OGH 1Ob4/12p

OGH1Ob4/12p24.5.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Grohmann, Univ.-Prof. Dr. Kodek, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. E***** M*****, 2. K***** M*****, vertreten durch Dr. Walter Müller, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagten Parteien 1. Land Oberösterreich, vertreten durch Dr. Thomas Langer, Rechtsanwalt in Linz, 2. Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen je 230.000 EUR sA und Feststellung (Streitwert jeweils 40.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 14. November 2011, GZ 14 R 155/11h-39, mit dem das Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 10. Juni 2011, GZ 1 Cg 215/08h-34, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Der Antrag auf Zuspruch von Kosten für die Revisionsbeantwortung der erstbeklagten Partei wird gemäß § 508a Abs 2 Satz 2 ZPO abgewiesen.

Text

Begründung

Die Klägerinnen machten geltend, dass sich nach der Scheidung ihrer Eltern zunächst bei der Erstklägerin und in der Folge auch zunehmend bei der Zweitklägerin aufgrund der Pflege und Erziehung durch ihre Mutter tiefgreifende psychische Probleme gezeigt hätten, die - aus jetziger Sicht - mit Sicherheit auf eine schwere psychische Erkrankung der Mutter zurückzuführen seien. Die Organe der Erstbeklagten hätten es unterlassen, Maßnahmen nach § 215 ABGB zu setzen und die Klägerinnen bereits im Sommer 2000 aus dem Haushalt der Mutter zu entfernen. Der zuständige Pflegschaftsrichter habe keine Maßnahmen nach § 176 ABGB beschlossen und nach Erreichung der Volljährigkeit der Erstklägerin nicht umgehend für die Einleitung eines Sachwalterschaftsverfahrens gesorgt.

Rechtliche Beurteilung

Das Berufungsgericht bestätigte die abweisende Entscheidung des Erstgerichts. Die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Klägerinnen zeigt keine Rechtsfragen von der Bedeutung des § 502 Abs 1 ZPO auf.

1.1 Der Rechtsmittelgrund der Aktenwidrigkeit wird nur bei Vorliegen eines Widerspruchs zwischen dem Akteninhalt und den die Entscheidung tragenden wesentlichen Tatsachen verwirklicht (Zechner in Fasching/Konecny 2 IV/1 § 503 ZPO Rz 159; RIS-Justiz RS0043421). Demgegenüber begründet eine vom Berufungsgericht vorgenommene Wertung ebensowenig eine Aktenwidrigkeit im Sinn des Gesetzes wie eine Schlussfolgerung, gleich ob diese tatsächlicher oder rechtlicher Natur ist (RIS-Justiz RS0043277; RS0043256 [T1]).

1.2 Das Jugendwohlfahrtsgesetz behandelt in seinem fünften Abschnitt Hilfen zur Erziehung und fasst damit letztlich jede Art des Einschreitens der Jugendwohlfahrt im Sinne des § 2 Abs 2 JWG zusammen, um einen Erziehungsmangel des Erziehungsberechtigten auszugleichen (vgl Ent/Frischengruber, Jugendwohlfahrtsrecht, § 26 Anm 4). Der Hinweis des Berufungsgerichts auf eine „zumindest nur beschränkt gegebene Erziehungsfähigkeit“ der Mutter, die den Behörden offenkundig bewusst gewesen sei, umschreibt als rechtliche Schlussfolgerung die Annahme eines Erziehungsmangels und stellt damit keine Aktenwidrigkeit dar. Die Revision wirft den Organen der Beklagten auch gar nicht vor, dass diese von einer „zumindest nur beschränkt gegebenen Erziehungsfähigkeit“ ausgingen, sondern dass sie der Mutter eine solche nicht zur Gänze aberkannten bzw darüber kein Gutachten einholten. Damit ist aber die Vertretbarkeit des Organhandelns als Rechtsfrage angesprochen.

2. Liegt die Schadensursache in einer rechtswidrigen Unterlassung, hat der beklagte Rechtsträger zu beweisen, dass die für ihn zur Handlung berufenen Organe die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung des Schadens getroffen hatten oder dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Tun eingetreten wäre; steht die Übertretung eines Schutzgesetzes fest, kann sich der beklagte Rechtsträger von seiner Haftung nur noch befreien, wenn er mangelndes Verschulden seiner Organe nachweist (Schragel, AHG3 Rz 141). Das folgt aus § 1 Abs 1 AHG, wonach der in Anspruch genommene Rechtsträger für ein rechtswidriges Verhalten seines Organs nur haftet, wenn es auch schuldhaft ist. Im Amtshaftungsprozess ist daher zu prüfen, ob die Entscheidung bzw das Verhalten auf einer bei pflichtgemäßer Überlegung vertretbaren Gesetzesauslegung oder Rechtsanwendung beruhte (RIS-Justiz RS0049955 [T8]). Die Prüfung der Vertretbarkeit einer Rechtsauffassung als Verschuldenselement ist ganz von den Umständen des Einzelfalls abhängig und entzieht sich deshalb regelmäßig einer Beurteilung als erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO (RIS-Justiz RS0110837; RS0049955 [T10]). Eine solche liegt im Allgemeinen nur dann vor, wenn eine gravierende Fehlbeurteilung in der Einstufung einer Rechtsansicht als vertretbar durch die Instanzen im Amtshaftungsverfahren erfolgte (1 Ob 6/11f mwN).

