OGH 10ObS93/13v

OGH10ObS93/13v17.12.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Robert Brunner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei minderjährige E*****, diese vertreten durch Dr. Thomas Langer, Rechtsanwalt in Linz, als Verfahrenshelfer gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Zuerkennung von Hinterbliebenenleistungen, infolge Revision und Rekurses der beklagten Partei gegen das Teilurteil und den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 7. Mai 2013, GZ 12 Rs 50/13d‑26, womit das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 14. Februar 2013, GZ 7 Cgs 306/11t‑22, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision und dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Vater der Klägerin arbeitete im Malereibetrieb der Firma G***** in W***** als Gerüster. Der Betrieb ist von Wiesen und Obstkulturen umgeben. Auf dem Betriebsgelände befindet sich ein überdachter Lagerbereich, der im hinteren Bereich geschlossen und nach vorne offen ist.

Am 26. 5. 2011 war der Vater der Klägerin im Bereich des offenen Lagers eingeteilt, bei einem Gerüst diverse Sachen herzurichten bzw ein Gerüst zusammenzustellen. Bei dieser Tätigkeit wurde er von einer Wespe gestochen. Er lief in die Werkstätte, brach dort aufgrund eines anaphylaktischen Schocks zusammen und verstarb. Dass er gegen Wespengift allergisch ist, hatte er nicht gewusst.

Es steht nicht fest, dass sich im Bereich des offenen Lagers zum Zeitpunkt des Vorfalls ein oder mehrere Wespennester befunden haben. Das Jahr 2011 war ein besonders intensives Wespenjahr.

Mit Bescheid vom 20. 10. 2011 lehnte die beklagte Partei die Gewährung von Leistungen nach dem Vater der Klägerin ab.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung von Hinterbliebenenleistungen (Waisenrente, Bestattungskosten) gerichtete Klagebegehren ab. Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, bei einem Wespenstich handle es sich um keinen Unfall. Die Körperschädigung sei durch die spezifische körperliche Konstitution und nicht durch den Wespenstich eingetreten. Der Tod des Vaters sei auf eine rein innere Ursache, nämlich seine Allergie auf Wespengift zurückzuführen. Der Versicherte sei nur jenen Gefahren ausgesetzt gewesen, denen jeder Mensch im alltäglichen Leben im Frühling und Sommer ausgesetzt sei. Ein besonders gefahrenerhöhendes Moment sei durch die berufliche Tätigkeit nicht eingetreten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge. Es sprach mit Teilurteil aus, dass das auf Gewährung einer Waisenrente gerichtete Klagebegehren dem Grunde nach zu Recht besteht, und trug der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung auf. Im Übrigen hob es das Urteil des Erstgerichts auf. Der Tod des Vaters der Klägerin sei Folge eines Arbeitsunfalls. Der Wespenstich sei ein Unfall gewesen, habe er doch von außen auf den Vater der Klägerin eingewirkt und zu einer Körperschädigung geführt. § 175 ASVG stelle nicht auf das Vorliegen einer Betriebsgefahr ab. Eine erhöhte Gefährdung sei bei einem Unfall im Zuge der Erbringung der Arbeit nicht erforderlich. Ein Wespenstich sei kein alltägliches Ereignis. Weder aus dem Akteninhalt noch aus dem Vorbringen der Parteien ergäben sich Hinweise darauf, dass ein anaphylaktischer Schock beim Vater der Klägerin innerhalb eines Jahres auch bei einem alltäglich vorkommenden Ereignis innerhalb eines Jahres aufgetreten wäre. Der Arbeitsunfall sei wesentliche Ursache des Todes des Vaters der Klägerin gewesen. Sie habe Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, insbesondere auf Waisenrente. Die Rechtssache sei aber nicht zur Gänze spruchreif, weil zu den Anspruchsgrundlagen des begehrten Teilersatzes der Bestattungskosten bislang noch nichts vorgetragen oder festgestellt worden sei.

Das Berufungsgericht sprach aus, Rekurs und Revision seien zulässig, weil oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob ein durch einen Wespenstich verursachter anaphylaktischer Schock den Unfallbegriff des § 175 ASVG erfüllen könne.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil und ihr Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss sind aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie sind aber nicht berechtigt.

