European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00110.23T.0920.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Amtshaftung inkl. StEG, Erwachsenenschutzrecht, Grundrechte, Persönlichkeitsschutzrecht, Schadenersatz nach Verkehrsunfall
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.300,93 EUR bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin 256,49 EUR USt und 762 EUR Pauschalgebühr) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Am 15. 10. 2018 (Montag) ereignete sich um 9:25 Uhr in * ein Verkehrsunfall, an dem M* F* als Lenker eines von der Klägerin gehaltenen Pkw und A* M* (in der Folge: „Betreuter“) als Fußgänger beteiligt waren.
[2] Der Betreute hat Trisomie 21 und leidet an Diabetes mellitus. Er war zum Unfallszeitpunkt 23 Jahre alt und seit 1. 4. 2014 durchgehend Klient bei der Beklagten in deren Werkstätte in *. Auch am Unfallstag wurde er betreut. In der Werkstätte waren im Unfallszeitpunkt sechs Klienten, die von einer diplomierten Sozialbetreuerin, einem Sozialpädagogen und einem Zivildiener betreut wurden. Die Betreuung findet Montag bis Donnerstag von 7:30 bis 12:45 Uhr und von 13:15 bis 15:45 Uhr statt, am Freitag von 7:30 bis 13:30 Uhr. Die beiden Mitarbeiter der Beklagten betreuten die sechs Klienten gemeinschaftlich. Der Sozialpädagoge betreute den Betreuten vor dem Unfall schon vier Jahre lang.
[3] Beim Betreuten lag zum Unfallszeitpunkt eine mittelgradige Intelligenzminderung mit einer weit unterdurchschnittlich ausgeprägten Aufmerksamkeitsleistung und deutlich reduzierter Urteils- und Kritikfähigkeit vor. Sein psychomentaler Zustand, der diverse kognitive Funktionen, Fähigkeiten und Verhaltensbereitschaften umfasst, lag im Unfallszeitpunkt unter dem Entwicklungsstand eines gesunden achtjährigen Kindes.
[4] Der Betreute war gerne handwerklich tätig. In der Werkstätte führte er viele Holzarbeiten aus, wie etwa das Herstellen von Insektenhäusern oder Hochbeeten. Er konnte auch lesen und schreiben und Lieferscheine verschiedener Unternehmen voneinander unterscheiden. Er konnte zudem seinen Blutzucker selbst messen, er merkte sich auch die Namen der anderen Klienten in der Werkstätte. Er führte Mäharbeiten für Gemeinden durch und arbeitete einmal die Woche bei einem Unternehmen. Die Mäharbeiten fanden neben einer auch von Autos befahrenen Straße statt. Bei diesen Mäharbeiten musste man ihn nur insoweit beaufsichtigen, als Benzin nachgefüllt werden musste oder man sagen musste, dass er auf einer bestimmten Fläche das Mähen vergessen habe.
[5] Der Betreuteging auch mit den anderen Klienten zum Mittagessen. Der dabei zurückgelegte Weg ist derselbe wie der, den er am Unfallstag zurücklegte. Er ging diesen Weg nahezu täglich auch im Zuge von Umbau- und Übersiedlungsarbeiten der Beklagten.
[6] Die Betreuer ließen die Klienten täglich selbständig die zu erledigenden Aufgaben auswählen. Siegriffennur dann ein, wenn zu viele Klienten eine Aufgabe übernehmen wollten, die für eine solche Anzahl nicht geeignet war, oder wenn einzelne Klienten aus Sicht der Betreuer nicht fähig waren, die Tätigkeit auszuüben.
[7] Der Betreute sah andere Klienten allein einkaufen gehen und äußerte daraufhin den Wunsch, er wolle dies auch machen. Ab April 2018 absolvierte er ein „Einkaufstraining“ dergestalt, dass er durch die Mitarbeiter der Beklagten auf das Allein-Einkaufen-Gehen vorbereitet werden sollte.
[8] Als Einkaufsziel wurde das Geschäft „*“ ausgewählt, weil man dort mit Lieferschein einkaufen konnte und die Straßenverbindung von der Werkstätte hin zu diesem Geschäft sehr übersichtlich ist. Der Weg ist in eine Richtung ca 300 Meter lang.
[9] Für die notwendige Überquerung der Straße zu diesem Geschäft steht ein Zebrastreifen zur Verfügung, den der Betreute am Unfallstag aber nicht nutzte. Ihm war von den Betreuern allerdings mitgeteilt worden, dass er den Zebrastreifen zu benützen hätte. Daraufachteten die Betreuer im Zuge des „Einkaufstrainings“ auch.
[10] Anfangs – ca drei Wochen lang – wurde der Betreute auf dem Einkaufsweg hin und zurück zum Geschäft begleitet. Dort kaufte er die Sachen allein ein, nachdem man ihm dies erklärt hatte. Beim begleiteten Einkaufen gehen wurde zu ihm beim Zebrastreifen „Stopp“ gesagt und er wurde auf die Gefahren des Straßenverkehrs hingewiesen. Die Betreuer stellten ihm in diesem Zusammenhang auch aktiv Fragen wie „Hast du das jetzt verstanden?“ und „Was ist jetzt da gefährlich?“. Er wusste auch, was ein Zebrastreifen ist.
[11] In weiterer Folge wurde der Betreute ein paar Wochen so begleitet, dass die Betreuer etwa zehn bis fünfzehn Meter hinter ihm gingen, um ihn aus der Nähe zu beobachten. Daraufhin beobachtete man ihn nur noch von der Werkstätte der Beklagten aus. Schließlich durfte er den Weg auch allein gehen. Es war das Ziel der Betreuer, den vom Betreuten geäußerten Wunsch, allein einkaufen zu gehen, Schritt für Schritt zu realisieren.
