Spruch:
Wright A***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.
Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.
Text
Gründe:
Das Landesgericht für Strafsachen Graz verhängte mit Beschluss vom 9. Mai 2010 (ON 111) über Wright A***** die Untersuchungshaft aus den Gründen der Flucht-, der Verdunkelungs- und der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1, 2 und 3 lit b StPO und setzte diese mehrfach (ON 152, 174, 201 und 223), zuletzt mit Beschluss vom 20. Dezember 2012 (ON 306) - nach Wegfall des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr ab 9. Juli 2010 - aus jenen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr fort.
Mit der angefochtenen Entscheidung gab das Oberlandesgericht Graz der Beschwerde des Angeklagten (ON 308) gegen den letztgenannten Beschluss nicht Folge und ordnete erneut die Haftfortsetzung aus den Gründen des § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit b StPO an.
Dabei erachtete es Wright A***** - soweit hier wesentlich - dringend verdächtig, er habe in Graz im einverständlichen Zusammenwirken mit Oneybu I***** vorschriftswidrig Suchtgift in einer das 25-fache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge
(1) anderen überlassen, indem er von September 2009 bis 7. Mai 2010 etwa 4.230 Gramm Heroin (davon jedenfalls etwa 2.500 Gramm mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von 3 %, demnach etwa 750 Gramm Reinsubstanz; BS 3 ff), 230 Gramm Kokain und 340 Gramm Cannabiskraut an teils bekannte, teils unbekannte Abnehmer verkaufte;
(2) als Bestimmungstäter (§ 12 zweiter Fall StGB) aus Holland aus- und nach Österreich eingeführt, indem er den abgesondert verfolgten Mamadou B***** in zwei Angriffen im September 2009 und am 21. Oktober 2009 zum Schmuggel von insgesamt etwa 2.500 Gramm Heroin (mit einem Reinheitsgehalt von 3 %; BS 3 f) und den abgesondert verfolgten Paul E***** am 28. Februar 2010 zum Schmuggel von insgesamt 1.587,8 Gramm Heroin (mit einem Reinheitsgehalt von 4,2 +/- 0,45 %; Reinsubstanz 67 +/- 7,2 Gramm) veranlasste,
wobei sein Vorsatz auf eine Tatbildverwirklichung in Teilmengen durch kontinuierliche Tatbegehung über einen längeren Zeitraum gerichtet war und den daran geknüpften Additionseffekt sowie das Überschreiten der Übermenge iSd § 28a Abs 4 Z 3 SMG umfasste (BS 5).
In rechtlicher Hinsicht subsumierte das Oberlandesgericht dieses (als hafttragend erachtete) Verhalten den Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter, dritter und fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG, § 12 zweiter Fall StGB.
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen gerichteten Grundrechtsbeschwerde kommt Berechtigung zu.
Soweit sie sich zunächst gegen das Vorliegen dringenden Tatverdachts wendet, scheitert sie an der nach Maßgabe des § 1 GRBG verlangten, nicht bloß formalen (nämlich Anrufung des Beschwerdegerichts), vielmehr auch inhaltlichen Ausschöpfung (vgl § 88 Abs 1 erster Satz StPO) des Instanzenzugs (RIS-Justiz RS0114487 [insbesondere T6, T8, T9, T11 bis T15, T19, T20]), weil eine entsprechende Argumentation in der Haftbeschwerde unterlassen wurde, die sich - trotz der einleitenden Bemerkung, den Haftfortsetzungsbeschluss „vollinhaltlich“ anzufechten - substantiiert bloß gegen die Annahme des Vorliegens von Haftgründen wendete und eine Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen sowie die Substituierbarkeit der Haft durch gelindere Mittel behauptete (ON 308).
Die vom Oberlandesgericht in seiner Entscheidung ins Treffen geführten Umstände einer massiven Verstrickung des seit dem Sommer 2009 beschäftigungslosen Angeklagten in den Suchtgifthandel, durch den er mutmaßlich über Monate den Lebensbedarf um ein Vielfaches übersteigende Einkünfte lukrierte, in Verbindung mit seiner nach der dringenden Verdachtslage dabei verfolgten Absicht, sich ausschließlich durch die wiederkehrende Begehung von Suchtgiftverkäufen eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, lassen einen formal einwandfreien Schluss auf die nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO begründete Gefahr zu, er werde auf freiem Fuß eine strafbare Handlung mit nicht bloß leichten Folgen begehen, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet ist wie die ihm nunmehr angelasteten wiederholten Taten.
Dem setzt der Beschwerdeführer durch die nicht näher begründete Behauptung, die Gefahr neuerlicher Delinquenz während laufenden Strafverfahrens sei mit Blick auf die bereits überaus lange Dauer der Untersuchungshaft „nicht nachvollziehbar dargestellt“, keine substantiellen Argumente entgegen und zeigt solcherart keine Willkür der bekämpften Prognoseentscheidung auf (zum Prüfungsmaßstab des Obersten Gerichtshofs betreffend die rechtliche Annahme einer der von § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren im Grundrechtsbeschwerdeverfahren vgl RIS-Justiz RS0118185, RS0117806).
Eine Erörterung der Einwände gegen die vom Oberlandesgericht ebenso - im Übrigen erneut willkürfrei - als bestehend angesehene Fluchtgefahr erübrigt sich, weil bei gegebenem dringenden Tatverdacht bereits ein Haftgrund die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft rechtfertigt (RIS-Justiz RS0061196).
