekurs sei zuzulassen, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob der Abschluss eines KFZ‑Haftpflichtversicherungsvertrags nach Aufhebung der Zulassung die Nachhaftung des früheren Haftpflichtversicherers aufhebe.
[9] Gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts richtet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag, das erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen.
[10] Die Klägerin beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.
[11] Der Rekurs ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; er ist auch berechtigt.
[12] Die Beklagte argumentiert, dass eine KFZ‑Haftpflichtversicherung immer schon vor dem Zulassungsakt der Behörde vorliegen müsse, weil ihr Bestehen Voraussetzung für die Erteilung einer Zulassung sei. Das Versicherungsvertragsverhältnis solle gemäß § 61 KFG den geschädigten Dritten schützen, sodass bei Vorliegen einer anderen Versicherungsbestätigung, die Gültigkeit entfalte, die Haftung auf diesen anderen Versicherer übergehe. Das zivilrechtliche Haftungsverhältnis bestehe damit ab Ausstellung einer Versicherungsbestätigung, die zur Übernahme des Haftungsrisikos führe, und sei nicht an den Akt der Zulassung geknüpft. Das bedeute, dass die bloß subsidiäre Nachhaftung der Beklagten nicht zum Tragen komme, weil bereits die Nebenintervenientin für den Schaden der Klägerin hafte.
Dazu hat der Senat erwogen:
Rechtliche Beurteilung
1. Vorbemerkungen
[13] Entscheidend ist im vorliegenden Fall die Auslegung mehrerer Bestimmungen des Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsgesetzes 1994 (KHVG), dessen Inhalt durch die Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (in der Folge: 6. KH‑RL) jedenfalls teilweiseunionsrechtlich determiniert ist. Die relevanten Bestimmungen des KHVG lauten:
„Anwendungsbereich
§ 1 (1) Dieses Bundesgesetz gilt für die Haftpflichtversicherung von Fahrzeugen, die nach den Vorschriften des Kraftfahrgesetzes 1967, BGBl. Nr. 267 (KFG 1967), zum Verkehr zugelassen oder an denen Probefahrt- oder Überstellungskennzeichen angebracht sind.
[…]
Rechte des geschädigten Dritten
§ 24 (1) Ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung dem Versicherungsnehmer gegenüber ganz oder teilweise frei, so bleibt gleichwohl seine Verpflichtung in Ansehung des Dritten bestehen.
(2) Ein Umstand, der das Nichtbestehen oder die Beendigung des Versicherungsverhältnisses zur Folge hat, wirkt in Ansehung des Dritten erst nach Ablauf von drei Monaten, nachdem der Versicherer diesen Umstand gemäß § 61 Abs 4 KFG 1967 angezeigt hat. Das gleiche gilt, wenn das Versicherungsverhältnis durch Zeitablauf endet. Der Lauf der Frist beginnt nicht vor der Beendigung des Versicherungsverhältnisses.
(3) Die Leistungspflicht des Versicherers beschränkt sich auf den den Vorschriften dieses Bundesgesetzes entsprechenden Umfang. Sie besteht nicht, insoweit ein anderer Haftpflichtversicherer zur Leistung verpflichtet ist.
[…]
Direktes Klagerecht
Anspruchsberechtigung
§ 26 Der geschädigte Dritte kann den ihm zustehenden Schadenersatzanspruch im Rahmen des betreffenden Versicherungsvertrages auch gegen den Versicherer geltend machen. Der Versicherer und der ersatzpflichtige Versicherte haften als Gesamtschuldner.“
2. Anwendungsbereich des KHVG
[14] 2.1. Der Wortlaut des § 1 Abs 1 KHVG stellt für die Frage der Anwendbarkeit dieses Gesetzes – soweit hier von Relevanz – auf Fahrzeuge ab, die nach dem KFG 1967 zum Verkehr zugelassen sind. Das Vorliegen einer solchen Zulassung des PKW zum Zeitpunkt des Unfalls hat das Berufungsgericht zutreffend verneint:
[15] 2.1.1. Nach § 44 Abs 1 lit c KFG ist die Zulassung von der Behörde, die das Fahrzeug zugelassen hat, aufzuheben, wenn – wie hier – die Gemeinschaftseinrichtung der zum Betrieb der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung berechtigten Versicherer der Behörde, in deren Wirkungsbereich das Fahrzeug zugelassen ist, unter Angabe des Kennzeichens angezeigt hat, dass kein haftender Versicherer festgestellt werden kann (§ 47 Abs 4b letzter Satz KFG). Diese Bestimmung stellt allein auf das Vorliegen einer Anzeige des Versicherers nach § 61 Abs 4 KFG über die Beendigung der für das Fahrzeug vorgeschriebenen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung ab (Grubmann, KFG4 [2016] § 44 Anm 5). Eine solche Anzeige ist von der Behörde mit größter Beschleunigung und allem Nachdruck zwecks sofortiger Aufhebung der Zulassung und Abnahme der Kennzeichentafeln zu behandeln (7 Ob 34/04g mwN; vgl RS0065888). Geht die Behörde – wie hier – nach § 44 Abs 1 lit c KFG vor, hat eine – im vorliegenden Fall gar nicht erhobene – Beschwerde gegen die Aufhebung der Zulassung keine aufschiebende Wirkung (§ 44 Abs 3 KFG). Nach Eintritt der Vollstreckbarkeit des Bescheids über die Aufhebung der Zulassung hat der bisherige Zulassungsbesitzer den Zulassungsschein und die Kennzeichentafeln unverzüglich einer der im § 43 Abs 1 KFG angeführten Behörden abzuliefern (§ 44 Abs 4 KFG).