[12] Wenn der gemessene Zuckerwert des Betreuten in der Früh sehr niedrig war, durfte er nicht alleine einkaufen gehen. Auch wenn eine Baustelle auf dem Weg zum Geschäft war oder es schneite, ging er entweder in Begleitung oder wurde zumindest beobachtet.
[13] Die Beklagte gab keine konkreten Anweisungen an ihre Mitarbeiter, wie die Verkehrserziehung zu machen oder wie die Verkehrstüchtigkeit der Klienten zu prüfen sei. In der Werkstätte fanden allerdings Besprechungen statt, in denen auch der Straßenverkehr ein Thema war.
[14] Die Betreuer schätzten auf Basis ihrer Erfahrungen mit den Klienten selbst ein, ob diese aus ihrer Sicht verkehrstauglich seien. Die oder der Betreuer, der gerade vor Ort war und den der Klient aufsuchte, entschied, ob am jeweiligen Tag einzukaufen war.
[15] Am Unfallstag traf der Sozialpädagoge die Entscheidung, dass der Betreute einkaufen gehen durfte, nachdem dieserseinen Blutzucker gemessen und eine Jause bekommen hatte.
[16] Bei den Mitarbeitern der Beklagten erweckte der Betreute den Eindruck der Verlässlichkeit, wenn er einmal eine Tätigkeit gelernt hatte. Dies bezog sich sowohl auf das selbständige Einkaufen gehen als auch auf die anderen Arbeiten, die er durchführte. Bei den Mitarbeitern der Beklagten entstand auch der Eindruck, dass er die Gefahren des Straßenverkehrs einschätzen konnte.
[17] Mit S* R*, der Erwachsenenvertreterin und Pflegemutter des Betreuten (seit dessen erstem Lebensjahr), wurde das „Einkaufstraining“ und das anschließende Allein‑Einkaufen‑Gehen nicht besprochen. Sieerfuhr erst am Unfallsort, dass der Betreute allein einkaufen gehen durfte. Hätte sie davon gewusst, hätte sie sich gegenüber den Mitarbeitern der Beklagten dagegen ausgesprochen, weil sich nach ihren Erfahrungen der Betreute allein im Straßenverkehr nicht zurechtfinden konnte.
[18] Zum Unfallszeitpunkt herrschte Tageslicht und heitere bis bedeckte Witterung. Die Fahrbahn war trocken. Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit betrug im Bereich der Unfallstelle 50 km/h.Die 6,6 Meter breite *gasse verläuft im Unfallbereich in Nordsüdrichtung. Die Fahrbahn ist durch eine unterbrochene Leitlinie in zwei gleich breite Fahrstreifen unterteilt.
[19] Im Zuge des selbständigen Einkaufs überquerte der Betreute hinter einem langsam nach Norden fahrenden Klein-LKW die Straße mit einer Geschwindigkeit von ca 10 km/h.
[20] DerLenker und die Klägerin als Beifahrerin fuhren in deren Pkw mit ca 40 km/h die *gasse in Richtung Süden. Der Klein-LKW versperrte dem Lenker derart die Sicht, dass er den die Straße überquerenden Betreuten nicht wahrnehmen konnte. Der Lenkerreagierte bei erster möglicher Sicht auf den die Fahrbahn querenden Betreuten mit einer Vollbremsung, wobei er die Kollision nicht vermeiden konnte.
[21] Der Betreute hätte die Kollision verhindern können, wenn er vor dem Eintreten in den nach Süden führenden Fahrstreifen vorbei am Klein-LKW nach Norden geblickt, das herannahende Fahrzeug der Klägerin in relativ geringem Abstand gesehen und von einem Überqueren des Fahrstreifens Abstand genommen hätte. Bei einer Verkehrssituation, wie sie sich zum Unfallszeitpunkt dargestellt hat, benötigt eine Person ein vorausschauendes Gefahrenbewusstsein. Eine solche Fähigkeit entwickelt ein gesundes Kind erst ab einem kognitiv-psychischen Entwicklungsalter von acht Jahren. Notwendig sind zudem weitgehend intakte Aufmerksamkeitsfunktionen entsprechend diesem Alter, hinreichendes Kooperationsverhalten (Anpassungsbereitschaft) und sonstige praktische Erfahrungen als Fußgänger in anderen Verkehrssituationen.
[22] Der Betreute konnte trotz des von den Mitarbeitern der Beklagten durchgeführten „Einkauftrainings“ zum Unfallszeitpunkt die Gefahren des Straßenverkehrs nicht einsehen und sich dieser Einsicht gemäß entsprechend verhalten. Das von Mitarbeitern der Beklagten durchgeführte „Einkaufstraining“ war nicht geeignet, die Verkehrstüchtigkeit beim Betreuten herbeizuführen.
