OGH 12Os47/10v

OGH12Os47/10v10.6.2010

Der Oberste Gerichtshof hat am 10. Juni 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Holzweber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll, Dr. Schwab, Dr. T. Solé und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Gotsmy als Schriftführer in der Strafsache gegen Michael B***** wegen der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 19. November 2009, GZ 72 Hv 27/09f-91, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen - auch rechtskräftige Freisprüche enthaltenden - Urteil wurde Michael B***** der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 zweiter Fall StGB (I./), der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 dritter Fall StGB (II./), des Vergehens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 1 StGB (III./), der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (IV./) und des Verbrechens der schweren Nötigung nach den §§ 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB (V./) schuldig erkannt und gemäß § 21 Abs 2 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.

Danach hat er in Wien

I./ im Zeitraum 1. Juli 2008 bis 8. Jänner 2009 mit der am 1. Oktober 1996 geborenen Eva B*****, somit mit einer unmündigen Person, in zumindest vier Fällen eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung unternommen, indem er

1./ ihr zwei Mal seine Finger sowie einmal einen unbekannten Gegenstand in den After einführte;

2./ ihr einmal seine Finger in die Scheide einführte;

II./ durch die unter Punkt I./ genannten Handlungen an seinem minderjährigen Stiefkind Eva B***** geschlechtliche Handlungen vorgenommen;

III./ im Zeitraum 1. Juli 2008 bis 8. Jänner 2009 der minderjährigen Eva B*****, somit einer Person, die seiner Obhut untersteht und die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, körperliche und seelische Qualen zugefügt, indem er

1./ ihr wiederholt Schläge mit der flachen Hand in das Gesicht;

2./ Faustschläge auf den Rücken und

3./ Schläge mit dem Pantoffel und der Fliegenklatsche auf den Kopf und den nackten Intimbereich versetzte,

4./ sie an den Haaren zerrte,

5./ ihr im Zuge der von ihm angeordneten Liegestütze mit dem Fuß in den Rücken stieg, sodass sie durch den Druck mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug und sich dabei zwei Zähne abbrach,

6./ sie mit kaltem Wasser abduschte und ihr den Brausestrahl vor den Mund hielt, sodass sie keine Luft bekam,

7./ sie an den Brüsten packte, sodass sie Hämatome erlitt,

8./ ihr drohte, er werde ihr eine Gurke einführen,

9./ ihr drohte, er werde sie mit der Hundeleine schlagen,

10./ ihr wiederholt eine Banane in den Mund steckte, ihr sagte, sie müsse den Atem anhalten und diese sodann vor und zurück bewegte,

IV./ nachstehende Personen vorsätzlich am Körper verletzte, und zwar

A./ Bronislava B*****

1./ im Oktober oder November 2008 indem er ihr einen Faustschlag in das Gesicht versetzte, wodurch sie eine nicht mehr feststellbare Verletzung der Nase erlitt;

2./ im Dezember 2008 indem er ihr Faustschläge auf den Oberkörper versetzte, wodurch sie eine Rippenprellung rechts erlitt;

B./ Christian S***** am 11. August 2009 indem er einen Deospray auf den Kopf des Genannten sprühte und das Gas anzündete, wodurch dieser eine leichte Verbrennung an der Kopfhaut erlitt;

V./ am 11. August 2009 den Christian S***** dadurch, dass er ihm eine Gabel an die linke Seite des Halses in die Haut drückte und dabei sagte „Wenn du noch einmal so einen Scherz machst, stech ich dir die Gabel in den Hals“, mithin durch Drohung mit dem Tode, zu einer Unterlassung, nämlich der Abstandnahme von weiteren Äußerungen über seine Ehefrau genötigt.

Rechtliche Beurteilung

Ausschließlich gegen die Anordnung der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher richtet sich die nominell auf Z 4, 5 und 5a des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.

Vorauszuschicken ist, dass die Anordnung einer Maßnahme nach § 21 StGB einen Ausspruch nach § 260 Abs 1 Z 3 StPO darstellt, der grundsätzlich mit Berufung und nach Maßgabe des § 281 Abs 1 Z 11 StPO auch mit Nichtigkeitsbeschwerde bekämpft werden kann. Dabei sind Überschreitung der Anordnungsbefugnis (§ 281 Abs 1 Z 11 erster Fall StPO) und Ermessensentscheidung innerhalb dieser Befugnis zu unterscheiden. Gegenstand der Nichtigkeitsbeschwerde ist jedenfalls die Überschreitung der Anordnungsbefugnis, deren Kriterien der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades beruhende Zustand und dessen Einfluss auf die Anlasstat sowie die Mindeststrafdrohung für die Anlasstat nach § 21 StGB sind. Hinsichtlich dieser für die Sanktionsbefugnis (§ 281 Abs 1 Z 11 erster Fall StPO) entscheidenden Tatsachen ist neben der Berufung auch die Bekämpfung mit Verfahrens-, Mängel- und Tatsachenrüge (§ 281 Abs 1 Z 11 erster Fall iVm Z 2 bis 5a StPO) zulässig. Werden die gesetzlichen Kriterien für die Ermessensentscheidung (Gefährlichkeitsprognose) verkannt oder wird die Prognosetat verfehlt als solche mit schweren Folgen beurteilt, so kommt auch eine Anfechtung aus § 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall StPO in Betracht (vgl zum Ganzen Ratz in WK² Vorbem zu §§ 21 bis 25 Rz 8 ff mwN).

