European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0130OS00092.25S.1015.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
In der Strafsache AZ 76 BAZ 445/24f der Staatsanwaltschaft Leoben verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 23. Dezember 2024, AZ 9 Bs 184/24p, (ON 24.3) § 89 Abs 2b zweiter Satz StPO iVm § 108 Abs 1 Z 1 StPO (idF vor BGBl I 2024/157).
Gründe:
[1] Die Staatsanwaltschaft Leoben führte zum AZ 76 BAZ 445/24f ein Ermittlungsverfahren gegen DI * I* wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach §§ 2, 80 Abs 1 StGB.
[2] Am 13. März 2024 stellte die Staatsanwaltschaft dieses Verfahren gemäß § 190 Z 2 StPO (idF vor BGBl I 2024/157) ein (ON 1.7).
[3] Aufgrund einer ihr am 5. Juni 2024 übermittelten behördlichen Stellungnahme (ON 11.3) ordnete die Staatsanwaltschaft am 10. Juni 2024 nach § 193 Abs 2 Z 2 StPO die Fortführung des Ermittlungsverfahrens an (ON 1.10).
[4] Dagegen richtete sich der mit Schriftsatz vom 18. Juni 2024 erhobene Einspruch wegen Rechtsverletzung nach § 106 StPO des DI I* (ON 13.2), weil er sich mangels Vorliegens neuer Tatsachen oder Beweismittel in seinem „subjektiven Recht auf Unterbleiben einer Fortführung des Ermittlungsverfahrens ohne Vorliegen gesetzlicher Gründe“ verletzt erachtete, wobei sich diesem Einspruch „durch umgehende Einstellung des fortgeführten Ermittlungsverfahrens“ entsprechen lasse (ON 13.2 S 2 und 4; vgl auch ON 15.2 S 3).
[5] Mit darüber ergangenem Beschluss vom 18. Juli 2024, AZ 15 HR 68/24y, stellte der Einzelrichter des Landesgerichts Leoben das Ermittlungsverfahren gemäß § 108 Abs 1 Z 1 StPO (idF vor BGBl I 2024/157) ein, weil keine neuen Tatsachen oder Beweismittel im Sinn des § 193 Abs 2 Z 2 StPO vorlägen, sodass die weitere Verfolgung des DI I* unzulässig sei und daher „unter Einem mit der Entscheidung über den Einspruch und den damit verbundenen impliziten Einstellungsantrag“ eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens zu erfolgen habe (ON 16 und [doppelt journalisiert] ON 17.3, insbesondere BS 9 ff). Eine Feststellung der in den Entscheidungsgründen angenommenen Verletzung des § 193 Abs 2 Z 2 StPO (BS 11 f) enthält der Tenor des Beschlusses nicht (siehe aber § 106 Abs 1 Z 2 StPO iVm § 86 Abs 1 zweiter Satz StPO, vgl auch RIS‑Justiz RS0132510 [T1 und T3] und Pilnacek/Stricker, WK‑StPO § 107 Rz 19).
[6] Der dagegen am 22. Juli 2024 erhobenen, im Wesentlichen mit dem Vorliegen neuer Beweismittel argumentierenden Beschwerde der Staatsanwaltschaft Leoben (ON 18) gab das Oberlandesgericht Graz als Beschwerdegericht mit Beschluss vom 23. Dezember 2024, AZ 9 Bs 184/24p, dahin Folge, „dass der angefochtene Beschluss in dem Umfang aufgehoben wird, als damit das Ermittlungsverfahren gegen DI * I* […] gemäß § 108 Abs 1 Z 1 StPO [idF vor BGBl I 2024/157] eingestellt wurde“. Im Übrigen gab das Oberlandesgericht der Beschwerde nicht Folge, erteilte aber der Staatsanwaltschaft unter Bezugnahme auf § 107 Abs 4 StPO den Auftrag, das gegenständliche Ermittlungsverfahren gegen DI I* einzustellen. Danach lägen keine neuen Tatsachen und Beweismittel im Sinn des § 193 Abs 2 Z 2 StPO vor, jedoch sei die Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch das Erstgericht mangels entsprechender Kompetenz unzulässig gewesen, woraus die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses im diesbezüglichen Umfang und der Auftrag an die Staatsanwaltschaft, das Ermittlungsverfahren einzustellen, resultierten (ON 24.3, insbesondere BS 1 und 6 f). Eine Auseinandersetzung mit dem – auch vom Oberlandesgericht selbst angesprochenen (vgl BS 2) – Begehren des Beschuldigten auf „umgehende Einstellung des fortgeführten Ermittlungsverfahrens“ sowie mit der (darauf gründenden) Annahme des Erstgerichts zum Vorliegen (auch) eines „impliziten Einstellungsantrags“ enthält die Beschwerdeentscheidung nicht.