[23] Die Klägerin begehrt zuletzt die Zahlung von 5.510 EUR sA, nämlich Ersatz der unfallbedingten Wertminderung am Kfz von 3.460 EUR, Schmerzengeld für psychische Unfallfolgen (insbesondere Schlafstörungen) von 2.000 EUR und 50 EUR an unfallkausalen Spesen. Die Beklagte habe ihre Aufsichtspflicht nach §§ 1309, 1310 ABGB verletzt. Sie hätte im Rahmen der Betreuung erkennen müssen, dass der Betreute aufgrund seiner mangelnden Diskretions- und Dispositionsfähigkeit den allein unternommenen Einkaufsweg (noch) nicht unbegleitet bewältigen hätte können. Außerdem habe die Beklagte offenbar aus Bequemlichkeitsgründen Einkäufe im (damaligen) Kaufhaus „*“ erlaubt, anstatt den näher gelegenen „*“-Markt, der ohne Überquerung der stark frequentierten *gasse zu erreichen gewesen wäre, zu wählen. Haftungsbegründend sei auch das Organisationsverschulden der Beklagten, die keine internen Kriterien oder klare Entscheidungsträger für die Entscheidung über die unbeaufsichtigte Teilnahme am Straßenverkehr für die betreuten Personen vorsehe. Die Beklagte habe auch ein Überwachungsverschulden zu vertreten, weil es verbindlicher Vorgaben an ihre professionell aufsichtspflichtigen Gehilfen betreffend die Entlassung der assistierten Personen in die unbeaufsichtigte, eigenständige Teilnahme am Straßenverkehr bedurft hätte, deren Umsetzung und Einhaltung entsprechend zu überwachen gewesen wäre. Für die Beklagte gelte der erhöhte Sorgfaltsmaßstab des § 1299 ABGB. Die Klägerin treffe kein Verschulden gemäß § 1308 ABGB.
[24] Die Beklagte wendet ein, ihren Klienten im Rahmen deren Assistenz nach den Zielen des Tiroler Teilhabegesetzes (TTHG) ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, dies abgestimmt von den geschulten, erfahrenen und verantwortungsvollen Mitarbeitern auf den jeweiligen Klienten mit jeweils individueller Einschätzung dessen Fähigkeiten, Möglichkeiten und besonderen Lebensumständen; es gehe um entsprechende Sicherstellung dessen Wahl- und Grundbedürfnissen gegenüber der Sicherstellung der Bedürfnisse der Gesellschaft dem Klienten gegenüber. Hinsichtlich des Betreuten habe man die entsprechenden Maßnahmen getroffen; die Forderungen der Klägerin liefen auf ein Ein- und Wegsperren von Menschen ab einem bestimmten Erheblichkeitsgrad besonderer Bedürfnisse hinaus. Dass der Betreute entgegen allen Trainings und beobachteten Erfahrungen die Straße gequert habe, sei unvorhersehbar gewesen. Bei der nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalls zu beurteilenden Aufsichtspflicht sei auf die geradezu Musterhaftigkeit des Betreuten in der Umsetzung der Zielsetzungen des TTHG in Richtung Selbstbestimmung und Selbstständigkeit hinzuweisen. Eine Bewachung rund um die Uhr sei weder dem Betreuer noch den Betroffenen zumutbar. Die Beklagte und deren Mitarbeiter treffe kein Verschulden.
[25] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Ein Fall nach § 1308 ABGB, wonach der Geschädigte keinen Ersatz ansprechen könne, liege nicht vor. Jedoch sei eine Haftung nach § 1309 ABGB zu verneinen, weil für die Mitarbeiter der Beklagten die mangelnde Verkehrsfähigkeit des Betreuten nicht erkennbar gewesen sei. Sie hätten aufgrund des „Einkaufstrainings“ davon ausgehen dürfen, dass der Betreute die Gefahren im Straßenverkehr erkannt habe und sich dieser Einsicht gemäß auch verhalten würde. Die Verkehrsfähigkeit jedes einzelnen Klienten durch einen Sachverständigen evaluieren zu lassen, wäre wirtschaftlich nicht zumutbar und würde wohl dazu führen, dass sich die Klienten bei der beklagten Partei nur mehr sehr eingeschränkt außerhalb der jeweiligen Werkstätte bewegen dürften. Zu beachten sei auch die Zielsetzung des § 1 TTHG.
[26] Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahin ab, dass es mit Zwischenurteil das Leistungsbegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannte, und ließ die ordentliche Revision zu.
[27] Die Mitarbeiter der Beklagten (diplomierte Sozialbetreuerin und Sozialpädagoge) seien als fachkundig nach § 1299 ABGB anzusehen. Jedoch selbst ohne einschlägige Fachkenntnisse hätte schon der gewöhnlich „maßgerechte“ Aufsichtspflichtige, etwa ein Elternteil, gegebenenfalls die konkrete Gefahrenlage und damit die Möglichkeit eines schädigenden Verhaltens des Aufsichtsbefohlenen anders eingeschätzt. Außerdem habe die (berechtigte aber falsche) Annahme der „Verkehrssicherheit“ des Betreuten (nur) auf der subjektiven Einschätzung der Mitarbeiter der Beklagten beruht, denen solcherart bewusst sein habe müssen, dass sie keine „absolute“/objektivierbare Sicherheit der Richtigkeit dieser Einschätzung hätten. Es seienauch keine stichhaltigen Gründe vorgebracht worden, warum die Beklagte dem Anliegen des Betreuten, allein einkaufen gehen zu können, nicht dadurch nachkommen hätte können, dass er in den anderen Einkaufsmarkt, zu dem er ohne Überquerung der frequentierten Straße gelangen hätte können, geschickt worden wäre.Der Umstand, dass das dem Betreuten angewiesene Geschäft Lieferscheine akzeptiert habe, sei kein Argument, die Gefährlichkeit des Weges in Kauf zu nehmen. Die Beklagte hafte daher nach § 1309 ABGB dem Grunde nach für die der Klägerin aus dem vom Betreuten verursachten Verkehrsunfall entstandenen Schadensfolgen.
[28] Die Revision sei wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Einhaltung des anzulegenden Sorgfaltsmaßstabs bei der Beaufsichtigung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen gegenüber deren Wunsch nach bzw deren Recht auf selbstbestimmte Teilnahme an allen Lebensbereichen der Gesellschaft zulässig.
