OGH 13Os66/20k

OGH13Os66/20k14.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Oktober 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz‑Hummel in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Pöttinger in der Strafsache gegen Marek C***** und einen weiteren Angeklagten wegen Vergehen der Veruntreuung nach § 133 Abs 1 und 2 erster Fall StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten Marek C***** gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 24. Februar 2020, GZ 125 Hv 148/19d‑60, und den Antrag des genannten Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung gegen das genannte Urteil nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung

I) den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0130OS00066.20K.1014.000

 

Spruch:

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird bewilligt und der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 3. April 2020, GZ 125 Hv 148/19d‑62, wird zur Klarstellung beseitigt,

II) zu Recht erkannt:

 

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Freispruch des Janusz D***** und im diesen Angeklagten betreffenden Adhäsionserkenntnis unberührt bleibt, aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache im Umfang der Aufhebung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte Marek C***** auf diese Entscheidung verwiesen.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil, das auch einen unbekämpft gebliebenen Freispruch des Angeklagten Janusz D***** enthält, wurde Marek C***** des Vergehens der Veruntreuung nach § 133 Abs 1 und 2 erster Fall StGB schuldig erkannt.

Danach hat er sich vom Mai 2010 bis zum März 2015 in W***** in mehrfachen Angriffen ein Gut, das ihm anvertraut worden ist, nämlich Altpapier der F***** GmbH in dem 5.000 Euro übersteigenden Wert von zumindest 150.000 Euro, mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz zugeeignet, indem er entgegen der vertraglichen Vereinbarung der F***** GmbH mit der E***** AG O***** GmbH das im Zentrallager der F***** GmbH gelagerte Altpapier abtransportieren und verwerten ließ und die so erzielten Einnahmen nicht an das letztgenannte Unternehmen abführte, sondern für sich behielt.

Im Anschluss an die Urteilsverkündung am 24. Februar 2020 gab der (anwaltlich vertretene) Angeklagte Marek C***** keine Rechtsmittelerklärung ab (ON 59 S 84). Am 5. März 2020, also nach Ablauf der Anmeldungsfrist (§§ 284 Abs 1 erster Satz, 294 Abs 1 erster Satz StPO), begehrte er insoweit die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und holte zugleich die versäumte Verfahrenshandlung nach (ON 56).

Mit Beschluss vom 3. April 2020 (ON 62) bewilligte der Vorsitzende des Schöffensenats die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Rechtliche Beurteilung

Nach Zustellung dieses Beschlusses sowie einer Urteilsausfertigung am 23. April 2020 (Anhang an ON 1) führte Marek C***** die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung am 26. Mai 2020 aus (ON 65, vgl § 3 der Verordnung, mit der zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 besondere Vorkehrungen in Strafsachen getroffen werden, BGBl II 2020/113 idF BGBl II 2020/138) und stützte dabei Erstere auf § 281 Abs 1 Z 3, 5, „9a“ und 10 StPO.

 

Zum Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand:

Voranzustellen ist, dass die Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag, der sich (auch) auf eine Nichtigkeitsbeschwerde bezieht, dem Obersten Gerichtshof zukommt, weil § 364 Abs 2 Z 3 StPO auf die Kompetenz zu meritorischer Erledigung des Rechtsmittels in abstracto abstellt. Die Entscheidung des Landesgerichts für Strafsachen Wien über den gegenständlichen Antrag (ON 56) vom 3. April 2020 (ON 62) ist daher unbeachtlich (RIS‑Justiz RS0101250 [T1]) und war zur Klarstellung zu beseitigen (vgl 11 Os 6/17t).

Nach dem Antragsvorbringen habe eine seit sieben Jahren in der Kanzlei des Verteidigers verlässlich arbeitende, über mehr als 20 Jahre Berufserfahrung verfügende Mitarbeiterin, möglicherweise aufgrund von Ablenkung durch Telefonate oder anwesende Klienten, die – nur mehr via WebERV vorzunehmende – Übermittlung der vom Verteidiger kontrollierten und signierten Rechtsmittelanmeldung am letzten Tag der Frist, dem 27. Februar 2020, versehentlich unterlassen. Erst am 2. März 2020 habe sie dies bemerkt. Die Richtigkeit des Antragsvorbringens wurde durch eidesstattliche Erklärungen des Verteidigers und seiner betreffenden Kanzleimitarbeiterin sowie Unterlagen aus der Postmappe und dem WebERV des Verteidigers bescheinigt.

