OGH 10ObS53/23a

OGH10ObS53/23a16.5.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Elisabeth Schmied (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei W*, geboren * 1962, Berufskraftfahrer und Dachdecker, *, vertreten durch die BAH Heim & Hitzenbichler Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. März 2023, GZ 11 Rs 8/23 k‑31, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00053.23A.0516.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der * 1962 geborene Kläger leidet seit dem Jahr 1977 an einer funktionellen Einäugigkeit. Beim Eintritt in das Erwerbsleben im Jahr 1978 waren beim Kläger deswegen unter anderem Arbeiten auf Leitern, Gerüsten und in exponierten Lagen zu vermeiden.

[2] Der Kläger schloss eine Lehre als Dachdecker und als Berufskraftfahrer ab. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 1. Oktober 2021 übte der Kläger in 114 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit aus, davon 87 Pflichtversicherungsmonate als LKW‑ und Fernfahrer und zumindest sieben Pflichtversicherungsmonate als Dachdecker.

[3] Mit Bescheid vom 5. November 2021 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 16. September 2021 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab und sprach aus, dass Invalidität auch in absehbarer Zeit nicht eintreten werde, sodass auch kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation bestehe.

[4] Das Erstgericht sprach aus, dass das auf Gewährung der Invaliditätspension ab 1. Oktober 2021 gerichtete Klagebegehren dem Grunde nach zu Recht bestehe, und trug der Beklagten eine vorläufige Zahlung von 100 EUR monatlich auf. Es stellte den eingangs auszugsweise wiedergegebenen Sachverhalt fest und folgerte rechtlich, dass der Kläger nicht mehr in der Lage sei, in seinen erlernten Berufen zu arbeiten. Für die Ausübung von dem Kläger gesundheitlich noch zumutbaren Verweisungsberufen seien Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation erforderlich, aber nicht zweckmäßig.

[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das auf Gewährung einer Invaliditätspension, in eventu auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation gerichtete Klagebegehren ab. Auch für die Begründung bzw den Erhalt des Berufsschutzes sei es erforderlich, dass der Versicherte, ausgehend von seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit (zum Zeitpunkt der Aufnahme dieser Tätigkeit), vorerst in der Lage gewesen sein müsse, die in Frage stehende Tätigkeit zu verrichten. Der Kläger habe aufgrund der eingebrachten funktionellen Einäugigkeit seit Eintritt ins Erwerbsleben Arbeiten auf Leitern, Gerüsten und in exponierten Lagen vermeiden müssen. Er sei somit aufgrund seiner eingeschränkten körperlichen Fähigkeit von Beginn seines Erwerbslebens an nicht in der Lage gewesen, die Tätigkeit als Dachdecker zu verrichten, und auf ein entsprechendes Entgegenkommen seines Dienstgebers oder seiner Arbeitskollegen angewiesen gewesen. Seine Tätigkeit in diesem erlernten Beruf habe daher keinen Berufsschutz begründen können. Ein Berufsschutz als Berufskraftfahrer scheitere bereits an der Voraussetzung der nach § 255 Abs 2 ASVG erforderlichen Mindestdauer von zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten im Beobachtungszeitraum. Als Verweisungsfeld komme vielmehr der allgemeine Arbeitsmarkt iSd § 255 Abs 3 ASVG in Betracht. Der Kläger sei aufgrund seines Leistungskalküls noch auf Tätigkeiten im Hilfskraftbereich verweisbar. Mangels Invalidität bestehe auch kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation.

Rechtliche Beurteilung

[6] In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[7] 1.1. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann eine nur mit besonderem Entgegenkommen des Dienstgebers (oder von Arbeitskollegen) mögliche Tätigkeit nicht als eine Tätigkeit in einem erlernten Beruf iSd § 255 Abs 1 ASVG angesehen werden (RS0084447 [T1]). Ein Versicherter, der nicht unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts beschäftigt war, kann daher durch diese Tätigkeit weder einen Berufsschutz erwerben noch einen bereits bestandenen Berufsschutz erhalten (10 ObS 85/08k SSV‑NF 22/50; 10 ObS 143/92 SSV‑NF 6/73; RS0084447 [T2]).