[29] Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[30] Die Klägerin beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
[31] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[32] 1. Der Rechtsweg für die Klage der geschädigten Klägerin gegen die beklagte Dienstleisterin ist zulässig.
[33] 1.1. Die Klägerin behauptet als Geschädigte des vom volljährigen Betreuten verursachten Verkehrsunfalls gegenüber der Beklagten auf der Grundlage von § 1309 ABGB Schadenersatzansprüche infolge schuldhafter Verletzung deren Aufsichtspflicht zu haben.
[34] 1.2. Die Beklagte war nach § 17 Abs 2 des bis 30. 6. 2018 in Kraft gestandenen Tiroler Rehabilitationsgesetzes (LGBl 1983/58 idF LGBl 2010/100; aufgehoben durch § 56 Abs 1 TTHG) vom Land Tirol im Rahmen einer Vereinbarung beauftragter Rechtsträger einer sogenannten Einrichtung und ist nunmehr nach § 3 lit g, § 42 Tiroler Teilhabegesetz (LGBl 2018/32 idgF; kurz: TTHG) vom Land Tirol mit Rahmenvereinbarung beauftragte sogenannte Dienstleisterin.
[35] Von der Klägerin nicht konkret bestritten (und damit unstrittig im Sinn von § 267 ZPO), liegt dem jeweiligen „Klientenverhältnis“ regelmäßig ein Vertrag zwischen dem Betreuten und der Beklagten zugrunde (vgl zur „Dienstleistungsvereinbarung“ in den Qualitätsstandards der Tiroler Behindertenhilfe Beilage ./15).
[36] Das Land Tirol übernahm für den Betreuten seit April 2014 die Kosten für den Besuch der Werkstätte der Beklagten (Leistungen für Beschäftigungs- und Arbeitstherapie gemäß § 7 Tiroler Rehabilitationsgesetz; Bescheid Beilage ./5 [unstrittig]) und seit 1. 7. 2020 die Leistung Arbeit–Tagesstruktur (§ 5 Abs 1 lit f, § 11 TTHG). Der Betreute war der Gruppe „Arbeit/Tagesstruktur“ der Beklagten zugeordnet.
[37] 1.3. Sowohl nach dem früheren Tiroler Rehabilitationsgesetz als auch nunmehr nach dem TTHG erfolgt die Leistungserbringung des Landes Tirol im Rahmen der Rehabilitation/Behindertenhilfe durch ein „duales“ System sowohl im Rahmen der Hoheitsverwaltung als auch der Privatwirtschaftsverwaltung (§ 25 Tiroler Rehabilitationsgesetz; § 26 TTHG).
[38] 1.3.1. Zwischen dem Land Tirol (vertreten durch die Landesregierung: § 25 Abs 2 Tiroler Rehabilitationsgesetz, § 26 Abs 4 TTHG) als Träger der Behindertenhilfe und der Beklagten als eigentlicher Leistungserbringerin besteht ein privatrechtlicher Vertrag. Diesen Vertrag hat das Land Tirol nicht im Rahmen der Hoheitsverwaltung, sondern der Privatwirtschaftsverwaltung abgeschlossen. Dies normierte § 17 Abs 2 Tiroler Rehabilitationsgesetz, wonach das Land als Träger von Privatrechten mit Einrichtungen, deren Eignung nach § 18 leg cit festgestellt wurde, Vereinbarungen über deren Mitarbeit im Bereich der Rehabilitation schließen kann. Nach § 42 Abs 1 TTHG kann (nunmehr) das Land zur Sicherstellung von Leistungen nach § 5 leg cit Vereinbarungen mit Dienstleistern abschließen, sodass diese insbesondere nach § 42 Abs 3 leg cit die von ihnen erbrachten Leistungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen nach diesem Gesetz direkt mit dem Land abrechnen können. Die Einhaltung der für die Eignung der Dienstleister vorgesehenen Kriterien wird im Rahmen der behördlichen Aufsicht (§ 43 TTHG) überprüft. Bei Nichteinhaltung greifen die in der Rahmenvereinbarung festgelegten zivilrechtlichen Konsequenzen (insbesondere Kündigung der Rahmenvereinbarung nach § 42 leg cit). Zusätzlich können im Rahmen der Hoheitsverwaltung für einzelne Einrichtungen von Dienstleistern weitere fachlich notwendige Maßnahmen (§ 41 Abs 8 und § 43 Abs 2 TTHG) ergriffen werden (Landtagsmaterialien 480/17, S 21).
[39] 1.3.2. Die Rechtsbeziehung zwischen dem Land Tirol und dem Betreuten unterliegt dem Verwaltungsrecht. Nach § 25 Abs 1 Tiroler Rehabilitationsgesetz war über die Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen – wie hier der Beschäftigungs‑ und Arbeitstherapie (Ergotherapie; § 7 Tiroler Rehabilitationsgesetz) – im Verwaltungsweg zu entscheiden. Dementsprechend erließ die zuständige Bezirkshauptmannschaft am 1. 4. 2014 einen Bescheid, wonach für den Betreuten gemäß § 7 Tiroler Rehabilitationsgesetz für einen bestimmten Zeitraum die Kosten für den Besuch der Werkstätte * der Beklagten übernommen wurden (Beilage ./5).