[7] Mit unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem Beschluss vom 26. April 2025, AZ 15 HR 68/24y, stellte der Einzelrichter des Landesgerichts Leoben das gegenständliche Ermittlungsverfahren (aufgrund des nunmehr ausdrücklich darauf abzielenden Antrags des Beschuldigten vom 24. Februar 2025 [ON 27.2]) gemäß § 108 Abs 2 Z 1 StPO ein (ON 31).
Rechtliche Beurteilung
[8] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 23. Dezember 2024 mit dem Gesetz nicht im Einklang:
[9] Der Beschuldigte kann sich gegen die von der Staatsanwaltschaft gemäß § 193 Abs 2 StPO angeordnete (vgl hierzu RIS‑Justiz RS0129011 [T3]) Fortführung eines nach § 190 oder § 191 StPO beendeten Ermittlungsverfahrens (mit dem Argument des Nichtvorliegens der für diese Anordnung erforderlichen Voraussetzungen) mit Einspruch wegen Rechtsverletzung (§ 106 StPO, RIS‑Justiz RS0130196, RS0132414 [T2] und RS0133233 sowie Kirchbacher, StPO15 § 193 Rz 7; Nordmeyer, WK‑StPO § 190 Rz 20, § 193 Rz 5 und § 195 Rz 35; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 634/1 sowie Birklbauer, WK‑StPO § 17 Rz 60) oder (mit dem Argument der rechtswidrigen Fortführung) mit Antrag auf Einstellung des Ermittlungsverfahrens (§ 108 Abs 2 Z 1 StPO [idF vor BGBl I 2024/15, 7: § 108 Abs 1 Z 1 StPO]; Nordmeyer, WK‑StPO § 190 Rz 20 mwN und Birklbauer, WK‑StPO § 17 Rz 60) zur Wehr setzen.
[10] Ergreift der Beschuldigte einen dieser Rechtsbehelfe, so wird durch den jeweiligen Antrag der Prozessgegenstand bestimmt. Dieser beschränkt sich bei einem Einspruch wegen Rechtsverletzung auf die Prüfung, ob der Antragsteller durch die darin bezeichnete – tatsächliche oder rechtliche – Handlung der Staatsanwaltschaft in einem konkreten subjektiven Recht verletzt wurde (§ 106 Abs 1 StPO), bei einem Antrag auf Einstellung hingegen auf jene, ob die Voraussetzungen vorliegen, das Ermittlungsverfahren einzustellen (§ 108 Abs 2 StPO [idF vor BGBl I 2024/157: § 108 Abs 1 StPO], 14 Os 16/19p, EvBl 2019/102 sowie Ratz, Verfahrensführung und Rechtsschutz nach der StPO2 Rz 507).
[11] Dementsprechend sind aber auch die potenziellen Folgen des jeweiligen Rechtsbehelfs abschließend geregelt, wobei nur § 108 Abs 2 StPO (idF vor BGBl I 2024/157: § 108 Abs 1 StPO) vorsieht, dass das Gericht selbst das Verfahren mittels Beschlusses einzustellen hat. Gibt das Gericht hingegen einem Einspruch wegen Rechtsverletzung statt, so kann es der Staatsanwaltschaft gemäß § 107 Abs 1 iVm Abs 4 StPO bindende Anordnungen erteilen, wie der Rechtszustand vor der bekämpften Handlung oder Unterlassung wiederherzustellen ist (restitutio in integrum, erneut 14 Os 16/19p, RIS‑Justiz RS0132510).
