OGH 12Os72/22p

OGH12Os72/22p29.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. September 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Mag. Turner in der Strafsache gegen * H* wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 222 U 130/18v des Bezirksgerichts Graz‑Ost, über die von der Generalprokurator gegen das Urteil dieses Gerichts vom 21. April 2021 und Vorgänge im Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Oberstaatsanwältin Mag. Ramusch LL.M., LL.M. (WU), zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0120OS00072.22P.0929.000

 

Spruch:

 

Im Verfahren AZ 222 U 130/18v des Bezirksgerichts Graz‑Ost verletzen

1./ die Durchführung der Hauptverhandlung am 13. Jänner 2021 § 427 Abs 1 StPO;

2./ die ohne Verzicht auf die Wiederholung erfolgte Fortsetzung der Hauptverhandlung am 21. April 2021 § 276a zweiter Satz StPO;

3./ die Durchführung der Hauptverhandlung und Urteilsfällung am 21. April 2021 § 427 Abs 1 StPO;

4./ die Unterlassung der Vertagung der Hauptverhandlung am 21. April 2021 § 275 StPO;

5./ die Verlesung der Protokolle über die Vernehmungen der Zeugen * T*, * R* und * S* in der am 21. April 2021 durchgeführten Hauptverhandlung § 252 Abs 1 StPO.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Graz‑Ost vom 21. April 2021, GZ 222 U 130/18v‑42, welches im Übrigen unberührt bleibt, wird in seinem Schuldspruch und demgemäß auch im Strafausspruch aufgehoben und es wird dem Bezirksgericht Graz‑Ost im Umfang der Aufhebung die Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens aufgetragen.

 

Gründe:

[1] Mit beim Bezirksgericht Graz‑Ost zu AZ 222 U 130/18v eingebrachtem Strafantrag vom 18. Oktober 2018, AZ 65 BAZ 1032/18v, legte die Staatsanwaltschaft Graz * H* das Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB wegen des Vorwurfs zur Last, dieser habe am 26. September 2018 in G* „Verfügungsberechtigten der Firma *“ mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz eine Dose Captain Morgan im Wert von 1,99 Euro wegzunehmen versucht (ON 3).

[2] Am 30. November 2018 erhob die Staatsanwaltschaft Graz zu ihrem AZ 65 BAZ 1165/18b gegen den Genannten einen weiteren Strafantrag, in welchem sie diesem das Vergehen des Diebstahls nach § 127 StGB wegen des Vorwurfs zur Last legte, dieser habe am 1. Oktober 2018 in G* „Verfügungsberechtigten der *‑Tankstelle“ mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz eine Dose Jack Daniels Cola und eine Packung Cabanossi im Gesamtwert von 7,48 Euro weggenommen (ON 3 in ON 8).

[3] Das aufgrund dieses Strafantrags zunächst zu AZ 18 U 67/18h des Bezirksgerichts Graz‑West geführte Verfahren wurde mit Verfügung vom 19. Dezember 2018 in das Verfahren AZ 222 U 130/18v des Bezirksgerichts Graz‑Ost einbezogen (ON 1 S 2).

[4] In der Hauptverhandlung am 9. Oktober 2019 verantwortete sich der Angeklagte geständig. Die Verhandlung wurde jedoch zur Einholung eines ergänzenden Gutachtens zur Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten auf unbestimmte Zeit vertagt (ON 23). Dieses Gutachten langte am 3. Dezember 2019 ein (ON 26).

[5] Am 31. Jänner 2020 erhob die Staatsanwaltschaft Graz zur ihrem AZ 65 BAZ 55/20w einen weiteren Strafantrag gegen den Genannten (ON 4 in ON 28). Sie legte ihm zur Last, er habe * S* am 20. Juli 2019 in G* durch Faustschläge eine Gehirnerschütterung sowie Hautabschürfungen zugefügt und dadurch das Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB begangen. Dieses – zunächst zu AZ 12 U 33/20t des Bezirksgerichts Graz‑West geführte – Verfahren wurde am 10. Februar 2020 in das erwähnte Verfahren des Bezirksgerichts Graz‑Ost einbezogen (ON 1 S 1c verso).

[6] Nach Abberaumung der für 29. Jänner 2020 und 16. November 2020 geplanten Hauptverhandlungstermine (ON 1 S 1c ff) fand am 13. Jänner 2021 ein neuer Hauptverhandlungstermin statt, für den der Angeklagte trotz darauf gerichteter Verfügung des Gerichts (ON 1 S 1e iVm S 1d) nicht geladen worden war (Anhang zu ON 1 S 1e). Obwohl der Erwachsenenvertreter des Angeklagten überdies dessen Unterbringung im geschlossenen Bereich einer Anstalt bekanntgab, führte das Bezirksgericht Graz‑Ost die Verhandlung zunächst in Abwesenheit des Angeklagten – wegen Zeitablaufs gemäß § 276a StPO neu – durch, vertagte diese jedoch nach Gutachtenserstattung durch den Sachverständigen Dr. * E* letztlich auf unbestimmte Zeit (ON 35).

[7] Zum folgenden Hauptverhandlungstermin am 21. April 2021 wurde der Angeklagte zwar geladen (ON 1 S 1e verso), aufgrund seiner nach wie vor aufrechten Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt konnte er allerdings daran wieder nicht teilnehmen. Trotz einer entsprechenden Bekanntgabe des Erwachsenenvertreters des Angeklagten wurde die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt (ON 41). Hiebei verlas das Gericht die Abschlussberichte ON 2 und ON 2 in ON 8 sowie ON 2 in ON 28 und damit auch die darin enthaltenen Protokolle über die Vernehmung der Zeugen * T* (ON 2 S 13 ff in ON 8), * R* und * S* (ON 2 S 11 ff in ON 28).