[40] Gemäß § 26 Abs 1 TTHG entscheiden nunmehr die Bezirksverwaltungsbehörden im Verwaltungsweg mit schriftlichem Bescheid in Angelegenheiten insbesondere nach § 5 Abs 1 lit f leg cit über die Leistungen Arbeit-Tagesstruktur. Nach § 11 Abs 1 TTHG sollen die Leistungen Arbeit‑Tagesstruktur Menschen mit Behinderungen bedarfsgerecht bei der Strukturierung des Tages unterstützen und fördern und/oder auf den Arbeitsmarkt vorbereiten. In § 11 leg cit wird ein breites Angebot von tagesstrukturellen Leistungen aufgezählt. Durch dieses breite Angebot haben Menschen mit Behinderungen eine größere Wahlmöglichkeit, eine ihren individuellen Fähigkeiten, Kenntnissen und Bedürfnissen entsprechende Leistung zu wählen (Landtagsmaterialien 480/17, S 12).
[41] 1.3.3. Die Rechtsbeziehung zwischen der Beklagten und einem Betreuten entsteht, wenn dieser die ihm mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft zuerkannte Leistung bei der Beklagten in Anspruch nimmt. Der Betreuung liegt eine privatrechtliche Vereinbarung zwischen dem Betreuten und der Beklagten zugrunde. Von maßgeblicher Bedeutung ist, dass der Betreute nur mit seiner Zustimmung oder der seines Vertreters die Leistung Arbeit-Tagesstruktur der Beklagten (und nicht etwa durch hoheitliche Zuweisung) in Anspruch nimmt. Allein die von der Beklagten mit dem Betreuten vereinbarte Art der Leistung entspricht dem Leistungskatalog des Landes. Mit der Erbringung der Leistung „Arbeit-Tagesstruktur“ kommt damit ein Vertrag zwischen dem Betreuten und der beklagten Betreuungsinstitution zustande.
[42] 1.3.4. Wenn der Gesetzgeber – wie hier in § 42 TTHG – ausdrücklich den Abschluss eines privatrechtlichen Vertrags vorsieht, dann spricht dies für die Anordnung von Privatwirtschaftsverwaltung und nicht von Hoheitsverwaltung – auch im amtshaftungsrechtlichen Sinn (Holoubek/Kristoferitsch, Hoheitsverwaltung und Privatwirtschaftsverwaltung – Abgrenzung revisited, ecolex 2017, 595 [596]). Da die Rechtsbeziehung der Beklagten sowohl zum Betreuten als auch zum Land Tirol – das in § 42 Abs 1 TTHG ausdrücklich als Träger der Privatwirtschaftsverwaltung genannt wird – auf privatrechtlicher Grundlage erfolgt, kann die Klägerin ihre behaupteten Schadenersatzansprüche gegen die beklagte Dienstleisterin im Zivilrechtsweg geltend machen.
[43] 1.4. Zu 1 Ob 19/13w (= SZ 2013/35) qualifizierte der erkennende Senat die Betreuung und Förderung eines behinderten Menschen nach dem Oö BhG 1991 und nachfolgend dem Oö ChG (LGBl 2008/41) durch eine Einrichtung der Eingliederungshilfe demgegenüber als hoheitliche Maßnahme. Die Förderung und Betreuung eines behinderten Menschen in einer vom Land Oberösterreich als Sachleistung zur Verfügung gestellten Betreuungseinrichtung erwies sich – ähnlich wie die Ausbildung und Betreuung im Schulunterricht – als hoheitliche Maßnahme. Diese Rechtsansicht basierte vornehmlich darauf, dass die Beziehung zwischen dem Land Oberösterreich und den Betreuungseinrichtungen in hoheitlicher Form als öffentlich‑rechtliches Verhältnis konzipiert sei (Punkt 2.).
[44] Damit unterscheidet sich der dort beurteilte Fall wesentlich vom gegenständlichen, schließt doch das Land Tirol nach § 42 TTHG im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung zur Sicherstellung von Leistungen Rahmenvereinbarungen mit Dienstleistern (wie der Beklagten) ab, sofern das Land Tirol (wie hier) die Leistungen nicht selbst erbringt (dazu Landtagsmaterialien 480/17, S 21)
2. Zur behaupteten Aufsichtspflicht der Beklagten über den volljährigen Betreuten:
[45] 2.1. Die Klägerin stützt ihre Schadenersatzansprüche nur auf die Haftung der Beklagten nach § 1309 ABGB. Andere Anspruchsgrundlagen behauptet sie nicht.
[46] 2.2. Wenn Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben, oder Unmündige jemanden beschädigen, der durch irgendein Verschulden hierzu selbst Veranlassung gegeben hat, so kann er nach § 1308 ABGB keinen Ersatz ansprechen. Außer diesem Fall gebührt ihm gemäß § 1309 ABGB der Ersatz von denjenigen Personen, denen der Schaden wegen Vernachlässigung der ihnen über solche Personen anvertrauten Obsorge beigemessen werden kann.
[47] 2.3. Die Vorinstanzen haben mangels Verschuldens auf Klagsseite den Haftungsausschluss nach § 1308 ABGB zutreffend verneint, sodass die Haftung der Beklagten nach § 1309 ABGB zu prüfen ist.
[48] 2.4. Die Beklagte hat in erster Instanz – von der Klägerin unbestritten – ihre Aufgaben und Leistungen eingehend dargestellt: Sie verweist auf die Lebenshilfe als ihre Aufgabe. Als Geschäftszweig ist „sozialer Dienstleistungsträger“ im Firmenbuch eingetragen. Die Beklagte übernimmt es, Menschen zu assistieren, die eine besondere Assistenz benötigen; dies geschieht im Rahmen des TTHG. Ihre Arbeit verfolgt den Zweck, Menschen mit einem Handicap nicht „wegzusperren“, sondern entsprechend den Zielen nach § 1 Abs 1 TTHG („a) zur Verwirklichung einer inklusiven Gesellschaft beizutragen und Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, b) die volle, wirksame, gleichberechtigte und nicht diskriminierende Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und Menschen mit Behinderungen bei der Überwindung von Barrieren, die eine solche Teilhabe erschweren, zu unterstützen“) und den völkerrechtlichen und supranationalen Verpflichtungen – insbesondere der einschlägigen UN-Konvention – am täglichen Leben teilnehmen zu lassen und sie in dieses, ihren jeweiligen Bedürfnissen entsprechend, zu integrieren. Diese Tätigkeit wird von besonders geschulten Personen im Rahmen ihres Betriebs erbracht.