Die Rechtsmittelwerberin macht geltend, selbst wenn ein Wespenstich als Unfallereignis gelte, müsse in einem zweiten Schritt die medizinische Kausalität geprüft werden. In diesem Zusammenhang sei richtigerweise nicht zu fragen, ob ein „privates Unfallereignis“ - nämlich ein Wespenstich ‑ innerhalb eines Jahres auftrete oder nicht. Von den Fällen, in denen ein schicksalhaftes inneres Leiden bestehe, das sich schneller oder langsamer verschlimmere, seien jene Fälle zu unterscheiden, in denen eine gleichbleibende innere Anlage gegeben sei. Hier komme es nicht auf das Fortschreiten der inneren Anlage an, sondern auf die Risikodichte eines auslösenden Ereignisses ‑ entweder aus der beruflichen Welt oder aus dem privaten Bereich. Das Risiko, dem der Versicherte erlegen sei, komme medizinisch gesehen immer aus seiner persönlichen Veranlagung, auf Wespenstiche mit einem anaphylaktischen Schock zu reagieren. Diese Veranlagung verschlechtere sich nicht weiter so, dass auch ohne Wespenstich innerhalb eines Jahres mit Gesundheitsfolgen zu rechnen wäre. Das Leiden könne durch jeglichen Wespenstich ‑ sei es während der Arbeit, sei es in der Freizeit ‑ durch Erleiden eines anaphylaktischen Schocks zu Tage treten. Richtigerweise sei hier nicht zu fragen, ob ein solcher Wespenstich innerhalb eines Jahres eingetreten wäre oder nicht, sondern ob bei der bestehenden Veranlagung, die sich nicht selbst weiterentwickle, ein mehr oder weniger starker beruflicher Risikokomplex bestehe. Nur wenn ein Versicherter aus beruflichen Gründen einer erhöhten Gefährdung eines Wespenstichs ausgesetzt sei, könne diese besondere Beziehung zum Erfolg, wie sie bei der medizinischen Kausalität zu fordern sei, bejaht werden. Dem gegenüber stünden berufliche Tätigkeiten an Orten, in denen das Risiko, von einer Wespe gestochen zu werden, gegenüber dem sonst allgemeinen Risiko eines Wespenstichs nicht erhöht sei. Nur im Fall einer gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhten Gefährdung sei eine Zurechnung zur gesetzlichen Unfallversicherung begründbar.

Hierzu wurde erwogen:

Gemäß § 175 Abs 1 ASVG sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignen. Entgegen der Ansicht der beklagten Partei ist ein Arbeitsunfall des verstorbenen Vaters der Klägerin zu bejahen.

Der erkennende Senat hat in der Entscheidung 10 ObS 71/04w, SSV-NF 18/81, nebenher ausgesprochen, dass ein Insektenstich während der Arbeit einen Arbeitsunfall darstellen kann, wenn durch die Einwirkung eine Gesundheitsbeschädigung hervorgerufen wird. Unter Berufung auf diese Entscheidung führt Rudolf Müller in SV‑System § 175 ASVG Rz 41 aus, dass bei einem durch die versicherte Beschäftigung erforderlichen Aufenthalt im Freien auch an Ortsrisken durch Schlangen‑ oder Insektenbisse während der Arbeit als Unfallgeschehen zu denken sei, sofern diese zu einer Erkrankung führen (zB anaphylaktischer Schock als Folge eines beim Arbeiten im Freien erlittenen Wespenstichs).

Unfälle im Sinn des § 175 Abs 1 ASVG sind zeitlich begrenzte Ereignisse ‑ eine Einwirkung von außen, ein abweichendes Verhalten, eine außergewöhnliche Belastung -, die zu einer Körperschädigung führen (stRsp RIS‑Justiz RS0084348). Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass ein Wespenstich diesen Unfallbegriff erfüllt und der Versicherte einen Unfall erlitt (vgl zum deutschen Recht zB Köhler, Unfallversicherungsschutz bei Insektenstichen, VSSR 2012, 183; Lauterbach/Schwerdtfeger UV-SGB VII § 8 Rz 92 mwN; Kreikebohm/Speelbrink/Watermann, Kommentar zum Sozialrecht, § 8 SGB VII Rz 3 mwN; SGB VII-Komm/Krasney, § 8 Rz 15). Für diesen ist es nicht konstitutiv, dass eine Betriebsgefahr (vgl RIS‑Justiz RS0084130) oder ein besonderes, ungewöhnliches Geschehen vorliegt, denn auch ein zur gewöhnlichen beruflichen Tätigkeit gehörendes Ereignis kann ein Unfall sein, sofern es nur zeitlich begrenzt ist (10 ObS 131/90, SSV-NF 4/85 = SZ 63/98; RIS‑Justiz RS0084089).

Für die Qualifikation eines Unfalls als Arbeitsunfall ist in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten Ereignis (Unfallereignis) geführt hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (vgl 10 ObS 134/08s, SSV-NF 22/79; 10 ObS 16/11t; 10 ObS 123/12d).

Der Annahme eines Arbeitsunfalls steht nicht entgegen, dass ein Stich durch ein Insekt grundsätzlich jederzeit und an jedem Ort eintreten kann und keinen spezifischen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit hat (Gefahr des „täglichen Lebens“ wie zB Stolpern [vgl 10 ObS 19/98m], Ausrutschen; s Lauterbach/Schwerdtfeger. UV-SGB VII § 8 Rz 92 mwN; Kreikebohm/Speelbrink/Watermann, Kommentar zum Sozialrecht, § 8 SGB VII Rz 3 mwN; Brandenburg, SGb 1991, 188; Köhler, Unfallversicherungsschutz bei Insektenstichen, VSSR 2012, 183, 195; Schulin, HS-V, § 30 Rz 32; Selb, ZAS 1974, 62). Dass das Erstgericht eine durch betriebsbedingte Umstände herbeigeführte Erhöhung des Risikos des Erleidens eines Wespenstichs nicht feststellen konnte, führte entgegen der Ansicht der beklagten Partei allein nicht zur Verneinung eines Versicherungsfalls. Schließlich kann sich ein nach § 175 Abs 2 Z 1 ASVG versicherter Verkehrsunfall auf dem Weg zur Arbeitsstätte in gleicher Weise auch auf der Fahrt des Versicherten in den Urlaub ereignen, und niemand würde deshalb den Versicherungsschutz verneinen. In der Entscheidung 10 ObS 71/04w, SSV-NF 18/81, hat der erkennende Senat für die Bejahung eines Versicherungsschutzes bei einem Insektenstich eine berufsbedingt erhöhte Gefährdung nicht ausdrücklich verlangt.

Die Tätigkeit des Versicherten zur Zeit des Wespenstichs erfolgte im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses, sodass er im Unfallzeitpunkt grundsätzlich unter Versicherungsschutz stand. Der betriebsbedingte Anlass des Aufenthalts des Versicherten im Bereich des offenen Lagerbereichs ist nach Lage des Falls als rechtlich wesentliche Ursache anzusehen. Es wurde nämlich weder festgestellt noch behauptet, dass das Risiko eines Insektenstichs durch betriebsfremde Umstände erhöht worden war (vgl Brandenburg, SGb 1991, 188, 190), sodass dem unversicherten Lebensbereich zuzurechnende Mitursachen, die mit der Ursache aus der versicherten Tätigkeit konkurrieren und nach wertender Abwägung einer Bejahung des Versicherungsschutzes entgegenstehen könnten, nicht feststehen.

Der Unfall war auch wesentliche Ursache (vgl zB 10 ObS 45/04x, SSV-NF 18/48 mwN) des Todes des Versicherten und nicht bloße Gelegenheitsursache. Die für die primäre Gesundheitsstörung (anaphylaktischen Schock) und schließlich den Tod des Versicherten mitursächliche Allergie steht der Bejahung des Versicherungsschutzes nicht entgegen. Eine krankhafte Veranlagung ist nämlich im Vergleich zum Unfall alleinige oder überragende Ursache nur dann, wenn sie so leicht ansprechbar war, dass es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer, unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zur selben Zeit die Erscheinungen (Schädigung) ausgelöst hätte (stRsp RIS‑Justiz RS0084318; RS0084345). Um die Allergie des Versicherten gegen Wespengift akut anzusprechen, hätte es der Induktion des Allergens durch den Stich einer Wespe bedurft. Wie ein Hundebiss (10 ObS 50/94, SSV-NF 8/26) ist im erörterten Zusammenhang aber auch ein Wespenstich kein alltägliches Ereignis.

Da die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts zutreffend ist, waren sein Teilurteil und sein Aufhebungsbeschluss zu bestätigen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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