OGH 10ObS63/10b

OGH10ObS63/10b1.6.2010

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Brigitte Augustin und Dr. Gabriele Griehsel (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. Urszula R*****, vertreten durch Mag. Jürgen Zouplna, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. Februar 2010, GZ 8 Rs 161/08t-96, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

Es entspricht seit der Entscheidung 9 ObS 23/87 (= SSV-NF 1/64) der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung die Auswirkungen einer Unfallverletzung auf die Einsatzmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu prüfen sind und der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit daher unabhängig vom tatsächlich ausgeübten Beruf abstrakt zu beurteilen ist (RIS-Justiz RS0088972, RS0084174 ua). Die Unfallversicherung ist keine Berufsversicherung (RIS-Justiz RS0088964). Nur besondere Situationen im Einzelfall können die angemessene Berücksichtigung der Ausbildung und des bisherigen Berufs zur Vermeidung unbilliger Härten rechtfertigen (RIS-Justiz RS0043587). Ein Härtefall, der ein Abweichen von der ärztlichen Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigen könnte, liegt nach ständiger Rechtsprechung nur dann vor, wenn den Versicherten infolge der unfallbedingten Aufgabe oder erheblichen Einschränkung der bisherigen Tätigkeit beträchtliche Nachteile in finanziell-wirtschaftlicher Hinsicht treffen und eine Umstellung auf andere Tätigkeiten unmöglich ist oder ganz erheblich schwer fällt, wobei im Interesse der Vermeidung einer zu starken Annäherung an eine konkrete Schadensberechnung ein strenger Maßstab anzulegen ist (RIS-Justiz RS0086442).

Die Unmöglichkeit, den bisherigen Beruf weiterhin ausüben zu können, stellt für sich allein noch keinen Härtefall dar. Nur wenn die besonderen Umstände des Einzelfalls, etwa eine spezialisierte Berufsausbildung, die eine anderweitige Verwendung, bezogen auf das gesamte Erwerbsleben, praktisch gar nicht zulässt oder in weit größerem Umfang einschränkt als in durchschnittlichen Fällen mit vergleichbaren Unfallfolgen, könnte von einem besonders zu berücksichtigenden Härtefall gesprochen werden (RIS-Justiz RS0086439).

Diese Ausführungen entsprechen auch der in Deutschland vertretenen Auffassung zu der dort ausdrücklich im Gesetz enthaltenen Härteklausel des § 56 Abs 2 Satz 3 SGB VII (früher § 581 Abs 2 RVO) über die Berücksichtigung erworbener besonderer beruflicher Kenntnisse und Erfahrungen. Danach liegen die eine Höherbewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigenden Nachteile dann vor, wenn unter Wahrung des Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde. Als wesentliche Merkmale für die Beurteilung der Frage, ob dies der Fall ist, hat das deutsche Bundessozialgericht insbesondere das Alter des Verletzten, die Dauer der Ausbildung sowie vor allem die Dauer der Ausübung der speziellen beruflichen Tätigkeit und auch den Umstand bezeichnet, dass die bisher verrichtete Tätigkeit eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistete. Aus diesen Merkmalen und den außerdem zu beachtenden sonstigen besonderen Umständen des Einzelfalls kann sich eine höhere Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ergeben, wenn der Verletzte die ihm verbliebenen Kenntnisse und Fähigkeiten nur noch unter Inkaufnahme eines unzumutbaren sozialen Abstiegs auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens verwerten kann. Dabei wurde aber betont, dass allein die unfallbedingte Aufgabe des erlernten Berufs ebenso wenig eine Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu begründen vermag, wie allein der Umstand, dass erst unter Heranziehung der Erhöhungsvorschrift ein Anspruch auf Versehrtenrente ermöglicht werden kann. Das Bundessozialgericht hat stets betont, dass aus diesen Umständen nicht allein bzw nicht zwangsläufig auf das Vorliegen einer unbilligen Härte geschlossen werden könne; das gleiche gelte für den erheblichen Minderverdienst, den ein Betroffener wegen des Berufsverlustes hinzunehmen habe, und zwar wegen des im Unfallversicherungsrecht herrschenden Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung. Eine besondere Härte hat das Bundessozialgericht zB im Fall eines Geigers bejaht, der wegen des Verlustes mehrerer Finger seinen Beruf völlig aufgeben musste. In gleicher Weise ist der Fall zu bewerten, dass ein Kaffeeröster seinen Geruchs- und Geschmacksinn verliert. Während diese Unfallfolgen in der Regel mit 10 bis 15 vH bewertet werden, ist im Beispielsfall wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit eine höhere Minderung der Erwerbsfähigkeit anzusetzen. Als Gegenbeispiel für die Nichtanwendung der Härteklausel gilt der Fall eines Musikdozenten, der nach einem Arbeitsunfall zwar seinen Beruf als Dozent weiterhin ausüben, dabei und bei seiner Nebentätigkeit als Solist aber in gewissem Umfang behindert war, weil er durch die Verkrümmung des Fingers der linken Hand bestimmte Griffe beim Klavierspielen nicht oder nicht mehr exakt genug ausüben konnte (vgl dazu Podzun, Der Unfallsachbearbeiter 500 Lfg. 2/89 bzw 41. Lfg. VI/82 4 ff; Jochem Schmitt in Maydel/Roland/Becker [Hrsg], Sozialrechtshandbuch4 § 16 Rz 190; Ricke in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht Bd 2 EL 41 [September 2003] bzw EL 46 [März 2005] § 56 SGB VII Rz 28 ff mwN ua).