[49] Aus dem Gesagten geht hervor, dass sich die Beklagte dazu bekennt, die insbesondere an den Zielen des § 1 Abs 1 TTHG orientierte Betreuung von Menschen mit Behinderungen und die Arbeit mit diesen fachkundig leisten zu können.
[50] 2.5. Die beklagte Dienstleisterin haftet nicht gemäß § 1309 ABGB für den der Klägerin (als Dritter) wegen behaupteter Verletzung ihrer Aufsichtspflicht über den Betreuten verursachten Schaden aus dem Verkehrsunfall:
[51] 2.5.1. Die Frage der Aufsichtspflicht stellt sich nur bei beschränkter oder fehlender Deliktsfähigkeit der vertretenen Person, weil deliktsfähige (volljährige) Personen für verursachte Schäden selbst haften. Der Betreute war im Zeitpunkt des Unfalls 23 Jahre alt und damit volljährig. Er hatte eine Erwachsenenvertreterin. Das Wirksamwerden einer Erwachsenenvertretung hat aber keinen Einfluss auf die Deliktsfähigkeit der betroffenen Person. Diese richtet sich nach Vollendung des 14. Lebensjahres ausschließlich nach der tatsächlichen Entscheidungsfähigkeit. Auch führt das Wirksamwerden einer Erwachsenenvertretung nicht dazu, dass eine vertretene Person einem Minderjährigen eines bestimmten Alters gleichgestellt wird (Barth/Ganner in Barth/Ganner, Handbuch des Erwachsenenschutzrechts3 [2019], 198; Bollenberger in Deixler‑Hübner/Schauer, HB Erwachsenenschutzrecht [2018] Rz 10.8).
[52] Die Aufsichtspflicht über Kinder (§ 160 ABGB) erlischt als Teil der Obsorge gemäß § 183 ABGB prinzipiell mit dem Eintritt der Volljährigkeit (Barth/Ganner in Barth/Ganner, Handbuch des Erwachsenenschutzrechts3 [2019], 198).
[53] 2.5.2. Zu 3 Ob 663/29 (= JBl 1930, 343) begehrte der Kläger, der sich als Patient einer im Eigentum der beklagten Gemeinde stehenden Heilanstalt mit einem Brotmesser Verletzungen beibrachte, Schadenersatz. Der Oberste Gerichtshof erachtete unter anderem wegen der Ähnlichkeit des Verhältnisses mit einem Krankenpflegevertrag auch die Haftung der Beklagten für die Tätigkeit der Organe oder von Angestellten als Erfüllungsgehilfen bezüglich der Anhaltung des Klägers und seiner Beaufsichtigung „im besonderen“ für denkbar. „Unter Berücksichtigung des § 1309 ABGB“ müsse der Geschädigte die Unterlassung der Obsorge beweisen, der Aufsichtspflichtige aber seine Schuldlosigkeit.
[54] Zu 7 Ob 175/06w erachtete der Oberste Gerichtshof die deliktische Haftung eines Behindertenbetreuers nach § 1309 ABGB gegenüber dem betreuten Behinderten wegen Verletzung der Aufsichtspflicht für möglich (ebenso Harrer/Wagner in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 1309 ABGB Rz 2).
[55] 2.5.3. Nach Zeiller (Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie III/2 [1813], 733) ist die Obsorge über „solche verstandlose Personen“ auch den „von der Obrigkeit oder von Privaten bestellten Aufsehern“ anvertraut.
[56] Nach Randa (Die Schadenersatzpflicht nach österreichischem Rechte3 [1913], 108) unterliegen der Haftung nach § 1309 ABGB insbesondere „Krankenwärter“, sofern „sie es an der gehörigen Überwachung der ihrer Obhut anvertrauten Personen mangeln lassen“.
[57] Wolff (in Klang2 VI 76) führt allgemein zu § 1309 ABGB aus, die Aufsichtspflicht könne sich unmittelbar aus dem Gesetz oder kraft Rechtsgeschäfts (zB für eine Erzieherin) ergeben.
[58] Gestützt auf die Entscheidung 7 Ob 175/06w leitet Schacherreiter (in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.09 § 1309 Rz 4) die Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB infolge rechtsgeschäftlicher Verpflichtung für ein Behindertenheim ab, obwohl dort der Oberste Gerichtshof argumentierte, dass die Sozialeinrichtung aufgrund eines Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter – der Vereinbarung des Bundeslandes mit ihr über die direkte Leistungserbringung – bei allfälligen Fehlern in der täglichen Betreuung hafte.
[59] St. Weber (Rechtliche Möglichkeiten bei Problemen mit agressiven KlientInnen, ÖZPR 2016/117, 184 [185]) erachtet es für durchaus möglich, den Träger einer (Behinderten‑)Einrichtung gemäß § 1309 ABGB für den Schaden eines Dritten (BesucherInnen einer Einrichtung) wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht über den betreffenden Menschen mit Beeinträchtigungen heranzuziehen.