[16] 2.1.2. Die Aufhebung der Zulassung des PKW wurde mit Zustellung des Bescheids an den Halter am 29. 7. 2019 vollstreckbar (vgl Hengstschläger/Leeb, AVG § 62 Rz 3, 12 und 18). Ab diesem Zeitpunkt hatte die Behörde alle ihr zur Verfügung stehenden, zweckmäßigen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um die Kennzeichentafeln abzunehmen (Grubmann, KFG4 § 44 Anm 17).
[17] 2.2. Es stellt sich damit die Frage, ob die Aufhebung der Zulassung dazu führt, dass die Bestimmungen des KHVG schlechthin nicht mehr anwendbar sind. Dies ist aus folgenden Erwägungen zu verneinen:
[18] 2.2.1. Ziel jeder Gesetzesauslegung ist es, den in der heutigen Rechtsordnung maßgebenden Sinn des auszulegenden Gesetzes zu suchen (vgl RS0109735). Eine generelle, erschöpfende Rangordnung der einzelnen Auslegungskriterien kann nicht aufgestellt werden. Vielmehr ist, wenn verschiedene Auslegungsmethoden – etwa die Wortauslegung und die objektiv-teleologische Auslegung (vgl dazu P. Bydlinski in KBB6 § 6 ABGB Rz 2 ff) – in verschiedene Richtungen deuten, eine Gesamtwürdigung im Sinne eines „beweglichen Systems“ vorzunehmen und unter Heranziehung aller zur Verfügung stehenden Kriterien in wertender Entscheidung der Sinn der Regelung klarzustellen (4 Ob 115/05y mwN; RS0008877).
[19] 2.2.2. Ein Analogieschluss setzt eine Gesetzeslücke voraus, das heißt also, dass der Rechtsfall nach dem Gesetz nicht beurteilt werden kann, jedoch von Rechts wegen einer Beurteilung bedarf. Es muss also eine „planwidrige Unvollständigkeit“, das heißt eine nicht gewollte Lücke, vorliegen (RS0098756).
[20] 2.2.3. Der Wortlaut des § 1 Abs 1 KHVG grenzt den Anwendungsbereich dieses Gesetzes – soweit hier von Interesse – auf Fahrzeuge ein, die nach dem KFG 1967 zum Verkehr zugelassen sind. Eine reine Wortlautinterpretation führt daher zum Ergebnis, dass nur Fahrzeuge, die über eine aufrechte Zulassung verfügen, dem Anwendungsbereich des KHVG unterliegen.
[21] 2.2.4. Diese reine Wortauslegung führt jedoch zu vom Gesetzgeber offenkundig nicht gewollten Ergebnissen:
[22] Die in § 24 Abs 2 KHVG angeordnete dreimonatige Nachhaftung des Versicherers beginnt mit der Anzeige des Nichtbestehens des Versicherungsverhältnisses nach § 61 Abs 4 KFG zu laufen. In einem solchen Fall ist die für die Aufhebung der Zulassung zuständige Behörde – wie bereits zu Punkt 2.1.1. dargelegt – verpflichtet, sofort die Zulassung aufzuheben. Bei Unterstellung ordnungsgemäßen Handelns der Behörde müsste die Aufhebung der Zulassung daher deutlich vor Ablauf der dreimonatigen Nachhaftungsfrist erfolgen. Folglich würde die explizit angeordnete Nachhaftung in einem solchen Fall lange vor Ablauf der dreimonatigen Frist ins Leere laufen, wenn man den Anwendungsbereich des KHVG strikt auf zugelassene Fahrzeuge begrenzen wollte. Dies widerspricht offenkundig der Intention des Gesetzgebers.
