OGH 1Ob8/91

OGH1Ob8/9130.10.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Schubert als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Hofmann, Dr.Schlosser, Dr.Graf und Dr.Schiemer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. Dirk S*****, gesetzlich vertreten durch seine Mutter Marie Jeanne S*****, diese vertreten durch Dr.Hanspeter Egger, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Marktgemeinde B*****, vertreten durch Dr.Otto Schuhmeister, Dr.Rolf Schuhmeister und Dr.Walter Schuhmeister, Rechtsanwälte in Schwechat, wegen S 557.937 sA und Feststellung (Streitwert S 25.000; Gesamtstreitwert S 582.937) infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 14.Jänner 1991, GZ 14 R 223/90-93, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Wien vom 13.Juli 1990, GZ 52 c Cg 1111/88-88, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß das Urteil lautet:

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei S 265.937 samt 4 % Zinsen seit 21.9.1983 binnen 14 Tagen zu bezahlen. Das Mehrbegehren von S 292.000 samt 4 % Zinsen seit 21.9.1983 wird abgewiesen.

Es wird festgestellt, daß die beklagte Partei der klagenden Partei für alle Folgen aus dem Vorfall vom 23.9.1980 im nö. Landeskindergarten B***** haftet.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 218.081,25 (darin S 21.973,25 USt und S 37.578 Barauslagen) bestimmten Kosten des gesamten Verfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger besuchte am 23.9.1980 - im dritten Kindergartenjahr - den nö. Landeskindergarten der beklagten Gemeinde. Ab 15.30 Uhr beaufsichtigte an diesem Tag die Kindergärtnerin Maria K***** alleine die aus zehn bis fünfzehn Kindern bestehende altersgemischte Sammelgruppe. Die Kinder spielten im "Hof" (Garten) an verschiedenen Spielgeräten. Die Kindergärtnerin hielt sich bei der Terrasse auf, von wo aus sie die in Gruppen spielenden Kinder überblicken konnte. Zwei Kinder spielten in der 22 m (von der Terrasse) entfernten Sandkiste, zwei beim 10 m entfernten Ringelspiel, zwei vor einem 30 m entfernten Gartenhaus sowie sechs bis acht, darunter auch der Kläger, bei der 34 m entfernten Rutsche, die nach ihrer Bauweise (Konstruktion, Höhe und Neigungswinkel der Rutsche) keine besonderen Gefahren in sich barg. Neben der Rutsche stand eine Plastiktonne auf dem Erdboden. Obwohl die Kinder zu Beginn des Kindergartenjahres im Zuge der Einführung in die im Hof befindlichen Spielgeräte belehrt worden waren, daß sie die Rutschfläche der Kinderrutsche nicht "hinauflaufen" dürfen, kroch der Kläger "auf allen Vieren" die Rutschfläche hinauf, wurde jedoch dabei von einem Kind, welches von oben abrutschen wollte, von der Rutsche hinuntergestoßen. Er schlug dabei mit der rechten Schulter gegen die Plastiktonne, von dort stürzte er abrollend auf die linke Körperseite zu Boden. Obwohl er Schmerzen verspürte, bat er die anderen Kinder, der Kindergärntnerin, der dieser Vorfall nicht aufgefallen war, nichts zu erzählen, weil er befürchtete, sie würde schimpfen. Er setzte sich anschließend auf eine Bank und wurde etwa 45 Minuten später von seiner Schwester abgeholt.

Der Kläger erlitt durch diesen Sturz einen Bruch des rechten Schlüsselbeins sowie eine Prellung der linken Hüftregion verbunden mit der "Perthes'schen" Erkrankung, einer Schenkelkopfnekrose, die erst drei Wochen nach dem Unfall durch Hinken des Klägers erkannt wurde und auf den Unfall zurückzuführen ist. Der Kläger mußte in der Folge durch eineinhalb Jahre einen Entlastungsgehapparat tragen und sich zwei Operationen unterziehen. Aufgrund dieser Verletzungen und deren langwierigen Behandlung erlitt der Kläger insgesamt an fünf Tagen starke, an acht Tagen mittelstarke und an 660 Tagen leichte Schmerzen. Als Dauerfolge der Verletzung des Klägers besteht eine Deformierung des linken Oberschenkelkopfes, wodurch er in der Ausübung bestimmter Sportarten behindert ist; eine vorzeitige Aufbrauchserscheinung des linken Hüftgelenkes kann nicht ausgeschlossen werden.