[60] Keine dieser Ansichten begründet näher, warum der Träger eines Behindertenheims für die vernachlässigte Aufsicht über eine behinderte volljährige Person nach § 1309 ABGB haften soll.
[61] 2.5.4. Gegenteiliger Ansicht ist Ganner (Selbstbestimmung im Alter, Privatautonomie für alte und pflegebedürftige Menschen in Österreich und Deutschland [2005], 340 ff; ders, Besondere Aspekte des Heimvertragsrechts, in Bundesministerium für Justiz, Recht und Würde im Alter [2006], 139 [153 f]; ders, Grundzüge des Alten‑ und Behindertenrechts3 [2020], 246 ff; ders, Aufsichtspflicht in der Pflege, ÖZPR 2022/48, 84 ff).
[62] Eine Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB bestehe nur dann, wenn dies durch Gesetz festgelegt oder durch Vertrag vereinbart werde. Beides sei bei volljährigen Personen nicht der Fall. Regelmäßig werde zwischen der Betreuungsinstitution und der zu betreuenden oder zu pflegenden Person ein Vertrag geschlossen. Der Inhalt dieser Verträge begründe aber in keinem Fall die Pflicht zur Aufsicht über die pflegebedürftige Person. Das wäre auch nicht im Interesse der betroffenen Person. Zweifellos bestünden aber im Rahmen der vertraglichen Nebenpflichten gewisse Schutz- und Sorgfaltspflichten gegenüber dem jeweiligen Vertragspartner. In diesem Zusammenhang sei die Pflicht zur Beaufsichtigung in einem dem Gesundheitszustand der betroffenen Person entsprechenden und daher individuellen Ausmaß anerkannt. Das Ausmaß der Sorgfalts‑ oder Beaufsichtigungspflichten bei volljährigen Personen – insbesondere bei dementen Personen – orientiere sich an den Schutzpflichten aus dem Vertrag, an den strafrechtlichen Hilfeleistungspflichten und an den allgemeinen Verkehrssicherungspflichten. Dem Schutz von Leben und Gesundheit komme im Rahmen von Betreuungsverträgen vorrangige Bedeutung zu. Alle Maßnahmen der Beaufsichtigungs‑ und Betreuungspflicht seien aber grundsätzlich begrenzt durch das verfassungsrechtlich verankerte Recht auf Selbstbestimmung.
[63] Eine Haftung einer Betreuungseinrichtung oder von Betreuungspersonal gegenüber Dritten, bei denen die betreute Person einen Schaden verursache, komme, wenn es sich nicht um Mitbewohner oder Personal handle (denen gegenüber Fürsorgepflichten bestehen), nur bei Verletzung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten in Betracht. Diese Haftung trete dann ein, wenn eine Gefahrenquelle geschaffen worden sei und Maßnahmen zu deren Beseitigung zumutbar seien.
[64] 2.5.5. Der erkennende Senat schließt sich im Wesentlichen der Rechtsansicht von Ganner an.
[65] Auszugehen ist vom Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, BGBl III 2008/155 idF BGBl III 2016/105 (kurz: UN‑Behindertenkonvention), deren Vertragsstaat Österreich ist. Die UN‑Behindertenkonvention ist insbesondere von der Erkenntnis geprägt, wie wichtig es ist, dass Menschen mit Behinderungen vollen Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation haben, damit sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll genießen können (Präambel lit v). Nach Art 3 lit a UN‑Behindertenkonvention sind Grundsätze dieses Übereinkommens unter anderem die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich seiner Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Selbstbestimmung; nach Art 3 lit c leg cit zählen auch die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Inklusion in die Gesellschaft zu diesen Grundsätzen. Nach Art 19 UN‑Behindertenkonvention („Selbstbestimmtes Leben und Inklusion in der Gemeinschaft“) anerkennen die Vertragsstaaten das gleiche Recht der Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Inklusion in der Gemeinschaft zu erleichtern. Nach Art 20 UN‑Behindertenkonvention treffen die Vertragsstaaten wirksame Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher Selbstbestimmung sicherzustellen. Diese Erwägungen sind bei der Auslegung von § 1309 ABGB zu berücksichtigen.
[66] Aufsichtspflichtig sind nach § 1309 ABGB jene Personen, denen kraft Gesetzes die Obsorge für das Kind obliegt; dies sind vor allem die Eltern gemäß § 137 Abs 2, § 158 und § 160 ABGB. Nach § 51 Abs 3 SchUG hat der Lehrer die Pflicht, die Schüler während des Unterrichts und bei Schulveranstaltungen zu beaufsichtigen. Die Aufsichtspflicht kann sich jedoch auch aus einer rechtsgeschäftlichen Verpflichtung ergeben, so zB wenn das Kind in einem Kindergarten (vgl 1 Ob 8/91; 10 Ob 2441/96k), in einem Internat (1 Ob 124/13m) oder bei Pflegeeltern (7 Ob 161/70, EvBl 1971/74) untergebracht wird (Koziol, Haftpflichtrecht II3 Kap D.9 Rz 3 [Stand 1. 1. 2018, rdb.at]; Karner in KBB7 § 1309 ABGB Rz 4), weil insofern Verpflichtungen aus der Obsorge dem Übernehmer rechtsgeschäftlich übertragen werden (vgl Koziol aaO; Karner aaO; Wolff in Klang2 VI 77).