Wie die Grundrechtsbeschwerde jedoch zutreffend aufzeigt, wurde der Angeklagte vom Oberlandesgericht Graz im Grundrecht auf persönliche Freiheit dadurch verletzt, dass dieses als Kontrollinstanz in der angefochtenen Entscheidung nicht aussprach, dass durch die - in der Haftbeschwerde ausdrücklich relevierte - erhebliche Verzögerung in Zusammenhang mit der - in der Hauptverhandlung vom 2. Februar 2011 zum Nachweis, dass der Angeklagte nicht der Sprecher bei den überwachten Telefongesprächen sei, beantragten - Einholung eines Schallgutachtens, welches zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung seit etwa 11 Monaten ausständig war (und - wie der Vollständigkeit halber angemerkt sei - laut Mitteilung des Sachverständigen erst im April 2012 zu erwarten ist [ON 315]), das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) verletzt wurde, es einen solchen Verstoß vielmehr ausdrücklich verneinte und demgemäß auch die Anordnung verfahrensbeschleunigender Maßnahmen unterließ.
Unabhängig von der Frage der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft erachtet der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung das Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt, wenn er nach Maßgabe eigener Beweiswürdigung zum Ergebnis kommt, dass die Gerichte nicht iSd § 177 Abs 1 StPO alles ihnen Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen haben (RIS-Justiz RS0120790; Kier, WK-StPO § 9 Rz 49).
Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts (BS 7) kann keine Rede davon sein, dass das Gericht dem oben angesprochenen Beweisantrag vom 2. Februar 2011 „umgehend entsprach“. Vielmehr ergibt sich aus dem Akt, dass der Beschluss, mit dem der Sachverständige mit der Gutachtenserstattung beauftragt wurde, zwar mit 11. Februar 2011 datiert ist, jedoch - nach der auf der Urschrift angebrachten Stampiglie - aus nicht ersichtlichen Gründen erst über zwei Monate später, nämlich am 18. April 2011 in der Geschäftsabteilung einlangte, am 19. April 2011 abgefertigt und dem Institut für Schallforschung am 27. April 2011 zugestellt wurde (ON 246a). Schon aufgrund dieser über zweimonatigen Verzögerung bei Erteilung des Gutachtensauftrags liegt eine durchaus ins Gewicht fallende Säumigkeit in einer Haftsache vor (§ 9 Abs 2 iVm § 177 Abs 1 StPO).
Dazu kommt, dass die Vorsitzende des Schöffengerichts als Verantwortliche für die Vorbereitung und die Durchführung des Verfahrens zur Beschleunigung des ohnehin verzögert in Auftrag gegebenen Gutachtens verhalten gewesen wäre, dem Sachverständigen unter Hinweis auf die Inhaftierung der Angeklagten und die schon daraus resultierende Dringlichkeit (ein solcher Hinweis erfolgte - soweit aus dem Akt ersichtlich - erst mit Note vom 26. August 2011 [ON 1 S 65], nachdem der Experte schon am 27. April 2011 telefonisch bekannt gegeben hatte, dass aufgrund Überlastung des einzigen, dem Institut für Schallforschung zur Verfügung stehenden Dolmetschers erst in etwa fünf Monaten mit der Fertigstellung des Gutachtens zu rechnen sei [ON 262 S 55]), eine angemessene Frist zu setzen, diese (durch Mahnung) konsequent zu überwachen und die Ursachen für deren Nichteinhaltung jeweils sofort detailliert zu hinterfragen (nach vagen telefonischen Erläuterungen durch den Sachverständigen [vgl ON 1 S 65, 66] erfolgte eine konkrete entsprechende Begründung erst am 19. Dezember 2011 [ON 304]). Mag auch die Befundaufnahme im konkreten Fall aufgrund der notwendigen und umfangreichen Transkriptionsarbeiten im Vorfeld der eigentlichen Stimmanalyse mit - auch dem Obersten Gerichtshof bekannten - besonderen Schwierigkeiten verbunden sein und für die Erstattung von Schallgutachten außer den Mitarbeitern des Instituts für Schallforschung im Inland - soweit ersichtlich - kein Experte und für die Übersetzung der Sprache Igbo nur wenige Dolmetscher zur Verfügung stehen, wären - bei Vorliegen der Voraussetzungen - schließlich die gerade im Sinne des Beschleunigungsgebots in § 127 Abs 5 StPO normierten Säumnisfolgen anzuordnen gewesen (vgl dazu Hinterhofer, WK-StPO § 127 Rz 43 ff).
Aus all diesen Gründen hat das Gericht keineswegs alles ihm Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen, womit in Stattgebung der Grundrechtsbeschwerde - jedoch (weil die im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung rund 20 Monate andauernde Haft auf Basis der Sachverhaltsannahmen des Oberlandesgerichts weder zur Bedeutung der Sache noch der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis steht) ohne Aufhebung des angefochtenen Beschlusses (vgl RIS-Justiz RS0120790 [T13], zum Ganzen auch Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 176 Rz 15, § 177 Rz 2 ff) - auszusprechen war, dass Wright A***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.
Entsprechend dem Gebot des § 7 Abs 2 GRBG wird die Vorsitzende des Schöffengerichts umgehend eine neuerliche Haftprüfung vorzunehmen und im oben aufgezeigten Sinn das Gutachten zu betreiben haben (RIS-Justiz RS0119858).
Der Kostenausspruch beruht auf § 8 GRBG.
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