Der Kläger begehrt in der Klage S 542.000 an Schmerzengeld, S 15.937 an unfallsbedingtem, der Höhe nach unbestrittenem Sachaufwand sowie die Feststellung, daß die beklagte Partei ihm für alle Folgen aus dem Vorfall vom 23.9.1980 hafte. Er stützt das Begehren primär auf Amtshaftung, hilfsweise aber auch auf jeden anderen Haftungsgrund, weil die Kindergärnterin ihm gegenüber ihre Aufsichtspflicht verletzt habe. Der Einwand, ihn selbst treffe ein Mitverschulden am Vorfall, sei wegen dieser Aufsichtspflichtverletzung ungerechtfertigt.

Die beklagte Gemeinde beantragte Abweisung des Klagebegehrens und wandte ein, sie sei nicht passiv klagslegitimiert, weil sie ihren Kindergarten im Rahmen der Wirtschaftsverwaltung betreibe. Die als Dienstnehmerin des Landes Niederösterreich beigestellte Kindergärtnerin treffe aber auch keine Verletzung der Aufsichtspflicht.

Im ersten Rechtsgang gab das Erstgericht dem Klagebegehren aus dem Rechtsgrund der Amtshaftung statt (Urteil vom 26.11.1987 ON 59). Das Gericht zweiter Instanz hob dieses Urteil mit Beschluß vom 10.10.1988 (ON 71) ohne Beisetzung eines Rechtskraftvorbehaltes auf. Es vertrat die Ansicht, daß die Führung des Kindergartens durch die beklagte Gemeinde nicht zur Hoheitsverwaltung, sondern zur Wirtschaftsverwaltung gehöre, sodaß Amtshaftung ausscheide. Damit sei für die beklagte Partei aber noch nichts gewonnen, weil sie im Rahmen des "privatrechtlichen Verhältnisses zum Kläger" für schuldhaft rechtswidriges Verhalten der Kindergärtnerin gemäß § 1313 a ABGB hafte. Die bisherigen Feststellungsgrundlagen des Ersturteils ON 59 ließen aber die Annahme eines schuldhaft rechtswidrigen Verhaltens im Sinne einer Aufsichtspflichtverletzung der Kindergärtnerin nicht zu. Im fortgesetzten Verfahren sei jedoch noch zu prüfen, ob durch die neben der Rutsche befindliche, ins Unfallsgeschehen einbezogene Plastiktonne die Gefährdung des Klägers erhöht worden sei und warum die Kindergärtnerin diese Tonne nicht entfernt habe. Erst dann könne über das Verschulden der Kindergärtnerin abschließend geurteilt werden.