[8] 1.2. Auch für die Begründung bzw den Erhalt des Berufsschutzes ist es somit erforderlich, dass der Versicherte, ausgehend von seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit (zum Zeitpunkt der Aufnahme dieser Tätigkeit), vorerst in der Lage gewesen sein muss, die in Frage stehende Tätigkeit zu verrichten, und dass durch eine nachfolgende Entwicklung nach Aufnahme dieser Tätigkeit die ursprüngliche Leistungsfähigkeit so weit verschlechtert wurde, dass nunmehr eine Tätigkeit in dem durch den Berufsschutz begründeten Verweisungsfeld nicht mehr möglich ist (RS0084829 [T24]; RS0085107 [T15]).

[9] 2. Mit dieser Rechtsprechung steht die Beurteilung des Berufungsgerichts im Einklang.

[10] 2.1. Der Kläger musste aufgrund der eingebrachten funktionellen Einäugigkeit seit Eintritt ins Erwerbsleben Arbeiten auf Leitern, Gerüsten und in exponierten Lagen vermeiden und war somit aufgrund seiner eingeschränkten körperlichen Fähigkeit von Beginn seines Erwerbslebens an nicht in der Lage, die Tätigkeit als Dachdecker zu verrichten. Die vom Kläger aufgeworfene Frage, ob in einem solchen Fall bei einer mehrjährigen Tätigkeit vom Bestehen bzw Erhalt des Berufsschutzes auszugehen sei, ist damit in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung beantwortet.

[11] 2.2. Soweit der Kläger darüber hinaus davon ausgeht, dass ihn sein gesundheitlicher Zustand nicht an der Ausübung des Berufs eines Dachdeckers gehindert habe, andernfalls er den Beruf nicht so viele Jahre hindurch ausgeübt hätte, geht er nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, nach dem bereits beim Eintritt in sein Erwerbsleben Arbeiten auf Leitern, Gerüsten und in exponierten Lagen zu vermeiden waren.

[12] 3. Der Vorwurf des Klägers, die Beklagte habe mit ihrem erstmals in der Berufung enthaltenen Hinweis, dass dem Kläger kein Berufsschutz zukomme, gegen das Neuerungsverbot verstoßen, sodass das Berufungsgericht vom Vorliegen eines Berufsschutzes auszugehen gehabt habe, ist ebenfalls unberechtigt:

[13] 3.1. Das Neuerungsverbot betrifft nur den Tatsachenbereich (RS0041965 [T1]) und bezieht sich nicht auf Rechtsfragen (RS0041965 [T7]). Eine Änderung der rechtlichen Argumentation einer Partei bzw die Geltendmachung eines neuen Gesichtspunkts bei der rechtlichen Beurteilung ist auch im Rechtsmittelverfahren zulässig, sofern die hiezu erforderlichen Tatsachen bereits im Verfahren erster Instanz behauptet wurden und nicht etwa – wie bei der Verjährung (§ 1501 ABGB) – eine ausdrückliche Vorschrift besteht, die den Erstrichter hinderte, ohne diesbezügliche Einwendung der Partei auf diese Rechtsfrage einzugehen (RS0016473).

[14] 3.2. Bei der Frage, ob der Versicherte Berufsschutz iSd § 255 Abs 1 ASVG genießt, handelt es sich um eine Rechtsfrage (RS0115065). Auf Tatsachenebene brachte die Beklagte in erster Instanz vor, dass der Kläger die Augenverletzung am linken Auge bereits ins Erwerbsleben eingebracht habe und dieses Leiden bei der rechtlichen Beurteilung des Klagebegehrens nicht berücksichtigt werden könne. Dementsprechend stellte das Erstgericht fest, dass die funktionelle Einäugigkeit vom Kläger in das Erwerbsleben eingebracht wurde und welche Tätigkeiten er aufgrund dieser Einschränkung nicht verrichten konnte. Ein Verstoß gegen das Neuerungsverbot liegt daher nicht vor.

[15] 4. Gegen die weitere Beurteilung des Berufungsgerichts, dass kein Fall des § 255 Abs 7 ASVG vorliege, der Kläger in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag unter Ausklammerung der Tätigkeit als Dachdecker nicht in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine qualifizierte Erwerbstätigkeit ausgeübt habe und er auf den allgemeinen Arbeitsmarkt iSd § 255 Abs 3 ASVG (konkret: Hilfsarbeitertätigkeiten) verweisbar sei, wendet sich die Revision nicht. Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision somit zurückzuweisen.

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