Die Frage, ob ein besonderer Härtefall vorliegt, ist somit aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Insgesamt ist der Maßstab der Rechtsprechung streng und macht die Anwendung der Härteklausel zu einer Ausnahme, um eine Aufweichung der die Versicherten überwiegend begünstigenden abstrakten Schadensberechnung zu vermeiden. So hat der Oberste Gerichtshof in seiner bisherigen Judikatur das Vorliegen einer besonderen Härte im konkreten Einzelfall stets verneint.

Im vorliegenden Fall erlitt die als selbständige Opernsängerin unfallversicherte Klägerin nach den maßgebenden Feststellungen am 23. 9. 2004 in Polen auf dem Weg zu einer Konzertprobe bei einem Verkehrsunfall als Beifahrerin eine Gehirnerschütterung, eine Schädelprellung, eine Hautabschürfung im Bereich der linken Gesichtshälfte sowie eine Prellung des Brustkorbes und der linken Schulter. Sie war aufgrund dieser Verletzungen bis 14. 10. 2004 völlig erwerbsunfähig. Bei der Klägerin liegt als wesentliche Unfallfolge eine Hyperakusis (= akustische Überempfindlichkeit mit herabgesetzter Unbehaglichkeitsschwelle) sowie eine diskrete Schädigung des linken Ohres mit grenzwertig herabgesetzter Hörschwelle und minimal herabgesetzter vestibulärer Reaktion vor. Diese Unfallfolgen bedingen am allgemeinen Arbeitsmarkt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 vH.

Die am 1. 8. 1962 in Polen geborene Klägerin besuchte die staatliche Musikmittelschule in Krakau, die sie erfolgreich abschließen konnte (Schwerpunkt Chor- und Sologesang). Im Anschluss daran studierte sie Gesang in Katovice und Wien und erhielt am 18. 2. 1992 von der Musikakademie in Katovice das Diplom eines „Magisters Artium“ im Bereich Sologesang. Zu Beginn der 90er Jahre war die Klägerin für einige Monate beim Landestheater Linz angestellt, danach betätigte sich als selbständige Opernsängerin. Sie konzentrierte sich dabei auf das Fach des Koloratur-Soprans und spezialisierte sich auf die Aufführung von Werken im Bereich der Koloraturen, was aufgrund ihrer Fähigkeiten als Koloratur-Sopran angesichts der lukrativen Aufträge in diesem Bereich auch nachvollziehbar ist. Andere aufgeführte Werke wie beispielsweise Wiener Lieder, Operetten oder Sakralmusik traten in den Hintergrund. Neben der Spezialisierung auf Koloraturen pflegte die Klägerin als Teil des „Fledermaus-Ensembles“ auch das Operettenfach, in dem jedoch auch Koloratur-Arien vorkommen. Die Klägerin war in ihrer Berufswelt bis zum gegenständlichen Unfall gut verankert. Im Jahr 2003 belief sich der Gesamtbetrag ihrer Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit auf 19.115,70 EUR, im Jahr 2004 auf 36.211,06 EUR. Im Jahr 2005, also im Jahr nach dem Unfall, betrug der Verlust aus Einkünften aus selbständiger Erwerbstätigkeit 15.395,24 EUR.

