European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0150OS00110.15P.1007.000
Spruch:
Die Anträge werden zurückgewiesen.
Gründe:
Mit Beschluss vom 10. Juli 2014, GZ 311 HR 50/14g‑55, erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die mit Note der Russischen Föderation vom 24. März 2014 begehrte Auslieferung des Dr. Anatoly R***** zur Strafverfolgung wegen der im Ersuchen samt Unterlagen beschriebenen Verdachtslage (ON 30) unter der ‑ im gegenständlichen Erneuerungsantrag nicht thematisierten - Bedingung (vgl zu dieser jedoch 13 Os 27/15t, 13 Os 30/15h) für zulässig, dass über den Betroffenen nicht die Todesstrafe verhängt wird.
Der dagegen gerichteten Beschwerde der betroffenen Person (ON 57) gab das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 20. Jänner 2015, AZ 22 Bs 248/14b (ON 82), nicht Folge, legte aber mehrere (weitere) Bedingungen für die Zulässigkeit der Auslieferung fest.
Mit ‑ aufgrund einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes ergangenem ‑ Urteil vom 15. April 2015, AZ 13 Os 27/15t, 13 Os 30/15h, hob der Oberste Gerichtshof diesen Beschluss auf und wies das Rechtsmittelgericht an, über die Frage der Zulässigkeit der Auslieferung neu zu entscheiden, weil die Verknüpfung des Ausspruchs über die Zulässigkeit der Auslieferung an die Bedingung zukünftiger konventionskonformer Behandlung der betroffenen Person § 33 Abs 1 und 3 ARHG iVm Art 3 und 6 MRK widerspricht (ON 117).
Mit Beschluss vom 21. Juli 2015, AZ 22 Bs 248/14b (ON 147), gab das Oberlandesgericht Wien der Beschwerde der betroffenen Person gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 10. Juli 2014, GZ 311 HR 50/14g‑55, (neuerlich) nicht Folge.
Dagegen richtet sich der Antrag des Dr. Anatoly R***** auf Verfahrenserneuerung gemäß § 363a Abs 1 StPO per analogiam, den er mit einem „Antrag auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung“ verbindet.
Rechtliche Beurteilung
Zum Erneuerungsantrag:
Erneuerungsanträge ohne Befassung des EGMR zielen auf die Anerkennung einer Verletzung des Antragstellers in einem Grund- oder Menschenrecht ab, sodass sich die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs allein damit auseinandersetzt. Andere Rechtsverletzungen bleiben bei Behandlung dieses Rechtsbehelfs außer Betracht (RIS‑Justiz RS0129606).
Prozessförmiges Aufzeigen von Rechtsfehlern als Grund für eine Erneuerung des Strafverfahrens bedarf einer methodengerechten (das heißt einer nach Maßgabe juristisch geordneter Gedankenführung zumindest vertretbaren, wenngleich nicht notwendigerweise zutreffenden) Ableitung der aufgestellten Rechtsbehauptung aus der reklamierten Grundrechtsverheißung. Ohne nachvollziehbaren Bezug zum reklamierten Grundrecht fehlt es an der prozessualen Möglichkeit, dessen Verletzung festzustellen, weil amtswegiges Vorgehen des Obersten Gerichtshofs vom Gesetz nicht vorgesehen ist (RIS‑Justiz RS0128393).
Diesen Kriterien wird der Erneuerungswerber nicht gerecht, indem er behauptet, der antragsgegenständliche Beschluss verstoße gegen das Verschlechterungsverbot, wodurch „die Grundrechte des Betroffenen (Artikel 2, 3 und 6 EMRK, insbesondere Artikel 3) verletzt“ seien, weil das Oberlandesgericht Wien in seinem Beschluss vom 20. Jänner 2015 der Sache nach zum Ausdruck gebracht habe, dass die Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung im Empfangsstaat nicht ausräumbar sei, womit die Auslieferung für unzulässig zu erklären gewesen wäre, sodass der nunmehr zum gegenteiligen Schluss gelangende Beschluss des Rechtsmittelgerichts die betroffene Person „rechtlich und faktisch“ benachteilige.