Im zweiten Rechtsgang wies das Erstgericht das Klagebegehren ab. Es könne nicht festgestellt werden, ob der Kläger den Schlüsselbeinbruch beim Aufprall auf die Plastiktonne oder beim Aufprall auf den Boden erlitten habe, die höhere Wahrscheinlichkeit spreche für letztere Variante. Durch den Anprall auf die Plastiktonne sei die Prellung des linken Hüftgelenkes abgeschwächt worden. Ob die gleiche Hüftverletzung auch "ohne (den Aufprall auf) die Tonne" entstanden wäre, könne nicht festgestellt werden, die Wahrscheinlichkeit dafür sei aber sehr hoch. Es sei nicht auszuschließen, daß es zu einer schwereren Verletzung des Hüftgelenkes beim Kläger gekommen wäre, wäre der Sturz nicht durch die Tonne abgeschwächt worden. Auch könne nicht festgestellt werden, ob "ohne die Tonne" nur eine Hüftgelenksluxation und in der Folge keine Knochennekrose entstanden wäre. Rechtlich folgerte das Erstgericht unter Betonung seiner Bindung an die Rechtsmeinung des berufungsgerichtlichen Aufhebungsbeschlusses, der gemäß § 1296 ABGB beweispflichtige Kläger habe nicht nachweisen können, daß die Plastiktonne seine Gefährdung konkret erhöht habe und die Aufstellung der Tonne für die Unfallsfolgen kausal gewesen sei.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte mit dem angefochtenen Urteil das Ersturteil und ließ die ordentliche Revision zu. Unter Hinweis auf seinen Aufhebungsbeschluß ON 71 verneinte es eine Verletzung der Aufsichtspflicht durch die Kindergärtnerin. Aus der gemäß § 13 Abs 1 des nö. Kindergartengesetzes, LGBl 1972/41, erlassenen Verordnung LGBl 1985/46, die zwar erst nach dem gegenständlichen Vorfall erlassen wurde, aus der man aber Rückschlüsse auf vorhergehende Erfahrungen gewinnen könne, wonach unter anderem Geräte zum Klettern, Durchkriechen, Balancieren, Hangeln und Rutschen im Kindergarten aufzustellen seien, und einer Kindergartengruppe eine Fläche von 480 m2 zur Verfügung stehen müsse, sowie aus den im § 3 Abs 1 nö KindergartenG umschriebenen Zielen und Aufgaben (Förderung der körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklung der Kinder, insbesondere zur Erreichung der Schulreife) sei zu schließen, daß die Beaufsichtigung der Kinder bei gemeinsamem Spielen nicht eine unmittelbare Eingriffsmöglichkeit der Aufsichtsperson erfordere. Diese müsse sich daher jedenfalls bei Kindern, die kein auffällig asoziales Verhalten zeigen, nicht in unmittelbarer Nähe der spielenden Kinder aufhalten. Die Aufsichtsperson müsse auch nicht ständigen Blickkontakt zu allen Kindern halten. Dies sei schon deshalb undenkbar, weil sich aus der Aufmerksamkeitszuwendung zu einem bestimmten Kind oder einer bestimmten Gruppe notwendigerweise eine Außerachtlassung der Aufmerksamkeit gegenüber anderen Kindern ergebe. Eine Gefahrenerhöhung durch die Aufstellung der Plastiktonne sei nicht erweislich gewesen.

Die gegen das Urteil der zweiten Instanz erhobene Revision des Klägers ist teilweise berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Im vorliegenden Fall ist - wie schon das Erstgericht im ersten Rechtsgang zutreffend erkannte - nicht von entscheidender Bedeutung, ob das vom Kläger der Kindergärtnerin angelastete Fehlverhalten (Unterlassung der entsprechenden Beaufsichtigung) der Hoheitsverwaltung oder der Privatwirtschaftsverwaltung zuzurechnen ist, weil zwischen dem Kläger und der beklagten Gemeinde als Kindergartenerhalterin in jedem Fall

eine - privat- oder öffentlichrechtliche - Sonderbeziehung besteht (vgl JBl 1991, 586 mwH), aus der bei Zuordnung zur Privatwirtschaftsverwaltung die Haftung der beklagten Partei für das Verhalten der Kindergärtnerin gemäß § 1313 a ABGB folgt. Wesentlich ist somit die Klärung der Frage, ob das Verhalten der aufsichtsführenden Kindergärtnerin schuldhaft und rechtswidrig war.