[67] Eine privatrechtliche Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB von Betreuungseinrichtungen gegenüber den von ihnen betreuten volljährigen Personen liegt regelmäßig nicht vor, weil eine solche weder – anders als etwa im hoheitlichen Bereich zB bei einer Unterbringung ohne Verlangen nach dem UbG – gesetzlich statuiert noch typischerweise vertraglich vereinbart wird. Daher ist insofern auch eine Verletzung der Aufsichtspflicht ausgeschlossen. Nach demVertrag zwischen dem Betreuten und der Betreuungseinrichtung bestehen im Rahmen vertraglicher Nebenpflichten zwar auch gewisse Schutz- und Sorgfaltspflichten gegenüber dem Vertragspartner, die jedoch nicht mit der Aufsicht („anvertraute Obsorge“) über die Pflegeperson als Pflicht der Betreuungsinstitution gleichzusetzen sind. Diese Schutz- und Sorgfaltspflichten gegenüber dem Vertragspartner umfassen grundsätzlich nicht auch den Schutz Dritter oder der Allgemeinheit, liegt doch dieser Schutz nicht im Interesse des Betreuten, weil– abgesehen von § 1310 ABGB – grundsätzlich keine Haftungsansprüche gegen sie geltend gemacht werden können, wenn Deliktsfähigkeit nicht gegeben ist.
[68] 3. Eine Haftung einer Betreuungseinrichtung eines Volljährigen gegenüber außenstehenden Dritten kommt daher regelmäßig nicht auf der Grundlage der Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB, sondern nur bei Verletzung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten in Betracht, wobei auch hier die Wertungen der UN‑Behindertenkonvention – Achtung der individuellen Autonomie des behinderten Menschen, einschließlich seiner Freiheit, eigenständige Entscheidungen zu treffen; Recht auf selbstbestimmtes Leben; volle und wirksame Teilhabe einer behinderten Person an der Gesellschaft und deren Inklusion in die Gesellschaft; Sicherstellung ihrer persönlichen Mobilität mit größtmöglicher Selbstbestimmung – zu berücksichtigen sind. Es ist nicht Aufgabe der (professionellen) Pflege und Betreuung, alle Risiken gegenüber außenstehenden Dritten auszuschließen, weil dies auf Kosten der Selbstbestimmung des volljährigen Behinderten ginge und mit jeder Sicherheitsmaßnahme regelmäßig auch Eingriffe in die Freiheitsrechte des Betroffenen verbunden wären. Die Haftung aufgrund allgemeiner Verkehrssicherungspflichten gegenüber außenstehenden Dritten, denen die volljährige behinderte Person einen Schaden verursachte, tritt regelmäßig dann nicht ein, wenn die Betreuungseinrichtung und deren Mitarbeiter die Grundsätze der UN‑Behindertenkonvention beachteten und dem Behinderten auf dieser Grundlage ein selbstbestimmtes Leben ermöglichten. Eine Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflichten kommt dann in Frage, wenn in Missachtung der Grundsätze der UN‑Behindertenkonvention eine „Gefahrenquelle“ begründet wurde und Maßnahmen zu deren Beseitigung zumutbar sind. Wenn eine solche konkrete Gefährdung vorhersehbar ist, rechtlich zulässige Möglichkeiten der Einflussnahme bestehen und die zur Gefahrenabwehr erforderliche Maßnahme der jeweiligen Person auch zumutbar ist, besteht die Pflicht, die schadensvermeidende Maßnahme zu setzen. Nur bei Verletzung dieser (aufgrund der Beachtung der UN‑Behindertenkonvention) eingeschränkten Verpflichtung der Betreuungseinrichtung stehen dem vom behinderten Volljährigen geschädigten Dritten Schadenersatzansprüche gegenüber der Einrichtung zu.
[69] 4. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Beklagte nicht nach § 1309 ABGB für die Unfallfolgen einzustehen hat. Auch sonst besteht keine Grundlage für eine Haftung.
[70] Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte eine allgemeine Verkehrssicherungspflicht verletzt hätte, weil ihre Mitarbeiter den Betreuten allein einkaufen gehen ließen, bestehen nicht. Vielmehr haben sie dadurch dem volljährigen Behinderten ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen wollen und damit entsprechend den Grundsätzen der UN‑Behindertenkonvention gehandelt. Eine (in Zusammenhang mit allgemeinen Verkehrssicherungspflichten haftungsbegründende) „Gefahrenquelle“ wurde durch ihr Verhalten nicht geschaffen. Zudem war für die Mitarbeiter der Beklagten aufgrund der zur Verfügung stehenden Unterlagen und ihrer Wahrnehmungen vom Betreuten nicht erkennbar, dass das durchgeführte „Einkaufstraining“ ungeeignet war und der Betreute entgegen den tatsächlichen Verhältnissen die Gefahren des Straßenverkehrs nur situativ, aber nicht allgemein einsehen konnte und sich dieser Einsicht entsprechend verhalten konnte. Eine konkrete Gefährdung durch den Betreuten war für die Mitarbeiter der Beklagten damit auch nicht vorhersehbar.
[71] 5. Der Revision der Beklagten ist daher Folge zu geben und das Urteil des Erstgerichts wieder herzustellen. Auf die behaupteten Verfahrensmängel und weiteren Einwände der Beklagten braucht nicht mehr eingegangen werden.
[72] 6. Die diese Entscheidung tragenden Erwägungen können wie folgt zusammengefasst werden:
Eine Haftung einer Betreuungseinrichtung eines Volljährigen gegenüber außenstehenden Dritten kommt regelmäßig nicht auf der Grundlage der Verletzung einer Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB, sondern nur bei Verletzung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten in Betracht. Bei deren Konkretisierung sind die Wertungen der UN‑Behindertenkonvention, insbesondere das Recht der behinderten Person auf volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und die Sicherstellung ihrer persönlichen Mobilität mit größtmöglicher Selbstbestimmung, zu berücksichtigen.
[73] 7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 und § 50 ZPO.
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