Im Übrigen hat das Oberlandesgericht Wien (bereits) in seiner Entscheidung vom 20. Jänner 2015 ‑ schon nach dem Spruch eindeutig ‑ die Auslieferung (wenn auch unter falschen Prämissen) für nicht unzulässig erklärt, sodass die betroffene Person durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 21. Juli 2015 nicht schlechter gestellt ist als zuvor (vgl auch die zu 13 Os 27/15t, 13 Os 30/15h zuerkannte konkrete Wirkung im Hinblick auf die nicht ausschließbare Benachteiligung der betroffenen Person durch die aufgezeigte Gesetzesverletzung).
Zum behaupteten Verstoß gegen
Art 2 und 3 MRK ist zunächst anzumerken, dass der EGMR in jenen Fällen, in denen hinsichtlich einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sowohl eine Verletzung des Art 3 MRK als auch eine solche nach Art 2 MRK gerügt wird, regelmäßig nur Art 3 MRK prüft, weil sich der jeweilige Lebenssachverhalt und die zugrunde liegenden Gefährdungen nicht voneinander trennen lassen (vgl 13 Os 150/07v mwN).
Wie bereits zu 13 Os 27/15t, 13 Os 30/15h dargelegt, kann eine Auslieferung für den Aufenthaltsstaat eine Konventionsverletzung bedeuten, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Empfangsstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein könnte (vgl EGMR 7. 7. 1989, 14038/88, Soering/Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1989, 314;
RIS‑Justiz
RS0123201; Grabenwarter/Pabel, EMRK5 § 20 Rz 40 ff mwN). Die betroffene Person hat die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr schlüssig, anhand stichhaltiger Gründe belegbar und hinreichend konkret nachzuweisen, wobei auch die Schwere der drohenden Verletzung, das sonstige Verhalten des Mitgliedsstaats der MRK und der Umstand eine Rolle spielen, ob im Zielland fundamentale Menschenrechte verletzt werden. Auf diesen Nachweis ist nur dann zu verzichten, wenn der ersuchende Staat eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweist (RIS‑Justiz RS0123229, [insb T12]). Die bloße Möglichkeit von Übergriffen, die in jedem Rechtsstaat vorkommen können, macht die Auslieferung hingegen nicht unzulässig (RIS‑Justiz
Unter Berufung auf diese Grundsätze und unter Hinweis auf mehrere im Auslieferungsverfahren vorgelegte Urkunden behauptet der Erneuerungswerber, er habe stichhaltige Gründe für die Annahme geliefert, dass er der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung im Empfangsstaat ausgesetzt sein könnte, ihm würden „konkret Folter und sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen, und zwar ohne Erreichbarkeit effektiven Rechtsschutzes (auch nicht durch den EGMR)“, und das Oberlandesgericht Wien habe sich mit den vorgelegten Unterlagen „nicht hinreichend“ auseinandergesetzt. Die diplomatischen Zusicherungen der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation würden die bestehende Gefahr einer Art 2 und 3 MRK widersprechenden Behandlung im Empfangsstaat nicht beseitigen und die vorgelegten Dokumente ‑ auf die der Erneuerungsantrag teils unter wörtlicher Wiederholung des Vorbringens in der Äußerung vom 16. Jänner 2015 im Beschwerdeverfahren (vgl ON 69 S 5 bis 13) hinweist -würden die dramatische Situation der Strafrechtspflege und Menschenrechtslage in Russland aufzeigen.
Damit wiederholt der Antragsteller (nur) sein bisher im Auslieferungsverfahren erstattetes Vorbringen, ohne sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien auseinanderzusetzen, womit er den Anforderungen an einen Erneuerungsantrag nach § 363a StPO per analogiam nicht gerecht wird (RIS‑Justiz RS0124359).
Unberücksichtigt lässt der Erneuerungswerber, dass das Oberlandesgericht Wien die Haftverhältnisse in Russland, die konkrete Situation der betroffenen Person und ihre zu erwartende Behandlung im Zielstaat ‑ auch unter Berücksichtigung der vorgelegten Unterlagen ‑ mitbedacht, aber ‑ mit Blick auf die Zusicherungen der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation und die Gesetzeslage in Russland in Bezug auf die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft ‑ ein konkretes Risiko für Dr. R***** verneint hat (vgl ON 147 S 19 bis 31).