Auszugehen ist von der Feststellung, daß der Kindergärtnerin der gesamte Vorfall erst am nächsten Tag zur Kenntnis gelangte, sie somit weder das vorangegangene (Fehl-)Verhalten des Klägers, noch den Vorfall selbst oder dessen Folgen wahrgenommen hat. Die durch entsprechende Befähigungsnachweise (Kindergartenprüfung) als fachkundig im Sinne des § 1299 ABGB anzusehende Kindergärtnerin mußte bei alleiniger Beaufsichtigung der zehn- bis fünfzehnköpfigen altersgemischten Sammelgruppe dafür Vorsorge treffen, daß die an verschiedenen Spielgeräten im Hof (Garten) spielenden Kindergruppen ihrer Aufsicht nicht entgleiten. Bei Kindergruppen im Kindergartenalter können besonders dann spieldisziplinäre Schwierigkeiten entstehen, wenn mehrere Spielvarianten möglich sind und keine Spiel(an-)leitung herrscht. Bei einer von gleichzeitig sechs bis acht Kindern durch Aufsteigen zum oberen Rutschenanfang, Abrutschen und Wiederanstellen zum Aufstieg gepflogenen Spielweise erfordert die Beaufsichtigung entweder die Beobachtung der Einhaltung der Spielordnung oder eine unmittelbare Nachbarschaft zum Spielgerät mit der Möglichkeit, bei Ordnungsstörungen zumindest durch Zuruf eingreifen zu können. Wird die einzige Aufsichtsperson durch andere Vorfälle (andere Spielgerätüberwachungen, Befassen mit einem oder mehreren anderen Kindern wegen deren Einzelproblemen, Abgang zum Telefon usw) - Behauptungen in dieser Richtung fehlen - in Anspruch genommen, darf sie die in mehreren Gruppen an Spielgeräten (Turngeräten) spielenden Kinder nicht unbeaufsichtigt an diesen Geräten zurücklassen. Vielmehr muß sie die Spiele an gefahrenträchtigen Geräten (ds sowohl eine Rutsche, wie eine Schaukel oder ein Karussell) vorübergehend unterbinden, weil vorher unter Aufsicht stehende Kinder im Kindergartenalter bei auch nur vorübergehender Abwesenheit der Aufsichtsperson erfahrungsgemäß schnell zu abweichendem Verhalten neigen können. Diesen Sorgfaltsmaßstab hat die Kindergärtnerin im Sinne des § 1299 ABGB zu vertreten (Wolff in Klang2/VI 77). Da die Kindergärtnerin nach den getroffenen Feststellungen den gesamten Vorfall nicht wahrgenommen hat, ist nicht etwa ihre Schuldlosigkeit erwiesen, wie die beklagte Partei meint, sondern vielmehr von einer signifikanten Verletzung ihre Aufsichtspflicht auszugehen. Jedenfalls ist der beklagten Partei der ihr obliegende Beweis der Schuldlosigkeit (§ 1298 ABGB) der Kindergärtnerin nicht gelungen. Sie haftet daher dem Kläger für den aus dem Verschulden der Kindergärtnerin eingetretenen Schaden.

Der im erstinstanzlichen Verfahren erhobene Mitschuldeinwand der beklagten Partei versagt schon deshalb, weil die im Sinne des § 1309 ABGB wegen Verletzung der Aufsichtspflicht haftende Person sich nicht auf ein Selbst- oder Mitverschulden des zu beaufsichtigenden Beschädigten (wie hier) berufen kann (SZ 17/126; EvBl 1956/274; Wolff aaO 76; Koziol, Haftpflichtrecht II2 310).

Bei der nunmehr vom Obersten Gerichtshof vorzunehmenden Ausmessung des Schmerzengeldbetrages erscheint nach der Art und Schwere der vom Kläger erlittenen Verletzungen, der Schwere der Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes sowie Dauer und Intensität der erlittenen Schmerzen ein Betrag von S 250.000 angemessen. Die festgestellte Dauer der leichten Schmerzen (660 Tage) rechtfertig im Hinblick auf die Art der erlittenen Verletzung und die vom Obersten Gerichtshof in ähnlichen oder vergleichbaren Verletzungsfällen zuerkannten Globalschmerzengeldbeträge (etwa S 300.000 bei Verrenkung des Hüftgelenks mit Bruch des hinteren Brückenpfeilers, Bruch des Oberschenkels und Irritation des Ischiasnervs mit 6 1/2 Monaten Spitalsaufenthalt, drei bis vier Tagen starken Schmerzen, drei bis vier Wochen mittelstarken Schmerzen und 17 bis 20 Wochen leichten Schmerzen: so 2 Ob 42/90; S 406.000 bei Hüftpfannenquerbruch, Asymmetrie des Beckens und vielen anderen

Verletzungen: so 2 Ob 63/89; S 140.000 bei Hüftgelenksnekrose,

Bruch des Fersenbeins und anderen Verletzungen: so 8 Ob 199/81 uam) keinen höheren Betrag. Eine Orientierung an "Tagessätzen" wird vom Obersten Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung abgelehnt (ZVR 1979/308; ZVR 1976/18 uva).

Die festgestellten tatsächlichen und möglichen Dauerfolgen der Verletzung des Klägers rechtfertigen auch das Feststellungsbegehren.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 43 Abs 2 und 50 ZPO, wobei eine sonst die Kostenfolgen des § 43 Abs 1 ZPO auslösende "Überklagung" des Schmerzengeldbetrages nicht vorliegt, weil die Ermittlung des angemessenen Schmerzengeldes bei relativ leichten Verletzungen, die aber doch mit (extrem) langen Schmerzperioden verbunden sind, besonders schwierig ist.

Stichworte