[23] Auch die Bestimmung des § 37 KFG, die die Voraussetzungen für die Erteilung einer Zulassung zum Verkehr regelt, macht deutlich, dass das Bestehen eines aufrechten Versicherungsverhältnisses nicht vom Vorliegen einer Zulassung abhängt, stellt doch die Versicherungsbestätigung gemäß § 61 Abs 1 KFG einen der für die Erlangung einer Zulassung zu erbringenden Nachweise dar (§ 37 Abs 2 lit b KFG; vgl Reisinger in Kainz/Michtner/Reisinger, Die Kfz-Versicherung [2017] 6).
[24] Eine teleologische Interpretation führt daher zum Ergebnis, dass über den Wortlaut des § 1 Abs 1 KHVG hinaus in bestimmten Fällen auch nicht zum Verkehr zugelassene Fahrzeuge dem Anwendungsbereich dieses Gesetzes unterliegen sollten.
[25] 2.2.5. Bei systematischer Auslegung der Bestimmung des § 1 Abs 1 KHVG sind die Ausführungen des Obersten Gerichtshofs zur Bestimmung des § 59 Abs 1 KFG in der Entscheidung 9 ObA 48/11s zu berücksichtigen:
[26] Dort war unter anderem die Frage zu klären, ob ein zum Verkehr nicht zugelassener und nicht versicherter LKW, der primär zur Befeuchtung einer Straße in einem Steinbruch verwendet wurde, der Versicherungspflicht nach § 59 Abs 1 lit a KFG unterliegt. Nach dieser Bestimmung besteht eine solche Versicherungspflicht unter anderem für Kraftfahrzeuge, die „zum Verkehr zugelassen sind“. Diese Bestimmung verwendet damit – worauf bereits das Berufungsgericht hingewiesen hat – eine § 1 Abs 1 KHVG ganz vergleichbare Formulierung. Trotz des Wortlauts der Bestimmung betonte der Oberste Gerichtshof, dass es zu kurz greifen würde, eine Versicherungspflicht schon mit dem Argument der fehlenden Zulassung zu verneinen, wenn ein Fahrzeug dennoch im öffentlichen Verkehr verwendet wird. Eine Versicherungspflicht ergebe sich vielmehr bereits aus der (beabsichtigten) Verwendung des KFZ im öffentlichen Verkehr. Wollte man annehmen, dass ein nicht (mehr) zum Verkehr zugelassenes Fahrzeug ungeachtet seiner faktischen Verwendung im Verkehr keiner Versicherungspflicht unterliegen würde, bestünde auch ein Spannungsverhältnis zu Art 3 der 6. KH-RL, wonach jeder Mitgliedstaat sicherzustellen habe, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt sei.
[27] Diese Ausführungen können auch für den vorliegenden Fall fruchtbar gemacht werden, weil die generelle Nichtanwendung des KHVG auf nicht (mehr) zum Verkehr zugelassene Fahrzeuge zu offenkundig unbilligen und mit unionsrechtlichen Vorgaben (siehe unten Punkt 2.2.7.) in Konflikt stehenden Ergebnissen führen würde.
[28] 2.2.6. Die üblicherweise verwendeten Allgemeinen Bedingungen für die Haftpflichtversicherung (AHVB) legen ebenfalls nahe, dass das alleinige Abstellen auf das Bestehen einer Zulassung nicht zu sachgerechten Ergebnissen führt. Nach Art 7.5.3. AHVB 2005 (Version 2012) erstreckt sich die allgemeine Haftpflichtversicherung nicht auf Schadenersatzverpflichtungen aus Schäden durch Haltung oder Verwendung von „Kraftfahrzeugen oder Anhängern, die nach ihrer Bauart und Ausrüstung oder ihrer Verwendung im Rahmen des versicherten Risikos ein behördliches Kennzeichen tragen müssen oder tatsächlich tragen“. Diese Formulierung soll einen lückenlosen Anschluss des Versicherungsschutzes der allgemeinen Haftpflichtversicherung an jenen der KFZ‑Haftpflichtversicherung gewährleisten (vgl Fuchs/Grigg/Schwarzinger,AHVB/EHVB 2005, 179). Durch die Heranziehung des Unterscheidungsmerkmals der „Verwendung“ eines KFZ sowohl in § 2 Abs 1 KHVG als auch in Art 7.5.3. AHVB sollen sowohl unerwünschte Deckungslücken als auch unerwünschte Doppelversicherungen vermieden werden (Reisinger in Fenyves/Perner/Riedler, VersVG § 149 Rz 56).