3.1 Die Revisionswerberinnen lasten den Organen der Beklagten an, dass sie sofortige Maßnahmen im Sinne eines Entzugs der Obsorge nach §§ 215, 176 ABGB unterließen und verweisen dazu auf die nach den Feststellungen der Vorinstanzen den Behörden in den jeweiligen Anlassverfahren nach dem Inhalt ihrer Akten bekannten Vorgänge, die bereits in der Zeit bis einschließlich September 2001 zu ihrer Fremdunterbringung führen hätten müssen. Bereits das Berufungsgericht hat dazu eingeräumt, dass im Nachhinein gesehen ein anderes Vorgehen der Organe der Beklagten dem Wohl der Klägerinnen eher entsprochen hätte. Die Beurteilung, ob Organe der Jugendwohlfahrt bzw das Pflegschaftsgericht mit den tatsächlich getroffenen Entscheidungen in unvertretbarer Weise gegen ihre Pflichten verstoßen haben, hat aber aus einer ex ante Betrachtung zu erfolgen.

3.2 Maßnahmen nach § 176 Abs 1 ABGB, insbesondere die gänzliche oder teilweise Entziehung der Obsorge über das Kind, setzen eine Gefährdung des Kindeswohls durch den mit der Obsorge betrauten Elternteil voraus. Die Beschränkung der Obsorge darf nur das letzte Mittel sein und nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist (3 Ob 155/11g; RIS-Justiz RS0048712). Dabei ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (RIS-Justiz RS0048699; RS0047841). Die Entziehung oder Einschränkung elterlicher Rechte und Pflichten kann nur als äußerste Maßnahme gerechtfertigt werden (5 Ob 103/10y mwN). Diese Grundsätze gelten für den Anwendungsbereich des § 176 Abs 1 ABGB ebenso wie für die Interimskompetenz des Jugendwohlfahrtsträgers nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB, wenn im Bereich von Pflege und Erziehung Gefahr im Verzug ist. Auch die vom Jugendwohlfahrtsträger gesetzten Interimsmaßnahmen müssen den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des gelindesten Mittels (§ 176b ABGB) entsprechen (Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 215 Rz 2; Hopf in KBB³ § 215 Rz 2; Kathrein in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ § 215 Rz 12). Der Grundsatz des geringst möglichen Eingriffs in das durch Art 8 MRK geschützte Recht der Eltern auf Obsorge für ihre Kinder (vgl dazu Hopf aaO § 176b Rz 1) ist für den Wirkungsbereich der öffentlichen Jungendwohlfahrt auch in § 2 Abs 3 JWG verankert.

4. Während des von den Revisionswerberinnen primär angesprochenen Zeitraums bis September 2001 haben zunächst die Organe der Jugendwohlfahrt und nach dessen Einschaltung ab Mai 2001 auch das Pflegschaftsgericht danach getrachtet, unter Einbindung der Mutter, aber auch des Vaters der Klägerinnen, die von Seiten der Schule aufgezeigten Probleme im Verhältnis zu dem von den Klägerinnen nunmehr eingeforderten Obsorgeentzug mit gelinderen Mitteln zu lösen. Auf die Nichteinhaltung von Terminen seitens der Mutter bzw der damals fast 15-jährigen Erstklägerin reagierten die Organe der Erstbeklagten mit der Einschaltung des Pflegschaftsgerichts. Der Pflegschaftsrichter verschaffte sich in Gesprächen mit der Mutter und den Kindern ein persönliches Bild und gab letztlich ein Sachverständigengutachten zur Frage der im Kindeswohl zu setzenden Maßnahmen in Auftrag. Dieses lag Anfang Dezember 2001 vor und hob, wenngleich es den Ernst der Situation aufzeigte, hervor, dass Interventionen von außen - seitens der Jugendwohlfahrt oder des Gerichts - dramatische Auswirkungen haben könnten, und riet damit de facto von den nunmehr vermissten Maßnahmen ab. Stattdessen empfahl der Sachverständige eine umfangreiche Betreuung durch einen pädagogisch geschulten Therapeuten. In weiterer Folge schlossen die vom Sachverständigen angeregten Betreuungsmaßnahmen an, die von den Organen der Jugendwohlfahrt unter Einbindung des Pflegschaftgerichts und auch des mit der Sache vertrauten Sachverständigen, der Helferkonferenzen beigezogen wurde, begleitet waren. Hinzu kommt, dass nach den den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen der Vorinstanzen bis zum Hausbesuch im Jahr 2005 keine Hinweise auf Verwahrlosungsanzeichen oder erhebliche Mängel in pflegerischer bzw hygienischer Hinsicht feststellbar waren. Betrachtet man das Vorgehen der Organe der Beklagten vor dem Hintergrund der ihnen jeweils verfügbaren Entscheidungsgrundlagen, liegt in der Einschätzung der Vorinstanzen, die darin kein unvertretbares Fehlverhalten zu erblicken vermochten, keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung.