Die bei der Klägerin als Folge des Arbeitsunfalls vom 23. 9. 2004 bestehende akustische Überempfindlichkeit schränkt ihre Berufsausübung auf jenes Repertoire ein, das ohne beständige Nutzung der Kopfstimme zu bewältigen ist (zB lyrische Lieder, komische Partien, teilweise Sakrales). Koloratur-Arien scheiden hingegen aus. Es handelt sich bei den Koloratur-Arien um einen gewichtigen Teil des Repertoires und somit der früheren Berufstätigkeit der Klägerin. Dieses Fach beherrschte sie ausgezeichnet. Sie kann ihren Beruf als Opernsängerin - allerdings mit der soeben erwähnten Einschränkung - weiterhin ausüben. Es ist technisch möglich, in ein anderes Fach (lyrische Lieder, komische Partien, Sakrales) zu wechseln. Dieses Repertoire muss allerdings zuerst erlernt werden und es müssen die entsprechenden beruflichen Kontakte geknüpft werden. Für die Klägerin besteht insofern ein weiteres Problem darin, dass in diesem Bereich im Wesentlichen deutsche Komponisten maßgebend sind und auf der höchsten Ebene dieses Bereichs daher ausschließlich Liedsänger mit deutscher Muttersprache tätig sind. Das Erlernen eines Repertoires erfordert einen Mindestzeitraum von vier bis sechs Monaten; das Knüpfen neuer Kontakte zur Erreichung entsprechender Engagements dauert mindestens ein Jahr. Ein Wechsel von Koloratur-Sopran in das lyrische Fach wäre kein Nachteil für die Reputation der Sängerin.

Das Einkommen einer Opernsängerin, die selbständig auf dem Markt tätig ist, kann nicht prognostiziert werden, weil es von Konjunkturen am Markt und von Konkurrenzverhältnissen abhängig ist.

Im Fall der Klägerin liegen somit einige Merkmale vor, die für eine Anwendung der Härteklausel sprechen. So hat sie seit der Mittelschule bis zum Abschluss ihres Hochschulstudiums im Jahr 1992 konsequent an ihrer Ausbildung zur Opernsängerin gearbeitet und sich im Anschluss daran erfolgreich auf das Koloraturfach spezialisiert. Sie war vor dem Arbeitsunfall am 23. 9. 2004 seit vielen Jahren als selbständige Koloratur-Sopranistin tätig. Sie verfügt damit über Fertigkeiten, die sie sich durch ihre vorhandene Begabung und jahrelange Übung angeeignet hat und die sie infolge des Arbeitsunfalls nicht mehr wie früher wirtschaftlich verwerten kann. Diese Fertigkeiten haben ihr auch zuletzt eine gesicherte Stellung im Erwerbsleben gewährleistet. Die Klägerin kann aber andererseits nach den Feststellungen ihren erlernten Beruf als Gesangssolistin, wenn auch eingeschränkt, weiterhin ausüben. So ist es ihr möglich, vom Koloraturfach in ein anderes Fach (lyrische Lieder, komische Partien, Sakrales) zu wechseln. Ein Wechsel der Klägerin vom Koloratur-Soupran in das lyrische Fach wäre auch kein Nachteil für ihre Reputation als Sängerin. Sie müsste allerdings zuerst ein teilweise neues Repertoire erlernen und entsprechende berufliche Kontakte knüpfen. Sie wäre dadurch aber in der Lage, ihre angeborene musikalische Begabung und die in jahrelanger Übung in der Ausübung ihres Gesangstalentes erworbenen Fertigkeiten weiterhin zu verwerten. Die der Klägerin als Gesangssolistin weiterhin zumutbare Tätigkeit wäre daher grundsätzlich geeignet, die durch den Verlust der besonderen beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten im Koloraturfach bedingten wirtschaftlichen und sozialen Nachteile auszugleichen. Entgegen der Rechtsansicht der Klägerin in ihrer Revision ist für die rechtliche Beurteilung nicht ausschlaggebend, ob ihre konkrete Einkommenssituation bei ihrer neuen Tätigkeit ungünstiger ist als in der vor dem Unfall ausgeübten Tätigkeit. Die Entschädigung in der gesetzlichen Unfallversicherung wird nämlich von dem Grundsatz der abstrakten Schadensberechnung beherrscht. Dies bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die in Form einer Versehrtenrente zu gewährende Entschädigung nicht den tatsächlichen Mindestverdienst ausgleichen soll, sondern nach dem Unterschied der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten des Verletzten vor und nach dem Arbeitsunfall zu bemessen ist. Dementsprechend können auch die individuellen Verhältnisse wie die konkrete Einkommenssituation des Verletzten grundsätzlich nicht zur Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Rahmen der Härtefallregelung führen.

Wenn das Berufungsgericht bei der geschilderten Sachlage im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung zu dem Ergebnis gelangte, dass mit der bei der Klägerin bestehenden unfallsbedingten Einschränkung weder aufgrund ihres Alters noch im Hinblick auf das Erfordernis einer teilweisen Neuorientierung im Rahmen des erlernten Berufs besondere Härten verbunden seien, welche eine Erhöhung der festgestellten medizinischen Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 vH rechtfertigten, kann darin vom erkennenden Senat keine im Einzelfall aufzugreifende offensichtliche Fehlbeurteilung erblickt werden.

Die außerordentliche Revision der Klägerin war daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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