[29] Die systematische Auslegung der Bestimmung des § 1 Abs 1 KHVG führt daher ebenfalls zum Ergebnis, dass über den Wortlaut des § 1 Abs 1 KHVG hinaus in bestimmten Fällen auch nicht zum Verkehr zugelassene Fahrzeuge dem Anwendungsbereich dieses Gesetzes unterliegen sollten.
[30] 2.2.7. Bei der Auslegung des § 1 Abs 1 KHVG sind schließlich auch die Wertungen und Vorgaben der 6. KH‑RL zu berücksichtigen. Die richtlinienkonforme Interpretation umfasst dabei auch die nach dem innerstaatlichen interpretativen Maßnahmenkatalog zulässige Rechtsfortbildung durch Analogie im Fall einer planwidrigen Umsetzungslücke (4 Ob 124/18s; vgl RS0114158).
[31] Nach Erwägungsgrund 5 der 6. KH-RL soll für den Fall, dass ein Fahrzeug mit einem amtlichen Kennzeichen, das dem Fahrzeug nicht mehr zugeordnet ist, einen Unfall verursacht, eine besondere Regelung vorgesehen werden. Art 1 Abs 4 trifft daher Regelungen unter anderem für den Fall, dass ein Fahrzeug in einen Unfall verwickelt wurde, das ein amtliches Kennzeichen trägt, das dem Fahrzeug nicht mehr zugeordnet ist.
[32] Nach Erwägungsgrund 30 ist das Recht, sich auf den Versicherungsvertrag zu berufen und seinen Anspruch gegenüber dem Versicherungsunternehmen direkt geltend machen zu können, für den Schutz des Opfers eines Kraftfahrzeugunfalls von großer Bedeutung. Art 18 der 6. KH-RL normiert daher, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Geschädigte eines Unfalls, der durch ein durch die Versicherung nach Art 3 gedecktes Fahrzeug verursacht wurde, einen Direktanspruch gegen das Versicherungsunternehmen haben, das die Haftpflicht des Unfallverursachers deckt. Art 3 bestimmt, dass jeder Mitgliedstaat alle geeigneten Maßnahmen trifft, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist.
[33] Insgesamt zeigt sich damit, dass die unionsrechtlichen Bestimmungen die für Unfallopfer bedeutsamen Regelungen zur Kraftfahrzeug‑Haftplichtversicherung nicht vom aufrechten Bestand einer Zulassung abhängig machen. Die Bestimmung des § 1 Abs 1 KHVG steht damit in einem Spannungsverhältnis zu den unionsrechtlichen Vorgaben (vgl bereits 9 ObA 48/11s zu § 59 Abs 1 KFG).
[34] 2.2.8. Die Gesamtwürdigung der Ergebnisse der einzelnen Auslegungsmethoden zeigt das Vorliegen einer planwidrigen Lücke, weil der Wortlaut des § 1 Abs 1 KHVG zu eng gefasst ist, indem er nur auf zum Verkehr zugelassene Fahrzeuge und damit das aufrechte Vorliegen einer Zulassung abstellt. Nach dem Gesetzeszweck soll das KHVG aber jedenfalls auch einen Fall wie den hier vorliegenden erfassen, in dem die Zulassung eines der Versicherungspflicht nach § 59 Abs 1 KFG unterliegenden Fahrzeugs gemäß § 44 Abs 1 lit c KFG aufgehoben wurde, im nach Aufhebung der Zulassung liegenden Unfallszeitpunkt aber noch die Kennzeichentafeln am Fahrzeug angebracht waren. Dieses Ergebnis entspricht der zur alten Rechtslage (vor dem KHVG 1994) ergangenen Rechtsprechung, wonach eine (zum damaligen Zeitpunkt in § 63 KFG normierte) Direktklage gegen den Haftpflichtversicherer unbeschadet der Abmeldung des Fahrzeugs innerhalb der Nachhaftungsfrist als zulässig erachtet wurde (7 Ob 70/78f SZ 52/4).
2.2.9. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten:
[35] Das KHVG ist jedenfalls dann analog anzuwenden, wenn die Zulassung eines der Versicherungspflicht nach § 59 Abs 1 KFG unterliegenden, in einen Unfall verwickelten Fahrzeugs gemäß § 44 Abs 1 lit c KFG aufgehoben wurde, im nach Aufhebung der Zulassung liegenden Unfallszeitpunkt aber noch die Kennzeichentafeln am Fahrzeug angebracht waren.