Gemäß § 364 Abs 1 Z 1 StPO ist Verfahrensbeteiligten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, sofern sie nachweisen, dass es ihnen durch unvorhersehbare oder unabwendbare Ereignisse unmöglich war, eine Frist einzuhalten oder eine Verfahrenshandlung vorzunehmen, es sei denn, dass ihnen oder ihren Vertretern ein Versehen nicht bloß minderen Grades zur Last liegt.

Ein (hier urkundlich nachgewiesenes) einmaliges Versehen einer sonst verlässlichen Kanzleiangestellten ist nach ständiger Judikatur als unvorhersehbares oder unabwendbares Ereignis im Sinn des § 364 Abs 1 Z 1 StPO anzusehen (RIS‑Justiz RS0101310 und RS0101329). Da ein Rechtsanwalt grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass der einer Kanzleiangestellten für einen bestimmten Tag angeordnete, bloß manipulative Vorgang der Auslösung der Versendung eines Schriftstücks via WebERV tatsächlich erfolgt, liegt insoweit auch kein Organisationsverschulden vor (RIS‑Justiz RS0122717 [insbesondere T1]).

Zumal die Wiedereinsetzung innerhalb von 14 Tagen nach dem Aufhören des Hindernisses beantragt und die versäumte Verfahrenshandlung zugleich mit dem Antrag nachgeholt wurde (§ 364 Abs 1 Z 2 und 3 StPO), war die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – zu bewilligen.

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde:

Wie die Verfahrensrüge (Z 3) zutreffend aufzeigt, wurde ein nichtigkeitsbegründender Ausschluss der Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung (§ 281 Abs 1 Z 3 StPO iVm § 228 Abs 1 StPO) bewirkt:

Nach dem ungerügten Protokoll über die Hauptverhandlung vom 24. Februar 2020 zog sich der Senat nach Schluss des Beweisverfahrens um 16:19 Uhr zur Urteilsfällung in das Beratungszimmer zurück (§ 257 StPO, ON 59 S 82 f). Ab 16:58 Uhr verkündete der Vorsitzende das Urteil (ON 59 S 83).

Laut Aktenvermerk des Vorsitzenden vom 29. Mai 2020 (ON 1 S 17) war an diesem Tag das Gerichtsgebäude grundsätzlich (nur) bis 16:00 Uhr allgemein zugänglich. Vorkehrungen getroffen zu haben, um potentiellen Zuhörern auch noch nach diesem Zeitpunkt den Zutritt zum Verhandlungssaal zu ermöglichen, konnte der Vorsitzende „nicht mehr mit Sicherheit“ angeben. Eine längere Besetzung der Torwache durch den Sicherheitsdienst erfolgte nicht (vgl RIS‑Justiz RS0117048, 13 Os 102/11s).

Der Oberste Gerichtshof bezieht die auf die Hauptverhandlung zielenden nichtigkeitsbewehrten Verfahrensgarantien – in verfassungskonformer (Art 6 Abs 1 MRK) Interpretation – auch auf die Urteilsverkündung. Demgemäß ist die zwingende gesetzliche Anordnung des § 229 Abs 4 StPO dahin zu verstehen, dass deren Verletzung als Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung zu sehen ist und solcherart Urteilsnichtigkeit nach § 228 Abs 1 StPO zur Folge hat (RIS‑Justiz RS0098132 [T4], jüngst 13 Os 82/19m).

Dies führte – ebenfalls in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – zur Aufhebung des Urteils wie aus dem Spruch ersichtlich bereits bei der nichtöffentlichen Beratung (§ 285e StPO).

Auf das weitere Vorbringen der Nichtigkeitsbeschwerde war daher nicht mehr einzugehen.

Mit seiner Berufung war der Angeklagte Marek C***** auf die Kassation zu verweisen.

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