Nichtigkeit des Sanktionsausspruchs nach § 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall StPO liegt vor, wenn die in Frage gestellte Gefährlichkeitsprognose zumindest eine der in § 21 Abs 1 StGB genannten Erkenntnisquellen (Person, Zustand des Rechtsbrechers und Art der Tat) vernachlässigt oder die aus den gesetzlich angeordneten Erkenntnisquellen gebildete Feststellungsgrundlage die Ableitung der Befürchtung, also der rechtlichen Wertung einer hohen Wahrscheinlichkeit für die Sachverhaltsannahme, der Rechtsbrecher werde eine oder mehrere bestimmte Handlungen begehen, welche ihrerseits rechtlich als mit Strafe bedroht und entsprechend sozialschädlich (mit schweren Folgen) zu beurteilen wären, als willkürlich erscheinen lässt (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 715 ff; RIS-Justiz RS0118581, RS0113980, RS0090341).

Durch die vom Beschwerdeführer gerügte Abweisung seines in der Hauptverhandlung vom 19. November 2009 gestellten Antrags (Z 11 erster Fall iVm Z 4) auf „Einholung eines Gegengutachtens, weil zwei Gutachten vorliegen, die absolut diametral sind“ (S 23 in ON 90), wurden Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht verletzt. Die Überzeugungskraft von Befund und Gutachten eines Sachverständigen unterliegt nämlich der freien Beweiswürdigung des Gerichts (§ 258 Abs 2 StPO). Ein Antrag, neue Befunde und Gutachten einzuholen, um die von einem Sachverständigen bereits erlangten Ergebnisse zu überprüfen, zielt auf eine unzulässige Erkundungsbeweisführung ab (vgl RIS-Justiz RS0117263). Alleine das Vorliegen eines Ergänzungsgutachtens desselben Sachverständigen, in welchem dieser aufgrund zwischenzeitig angezeigter weiterer, dem Nichtigkeitwerber angelasteter Aggressionsvorfälle (ON 68 und ON 69) unter Berücksichtigung des sonstigen Akteninhalts vom ursprünglichen Gutachten abweichende Schlüsse zog, gebietet fallbezogen keineswegs die Einholung eines weiteren Gutachtens, zumal der Experte die Gründe für diese Abweichungen und Änderungen in der Hauptverhandlung vom 19. November 2009 dargelegt hatte (S 13 ff in ON 90; § 127 Abs 3 StPO). Die nunmehr weitwendig nachgetragenen Argumente zur Antragsfundierung sind unbeachtlich, weil allein der in der Hauptverhandlung gestellte Antrag Gegenstand der Entscheidung des Schöffengerichts bildet (§ 238 Abs 1 StPO) und daher der Oberste Gerichthof dessen Berechtigung stets auf den Antragszeitpunkt bezogen prüft (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 325; Schroll/Schillhammer AnwBl 2006, 449; RIS-Justiz RS0099618, RS0099117).

Die auf § 281 Abs 1 Z 5 StPO gestützte Kritik an der der Prognoseentscheidung zugrunde liegenden und auf das (vom Rechtsmittelwerber als unzureichend angesehene) Gutachten des Sachverständigen Bezug nehmende Urteilsbegründung stellt nach den obigen Darlegungen ein bloßes Berufungsvorbringen dar.

Die ebenfalls das Sachverständigengutachten sowie die darauf gestützte Beweiswürdigung zur Urteilsannahme des Vorliegens einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad kritisierende Rüge nach § 281 Abs 1 Z 11 erster Fall iVm Z 5a StPO vermag keine erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Sanktionsausspruch zu Grunde liegenden entscheidenden Tatsachen zu begründen. Der Nichtigkeitswerber versucht lediglich neuerlich mit eigenen Beweiswerterwägungen die der Ermessensentscheidung des Gerichts zu Grunde liegenden Beurteilungskriterien, insbesondere zur Person des Angeklagten und seinen Persönlichkeitsstörungen, in Frage zu stellen.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO). Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung (§ 285i StPO).

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte