OGH 10ObS87/14p

OGH10ObS87/14p30.9.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Wolfgang Höfle (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ing. Thomas Bauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*****, vertreten durch Dr. Matthias Bacher, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 24. Juni 2014, GZ 8 Rs 83/14f‑30, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 12. Februar 2014, GZ 35 Cgs 199/13f‑18, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:010OBS00087.14P.0930.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Dem Berufungsgericht wird die neuerliche Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Begründung

Der Kläger begehrte zur AZ 27 Cgs 233/11v des Erstgerichts die Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension. In der Tagsatzung am 12. 6. 2012 zog er die Klage zurück.

Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt wies mit Bescheid vom 7. 9. 2012 den neuerlichen Antrag des Klägers vom 21. 8. 2012 auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension unter Hinweis auf § 362 Abs 3 ASVG mit der Begründung zurück, dass die Klage vor Ablauf der neunmonatigen Sperrfrist nach Zurückziehung der Klage im Vorverfahren eingebracht worden sei, ohne eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustands glaubhaft zu bescheinigen.

Das Erstgericht wies ‑ nach Durchführung eines Beweisverfahrens (insbesondere Einholung eines allgemeinmedizinischen und eines neurologisch-psychiatrischen sowie eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens) ‑ das vom Kläger dagegen erhobene und auf die Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1. 9. 2012, in eventu auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation gerichtete Klagebegehren im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass der Kläger im Beobachtungszeitraum der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag keine Beitragsmonate erworben habe, sodass seine Berufsunfähigkeit nach § 273 Abs 2 ASVG zu prüfen sei. Eine Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Gesetzesstelle liege beim Kläger nicht vor, weil er aufgrund seines näher festgestellten medizinischen Leistungskalküls noch die Tätigkeit eines Verpackungsarbeiters in diversen Branchen verrichten könne. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien ebenfalls nicht zu gewähren, weil eine Änderung des festgestellten medizinischen Leistungskalküls des Klägers in absehbarer Zeit nicht zu erwarten sei.

In seiner Berufung gegen dieses Urteil machte der Kläger im Rahmen seiner Mängelrüge unter anderem geltend, aus den Vorakten 27 Cgs 233/11v und 20 Cgs 217/06g des Erstgerichts sowie aus dem im gegenständlichen Verfahren eingeholten allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachten vom 20. 11. 2013 sei zu ersehen, dass er unter einer Vielzahl von Erkrankungen leide, die in verschiedenste medizinische Fachgebiete fielen. So leide er auch unter massiven Schädigungen seines Stützapparats, welche aus orthopädischer Sicht zu beurteilen seien, sowie an weiteren Erkrankungen, welche internistisch, lungenfachärztlich sowie augenfachärztlich bewertet werden müssten. Das erstinstanzliche Verfahren sei daher mangelhaft geblieben, weil vom Erstgericht die (von ihm bereits in der Klage beantragten) Sachverständigengutachten aus dem Gebiet der Orthopädie, Chirurgie, der Internen Medizin, der Pulmologie sowie ein Sachverständigengutachten aus dem Gebiet der Augenheilkunde nicht eingeholt worden seien. Die Einholung dieser Gutachten wäre auch deshalb erforderlich gewesen, weil sich seine Leidenszustände, insbesondere im Bereich des Stützapparats und der Lungenfunktion gegenüber den Vorgutachten erheblich verschlechtert hätten. Bei Einholung dieser weiteren Gutachten wäre das Erstgericht jedenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass er zu keinerlei Tätigkeit mehr im Stande sei, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet werde und die ihm unter billiger Berücksichtigung zugemutet werden könne.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers insgesamt keine Folge. Den soeben wiedergegebenen Ausführungen des Klägers in der Mängelrüge hielt es entgegen, dass ein primärer Verfahrensmangel im Sinn des § 496 Abs 1 Z 2 ZPO nur dann mit Erfolg geltend gemacht werden könne, wenn der Mangel abstrakt geeignet gewesen sei, eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Streitsache zu verhindern. Der Rechtsmittelwerber habe nachvollziehbar auszuführen, zu welchen für ihn günstigen Tatsachenfeststellungen das Erstgericht gelangt wäre, wenn es das Verfahren unter Beachtung der angeblich verletzten Verfahrensvorschriften durchgeführt hätte. Da sich der Berufung nicht einmal andeutungsweise entnehmen lasse, zu welchen weiteren Einschränkungen des Leistungskalküls des Klägers das Erstgericht durch die Einholung weiterer Sachverständigengutachten gelangt wäre, sondern sich die Berufungsausführungen auf die Wiedergabe des Gesetzestextes beschränkten, könne schon deshalb von einer Erheblichkeit des Verfahrensmangels im Sinn des § 496 Abs 1 Z 2 ZPO keine Rede sein.

In der Sache selbst verwies das Berufungsgericht darauf, dass der Kläger innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag keine Beitragsmonate erworben habe, sodass ihm ein Berufsschutz im Sinn des § 273 Abs 1 ASVG idF BBG 2011 (BGBl I 2010/111) nicht zukomme. Seine Berufsunfähigkeit sei daher nach § 273 Abs 2 ASVG zu beurteilen. Danach gelte die versicherte Person auch dann als berufsunfähig, wenn sie infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr im Stande sei, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihr unter billiger Berücksichtigung der von ihr ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das eine körperlich und geistig gesunde versicherte Person regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Diese Regelung entspreche jener des § 255 Abs 3 ASVG für Arbeiter ohne Berufsschutz. Das Verweisungsfeld sei daher mit dem gesamten Arbeitsmarkt ident. Die Regelung hindere nicht eine Verweisung auf Tätigkeiten, die den bisher ausgeübten unähnlich seien, sondern es solle nur eine Verweisung auf Tätigkeiten verhindert werden, die einen höheren Bildungsgrad oder eine unzumutbare längere Anlernung oder Umschulung voraussetzen. Die Regelung des § 273 Abs 2 ASVG solle daher wie die gleichlautende Regelung des § 255 Abs 3 ASVG nur in Ausnahmefällen eine Verweisung verhindern, die bei Berücksichtigung der schon ausgeübten Tätigkeiten als unbillig bezeichnet werden müsste. Selbst wenn der Kläger zuletzt eine qualifizierte Angestelltentätigkeit ausgeübt hätte, stünde diese einer Verweisung auf Tätigkeiten wie jene des Verpackungsarbeiters nicht entgegen. Es sei offenkundig, dass eine vom Kläger zuletzt 1986 ausgeübte Tätigkeit durch den inzwischen verstrichenen Zeitraum von bald 30 Jahren jedenfalls ihre allfällige damalige Wertigkeit verloren habe und eine Verweisung auf einfache Tätigkeiten nicht unzumutbar mache.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil eine Rechtsfrage der in § 502 Abs 1 ZPO normierten Bedeutung nicht zu beurteilen gewesen sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragte der Revision keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht in der Frage der Darlegungslast eines erheblichen Verfahrensmangels durch den Rechtsmittelwerber von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist, und im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Der Kläger macht geltend, das Berufungsverfahren sei durch die (teilweise) Ablehnung einer inhaltlichen Behandlung seiner Verfahrensrüge mangelhaft geblieben. Er habe ausreichend dargelegt, dass das Erstgericht bei Einholung der von ihm beantragten medizinischen Sachverständigengutachten zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu keinerlei Tätigkeit mehr in der Lage sei. Dies stelle eine ausreichende Darstellung seines medizinischen Leistungskalküls dar, ohne dass gesondert hervorgehoben werden müsse, zu keinerlei körperlichen Tätigkeiten oder zu keinerlei geistigen Tätigkeiten mehr in der Lage zu sein. Es liege daher entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts keineswegs bloß eine Rechtsfolgenbehauptung vor.

Dazu ist Folgendes auszuführen:

Auch Verfahrensfehler der zweiten Instanz können erhebliche Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO haben, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechts auf dem Spiel stehen. Zu solchen tragenden Grundsätzen gehört es auch, dass gemäß § 496 Abs 1 Z 2 ZPO geltend gemachte Verfahrensmängel der ersten Instanz vom Berufungsgericht sachlich behandelt werden und nicht infolge Verkennung des Inhalts der entsprechenden Rüge unbeachtet bleiben. Da das Berufungsgericht nicht etwa den Verfahrensmangel erster Instanz (inhaltlich) verneinte, vielmehr dessen (inhaltliche) Behandlung bewusst unterließ, steht der Wahrnehmung der Mangelhaftigkeit des Berufungsurteils die Rechtsprechung (vgl die Nachweise bei E. Kodek in Rechberger , ZPO 4 § 503 Rz 9) nicht entgegen, wonach ‑ auch im Verfahren nach dem ASGG ‑ vom Berufungsgericht verneinte angebliche Mängel erster Instanz nicht mehr mit Revision geltend gemacht werden können (3 Ob 130/01s mwN ua). Dieser Grundsatz, wonach ein in erster Instanz angeblich unterlaufener Verfahrensmangel nicht nochmals in der Revision geltend gemacht werden kann, ist nämlich unanwendbar, wenn das Berufungsgericht eine Erledigung dieser Mängelrüge infolge unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften unterlassen hat; in diesem Fall liegt ein Mangel des berufungsgerichtlichen Verfahrens vor, der nach § 503 Z 2 ZPO bekämpfbar ist (RZ 1979/8, 38 ua; Klauser / Kodek ZPO 17 § 503 E 40 mwN).

Es trifft zu, dass der Anfechtungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens nur dann gegeben ist, wenn der behauptete Verstoß gegen ein Verfahrensgesetz abstrakt geeignet war, eine erschöpfende und gründliche Beurteilung der Streitsache zu hindern (RIS‑Justiz RS0043049, RS0043027). Der Rechtsmittelwerber hat die abstrakte Eignung darzutun, wenn die Erheblichkeit des Mangels nicht offenkundig ist (RIS‑Justiz RS0043049 [T6]). Er muss in seiner Verfahrensrüge nachvollziehbar ausführen, welche für ihn günstigen Verfahrensergebnisse zu erwarten gewesen wären, wenn der Verfahrensfehler nicht unterlaufen wäre (RIS‑Justiz RS0043039 [T4, T5]). Den Nachweis der konkreten Verursachung, dass also im vorliegenden Fall die Unrichtigkeit der Entscheidung gerade auf diesen Fehler zurückzuführen ist, muss der Berufungswerber nicht erbringen; er wäre auch in den meisten Fällen dadurch überfordert ( Pimmer in Fasching/Konecny ² § 496 ZPO Rz 35 mwN). Damit führen jene Stoffsammlungsmängel zu keinem Erfolg der Verfahrensrüge, die von vornherein für die ihn geltend machende Partei keinen nachteiligen Einfluss auf die Entscheidung gehabt haben konnten. Ob dies der Fall ist, hat das Berufungsgericht aus dem Zusammenhalt zwischen der Verfahrensrüge und dem zum übergangenen Beweisantrag vorgebrachten Beweisthema zu beurteilen (vgl Delle‑Karth , Die Mangelhaftigkeit des Verfahrens im Berufungssystem des österreichischen Zivilprozessrechts, ÖJZ 1993, 10 [19]).

Im vorliegenden Fall hat der Kläger in der Mängelrüge in seiner Berufung ausdrücklich vorgebracht, dass die Einholung der von ihm größtenteils bereits in der Klage beantragten weiteren medizinischen Sachverständigengutachten aus den genannten Fachgebieten ergeben hätte, dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu keinerlei Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt mehr in der Lage sei . Damit hat der Kläger die abstrakte Eignung des angeblichen Verfahrensfehlers, eine unrichtige Entscheidung herbeizuführen, ausreichend behauptet. Vom Kläger kann nicht verlangt werden, dass er darüber hinaus auch konkret vorbringt, welche weiteren Einschränkungen seines festgestellten medizinischen Leistungskalküls sich durch die Einholung der von ihm beantragten weiteren Sachverständigengutachten im Einzelnen ergeben hätten. Damit hat der Kläger entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts die Erheblichkeit des von ihm geltend gemachten Verfahrensmangels im Sinn des § 496 Abs 2 Z 1 ZPO ausreichend dargetan.

Der dem Berufungsgericht unterlaufene Verfahrensmangel gemäß § 503 Z 2 ZPO erfordert die Aufhebung des Berufungsurteils und die Zurückverweisung der Rechtssache an das Berufungsgericht, welche nunmehr auch die Rüge dieses Verfahrensmangels in der Berufung inhaltlich zu behandeln haben wird.

In der Sache selbst ist das Berufungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die Berufsunfähigkeit des Klägers nach § 273 Abs 2 ASVG zu beurteilen ist und selbst der Umstand, dass der Kläger zuletzt 1986 eine qualifizierte Angestelltentätigkeit ausgeübt habe, seiner Verweisung auf die festgestellte Tätigkeit eines Verpackungsarbeiters nicht entgegenstünde.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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