#107] Ein Antrag nach § 108 Abs 2 StPO geht in seiner Folge der Einstellung des Verfahrens damit weiter als der Einspruch wegen Rechtsverletzung (§ 106 StPO), der – neben der förmlichen Feststellung der Rechtsverletzung (§ 106 Abs 1 Z 2 StPO iVm § 86 Abs 1 zweiter Satz StPO, siehe dazu RIS‑Justiz RS0125168, RS0130853 und abermals RS0132510 [T1 und T3] sowie Pilnacek/Stricker, WK‑StPO § 107 Rz 19)– nur eine Wiederherstellung durch die Staatsanwaltschaft oder die Kriminalpolizei bewirkt (Pilnacek/Stricker, WK‑StPO § 108 Rz 10).
[12] Ein Verbot der Kumulierung dieser beiden Rechtsbehelfe ist dem Gesetz nicht zu entnehmen, weshalb es dem Beschuldigten grundsätzlich freisteht, seinen Antrag auf gerichtliche Prüfung dahin, ob er durch die Fortführung des Verfahrens in einem konkreten subjektiven Recht verletzt wurde (§ 106 Abs 1 StPO), mit jenem auf Prüfung, ob die Voraussetzungen vorliegen, das (fortgeführte) Ermittlungsverfahren einzustellen (§ 108 Abs 2 StPO), zu verbinden.
[13] Die Beurteilung, welchen Rechtsbehelf ein Beschuldigter ergriffen hat, hängt nicht allein vom Wortlaut, sondern von dem aus dem gesamten Inhalt des Schriftsatzes zu erschließenden Anfechtungswillen des Beschuldigten ab (vgl RIS‑Justiz RS0099067 [insbesondere T9] und RS0099951; Ratz, WK‑StPO § 284 Rz 7 sowie Kirchbacher, StPO15 § 284 Rz 4).
[14] Begehrt der Beschuldigte (wie hier) auch die „umgehende Einstellung des fortgeführten Ermittlungsverfahrens“ (ON 13.2 S 2 und 4), entspricht es nach Obgesagtem demnach dem Gesetz, den erhobenen Rechtsbehelf – wie mit Beschluss des Einzelrichters des Landesgerichts Leoben vom 18. Juli 2024 (ON 16) erfolgt – (auch) als „impliziten Einstellungsantrag“ (vgl ON 16 S 6 und 12) zu behandeln und das Verfahren (hier aufgrund der Bejahung der Unzulässigkeit der weiteren Verfolgung aus sonstigen rechtlichen Gründen [siehe dazu Nordmeyer, WK‑StPO § 190 Rz 13]) gemäß § 108 Abs 1 Z 1 StPO (idF vor BGBl I 2024/157) einzustellen (Nordmeyer, WK‑StPO § 190 Rz 20).
[15] Indem das Oberlandesgericht Graz als Beschwerdegericht den erstgerichtlichen Beschluss – ohne sich mit dem Begehren des Beschuldigten auf „umgehende Einstellung des fortgeführten Ermittlungsverfahrens“ und der Annahme des Erstgerichts zum Vorliegen (auch) eines „impliziten Einstellungsantrags“ auseinanderzusetzen – in diesem Umfang aufhob, verletzte es solcherart § 89 Abs 2b zweiter Satz StPO iVm § 108 Abs 1 Z 1 StPO (idF vor BGBl I 2024/157).
[16] Mit Blick auf die mittlerweile gemäß § 108 Abs 2 Z 1 StPO erfolgte Verfahrenseinstellung durch in Rechtskraft erwachsenen Beschluss des Landegerichts Leoben vom 26. April 2025 (ON 31) wirkt diese von der Generalprokuratur zutreffend aufgezeigte Gesetzesverletzung nicht zum Nachteil des (ehemals) Beschuldigten, sodass deren Feststellung nicht mit konkreter Wirkung zu verbinden war (§ 292 vorletzter Satz StPO).
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