[8] Schließlich erkannte das Bezirksgericht Graz‑Ost * H* mit Abwesenheitsurteil vom 21. April 2021 des Vergehens des Diebstahls nach §§ 127, 15 StGB (1./) schuldig (Anmerkung: davon abweichend spricht die Urteilsausfertigung [ON 42] materiell und prozessual verfehlt [RIS‑Justiz RS0090730, RS0098860] von mehreren Vergehen des Diebstahls) und verhängte über diesen eine unbedingte Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Monaten. Zum mit Strafantrag vom 31. Jänner 2020 erhobenen weiteren Vorwurf (ON 4 in ON 28) erging ein Freispruch gemäß § 259 Z 3 StPO (ON 41 f).

[9] Am 23. April 2021 meldete die Staatsanwaltschaft daraufhin Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe an (ON 43), führte am 2. Juli 2021 jedoch – unter gleichzeitiger Zurückziehung der Berufung wegen Nichtigkeit und Schuld – nur die Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe zu Gunsten des Angeklagten aus (ON 45).

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes ausführt, steht das Verfahren AZ 222 U 130/18v des Bezirksgerichts Graz‑Ost in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Rechtliche Beurteilung

[10] 1./ Die Durchführung einer Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten ist nicht zulässig, wenn bereits im Zeitpunkt der Durchführung feststeht, dass der Angeklagte durch ein unabwendbares Hindernis vom rechtzeitigen Erscheinen abgehalten worden ist (RIS‑Justiz RS0101569; Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 1, 6 und 14). Vielmehr ist das Verfahren bei nicht absehbarer schwerer Erkrankung des Angeklagten gemäß § 197 StPO abzubrechen (§ 427 Abs 2 dritter Satz StPO), bei dessen bloß vorübergehender Erkrankung wäre die Hauptverhandlung hingegen gemäß § 275 StPO zu vertagen (Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 5).

[11] Fallaktuell gab der Erwachsenenvertreter des Angeklagten sowohl am 13. Jänner 2021 als auch am 21. April 2021 jeweils bereits zu Beginn der Verhandlung die aus einer aufrechten Unterbringung resultierende (vorübergehende) Verhinderung des Angeklagten bekannt (ON 35 S 2, ON 41 S 2). Die dennoch vorgenommene Durchführung dieser Verhandlungen in dessen Abwesenheit verletzt somit jeweils § 427 Abs 1 StPO; die Unterlassung der Vertagung der Verhandlung vom 21. April 2021 überdies § 275 StPO (§ 458 zweiter Satz StPO).

[12] Zudem darf eine Verhandlung in Abwesenheit nur stattfinden, wenn dem Angeklagten die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt wurde (§ 427 Abs 1 StPO). Da die Ladung des Angeklagten zur Verhandlung am 13. Jänner 2021 – trotz darauf gerichteter Verfügung des Gerichts (ON 1 S 1e iVm S 1d) – unterblieb, lag in Ansehung dieser Verhandlung diese Voraussetzung nicht vor, sodass deren Durchführung auch aus diesem Grund § 427 Abs 1 StPO verletzt.

[13] 2./ Ferner dürfen Protokolle über die Vernehmung von Zeugen in der Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit nur in den in § 252 Abs 1 StPO normierten Ausnahmefällen verlesen werden. Da aus dem Fernbleiben eines Angeklagten von der Hauptverhandlung dessen Einverständnis im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 StPO nicht abgeleitet werden kann (RIS‑Justiz RS0117012; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 103) und sich dem vorliegenden Akt keiner der übrigen Ausnahmefälle der Z 1 bis Z 3 leg cit entnehmen lässt, verletzt die Verlesung der Angaben der Zeugen * T*, * R* und * S* in der Hauptverhandlung am 21. April 2021 § 252 Abs 1 StPO (§ 458 zweiter Satz StPO).

[14] 3./ Gemäß § 276a StPO kann eine vertagte Verhandlung – soweit hier relevant – nur dann fortgesetzt werden, wenn seit der Vertagung nicht mehr als zwei Monate verstrichen sind oder beide Teile auf die Wiederholung wegen Überschreitung dieser Frist verzichten (Danek/Mann, WK‑StPO § 276a Rz 2 und 8). Angesichts der bereits am 13. Jänner 2021 erfolgten Vertagung der Verhandlung (ON 35) und mangels eines – aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung nicht abzuleitenden (RIS‑Justiz RS0117012 [T5]) – Wiederholungsverzichts lagen die genannten Voraussetzungen in der Hauptverhandlung am 21. April 2021 nicht vor. Eine Wiederholung der Hauptverhandlung ist dem diesbezüglichen Protokoll zufolge (ON 41; vgl dazu RIS‑Justiz RS0099052) jedoch unterblieben. Die Fortsetzung der Hauptverhandlung am 21. April 2021 verletzt daher § 276a zweiter Satz StPO (§ 458 zweiter Satz StPO).

[15] Die aufgezeigten Gesetzesverletzungen gereichen dem Angeklagten in Ansehung des wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 127, 15 StGB ergangenen Schuldspruchs zum Nachteil. Der Oberste Gerichtshof sah sich daher veranlasst, deren Feststellung wie aus dem Spruch ersichtlich mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

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