Durch die bloße Wiederholung des bisherigen Vorbringens ohne konkrete Auseinandersetzung mit diesen Erwägungen hat der Antragsteller ‑ seiner Behauptung zuwider ‑ gerade nicht „nachgewiesen“, dass im Auslieferungsverfahren „ein ihn betreffendes, konkretes Gefährdungspotential übergangen worden“ sei oder der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung grundrechtsverletzend eine gesetzwidrige, mangelhafte, willkürliche oder erheblich bedenkliche Beurteilung zugrunde liege.
Zwar fällt das Auslieferungsverfahren selbst nicht in den Anwendungsbereich des Art 6 MRK, doch können dessen Verfahrensgarantien für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung dann (ausnahmsweise) Relevanz erlangen, wenn die betroffene Person nachweist, dass ihr im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens („a flagrant denial of justice“) droht (vgl EGMR 7. 7. 1989, 14038/88, Soering /Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1989, 314; RIS‑Justiz RS0123200; Göth-Flemmich in WK 2 ARHG § 19 Rz 14).
Indem der Erneuerungswerber behauptet, er habe durch die Vorlage von Urkunden und sein Vorbringen nachgewiesen, dass ihm im ersuchten Staat eine solche Behandlung drohe, die diplomatischen Zusicherungen der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation nicht der Beseitigung dieser Gefahr dienen würden und sich das Oberlandesgericht mit den vorgelegten Urkunden „nicht hinreichend“ auseinandergesetzt habe, setzt er sich auch in Bezug auf die Behauptung einer Verletzung des Art 6 MRK nicht mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien in den relevanten Punkten auseinander und zeigt somit auch unter diesem Aspekt keine Fehlbeurteilung im bekämpften Beschluss auf.
Soweit der Antragsteller in diesem Zusammenhang unter Verweis auf 14 Os 145/13z behauptet, nach der Judikatur biete „eine Zusicherung der Russischen Generalstaatsanwaltschaft keine effektive Gewährleistung prozessualer Garantien“, übersieht er, dass sich die zitierte Entscheidung ‑ in dem vom Antragsteller argumentativ herangezogenen Teil ‑ auf die Auslieferung einer Person zur Vollstreckung einer mit Abwesenheitsurteil verhängten Strafe nach Russland bezog und die der Zulässigerklärung der Auslieferung zugrunde gelegte Zusicherung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation (nur) im konkreten Fall als nicht ausreichend im Sinn des Art 3 Abs 1 zweiter Satz des zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen erachtet wurde.
Der pauschale Einwand, die Unterlassung der von der betroffenen Person beantragten Beweisaufnahme durch das Beschwerdegericht stelle „einen relevanten Verfahrensmangel“ dar, der den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien mit „einen Verstoß gegen die aufgezeigten EMRK‑Rechte verkörpernder Rechtswidrigkeit“ belaste, legt (abermals) eine Grundrechtsverletzung nicht deutlich und bestimmt dar (RIS‑Justiz RS0124359) und übersieht, dass das Auslieferungsverfahren selbst nicht in den Anwendungsbereich des ‑ ersichtlich in Anspruch genommenen ‑ Art 6 MRK fällt (RIS‑Justiz RS0123200 [T2 und T3]).
Der Erneuerungsantrag war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung in sinngemäßer Anwendung des Art 35 Abs 3 lit a MRK als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).
Bleibt anzumerken, dass der betroffenen Person nur ein Erneuerungsantrag in Betreff ein- und derselben Sache zusteht, die „ergänzende Vorlage“ vom 20. August 2015 daher unbeachtlich ist (RIS-Justiz RS0123231).
Zum Antrag auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung:
Mit Blick auf die Kompetenznorm des § 362 Abs 5 StPO nimmt der Oberste Gerichtshof zwar die Befugnis in Anspruch, den Vollzug mit Erneuerungsantrag bekämpfter Entscheidungen zu hemmen, ein Antragsrecht betroffener Personen ist daraus jedoch nicht abzuleiten (RIS‑Justiz RS0125705). Der dennoch darauf bezogene Antrag des Erneuerungswerbers war daher als unzulässig zurückzuweisen.
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