3. Auslegung des § 24 KHVG
[36] 3.1. Eine Haftung der Beklagten könnte sich im vorliegenden Fall nur aus § 24 Abs 1 und 2 KHVG ergeben. Der mit diesen Bestimmungen intendierte Schutz des durch einen Unfall geschädigten Dritten tritt auch im – hier vorliegenden – Fall der Nichtzahlung der Erstprämie ein (vgl RS0080526 zur Parallelbestimmung des § 158c VersVG).
[37] 3.2. Der Oberste Gerichtshof hat sich vor Kurzem in der Entscheidung 7 Ob 96/21z (= RS0133634) mit Fragen der Auslegung des § 24 KHVG auseinandergesetzt. Er führte zusammengefasst aus, dass die sich aus der dreimonatigen Nachhaftung gemäß § 24 Abs 2 KHVG ergebende Leistungspflicht des (ursprünglichen) Haftpflichtversicherers – hier also der Beklagten – nach § 24 Abs 3 Satz 2 KHVG nicht besteht, insoweit ein anderer Haftpflichtversicherer zur Leistung verpflichtet ist. Die zuletzt genannte Bestimmung ordnet eine gesetzliche Subsidiarität für den Fall an, dass der andere Haftpflichtversicherer dem Versicherungsnehmer haftet (Rz 17).
[38] 3.3. Zu prüfen ist daher, ob neben der im Rahmen der Nachhaftung nach § 24 Abs 1 und 2 KHVG bestehenden (subsidiären) Deckungspflicht der Beklagten eine Deckungspflicht ihrer Nebenintervenientin aus dem von ihr mit dem Halter abgeschlossenen Kfz‑Haftpflichtversicherungsvertrag für den Unfall vom 12. 9. 2019 bestand. Dies ist aus folgenden Erwägungen zu bejahen:
[39] 3.3.1. Die am 2. 8. 2019 erfolgte Ausstellung der Versicherungsbestätigung durch die Nebenintervenientin (entsprechend § 61 Abs 1 und 1a KFG) bewirkte gemäß § 20 Abs 1 KHVG die Übernahme einer vorläufigen Deckung. Auch die vorläufige Deckungszusage lässt einen echten Versicherungsvertrag entstehen, der allerdings kraft seines provisorischen Charakters zunächst nicht langfristig ist. Zwischen einem Versicherungsvertrag und einem Rechtsverhältnis aufgrund einer Deckungszusage besteht kein materieller Unterschied (RS0080332).
[40] 3.3.2. Nach dem Inhalt der Versicherungsbestätigung erteilte die Nebenintervenientin dem Halter als ihrem Versicherungsnehmer für das Kraftfahrzeug für die Zeit ab 12. 2. 2019 rückwirkend eine vorläufige Deckungszusage. Sie hat dem Halter daher für den Verkehrsunfall vom12. 9. 2019 Deckung zu gewähren.
[41] 3.3.3. Dass das versicherte Fahrzeug zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags über keine aufrechte Zulassung (mehr) verfügte, ändert nichts an dessen aufrechtem Bestand. Die zivilrechtliche Haftung des Versicherers ist nämlich nicht an die öffentlich-rechtliche Zulassung des Fahrzeugs zum Verkehr geknüpft (7 Ob 22/73 ZVR 1974/158, 240; 3 Ob 491/59 SZ 33/9).
[42] 3.4. Da – wie bereits erörtert – der Anwendungsbereich des KHVG auch im vorliegenden Fall eröffnet ist, kann die Klägerin ihren Anspruch aus dem Verkehrsunfall gegen die Beklagte nicht geltend machen. Denn es liegen die Voraussetzungen des § 24 Abs 3 Satz 2 KHVG vor. Eine Haftung nach § 158c VersVG scheidet schon nach § 24 Abs 5 KHVG aus.
4. Ergebnis und Kosten
[43] Aus den angeführten Gründen ist die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.
[44] Die Kostenentscheidung für das Rechtsmittelverfahren gründet sich auf § 41 iVm § 50 ZPO. Der für die Berufungsbeantwortung verzeichnete Streitgenossenzuschlag gebührt nicht, weil der Beklagten im Berufungsverfahren nicht mehrere Personen gegenüberstanden und der Anwalt der Beklagten auch nicht mehrere Parteien vertrat (§ 15 RATG).
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