5. Auch der Umstand, dass das Pflegschaftsgericht kein „erwachsenenpsychiatrisches“ Gutachten betreffend die Mutter der Klägerinnen einholte, das nach deren Vorstellungen bereits im Jahr 2001 eine psychische Erkrankung und damit deren fehlende Erziehungsfähigkeit zutage gebracht hätte, stellt keine solche Fehlbeurteilung dar. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass von den Behörden erkannte Mängel in der Erziehungsfähigkeit der Mutter Grundlage von deren Entscheidungen waren. Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass diese Defizite ein Ausmaß erreicht hätten, die Erziehungsfähigkeit der Mutter insgesamt in Frage zu stellen und dies durch ein Gutachten allenfalls zu verifizieren, ergaben sich aus damaliger Sicht selbst aus den Stellungnahmen des dem Verfahren laufend beigezogenen Sachverständigen nicht. Dieser hat erstmals anlässlich des Reflexionsgesprächs vom 13. 9. 2005 angekündigt, eine entsprechende Anregung in sein Gutachten über die Klägerinnen aufzunehmen, das am 12. 10. 2005 bei der Erstbeklagten einlangte.

6. Es trifft zu, dass der erste Senat des Obersten Gerichtshofs ein hoheitliches Handeln des Jugendwohlfahrtsträgers annimmt, wenn dieser seine Kompetenz zur Ergreifung vorläufiger Maßnahmen der Pflege und Erziehung gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB in Anspruch nimmt (1 Ob 49/05w; 1 Ob 58/05v). Die gegenteilige Ansicht der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts wurde in der Entscheidung 1 Ob 49/05w ausdrücklich abgelehnt. Dass der Verfassungsgerichtshof in einer nachfolgenden Entscheidung (VfGH vom 20. 6. 2007, B 181/06) die von den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts vertretene Auffassung festigte, begründet für sich keine vom erkennenden Senat aufzugreifende Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO. Ihr kommt im vorliegenden Verfahren auch keine Relevanz mehr zu. Für den Vorwurf der Unterlassung einer allfälligen Antragstellung im Zusammenhang mit der Entziehung der Obsorge nach § 215 Abs 1 erster Satz ABGB hat das Berufungsgericht das Verhalten der Organe der Erstbeklagten ohnedies den Kriterien des allgemeinen Schadenersatzrechts unterstellt und ein Verschulden verneint. Eine solche Ermessensentscheidung kann nur bei krasser Fehlbeurteilung eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung begründen (RIS-Justiz RS0087606 [T4]). Verneint man eine unvertretbare Verhaltensweise als Verschuldenselement und damit das Verschulden allgemein, kommt auch der Frage, ob ein Unterlassen von Maßnahmen nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB durch Organe der Jugendwohlfahrt hoheitlich zu beurteilen ist oder der Privatwirtschaftsverwaltung zugeordnet werden muss, nur noch theoretische Bedeutung zu. Über solche Fragen abzusprechen, ist nicht Aufgabe des Obersten Gerichtshofs (vgl dazu RIS-Justiz RS0002495).

7. Es ist prozessual unbedenklich, im Sinn der §§ 266 f ZPO unstrittiges Parteienvorbringen, wozu auch der Inhalt einvernehmlich verlesener Akten zählt, ohne weiteres der Entscheidung zugrunde zu legen. Die Berücksichtigung eines Akteninhalts im Rahmen der rechtlichen Beurteilung erfordert dann auch nicht die Durchführung einer Berufungsverhandlung (RIS-Justiz RS0121557; 2 Ob 204/10d für das Revisionsverfahren). Damit begründet es auch keine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, wenn das Berufungsgericht erklärte, die von den Klägerinnen in deren Berufung aus dem Inhalt von Behördenakten ergänzend geforderten Feststellungen der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen, ohne diese wörtlich in seine Entscheidung aufzunehmen. Inwieweit die in der Berufung noch gewünschten Feststellungen im Zuge der rechtlichen Würdigung durch das Berufungsgericht nicht berücksichtigt worden seien, legen die Klägerinnen in Ausführung ihres außerordentlichen Rechtsmittels nicht mehr dar, sodass die Revision der Klägerinnen insgesamt zurückzuweisen ist.

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