OGH 10ObS34/21d

OGH10ObS34/21d19.5.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Werner Krachler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch Mag. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Waisenpension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 13. Jänner 2021, GZ 12 Rs 91/20 v‑12, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 22. Oktober 2020, GZ 8 Cgs 156/20d‑8, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131901

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Erstgerichts wird wiederhergestellt.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 1.027,58 EUR (darin enthalten 171,26 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob die Kindeseigenschaft der Klägerin iSd § 252 Abs 2 Z 1 ASVG über das 18. Lebensjahr hinaus fortbesteht.

[2] Die am 7. 12. 1995 geborene Klägerin bezog ab 1. 12. 2013 eine Waisenpension von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt. Seit 1. 4. 2020 erzielt sie aus einem Dienstverhältnis zu einer GmbH mit einer wöchentlichen Normalarbeitszeit von 24 Stunden (verteilt auf drei Wochentage) ein monatliches Bruttoeinkommen von 1.703,22 EUR. Zusätzlich studiert sie an einer Fachhochschule (Masterstudiengang Information Engineering und ‑Management) sowie an der JKU (Masterstudium Recht und Wirtschaft für Technikerinnen). Insgesamt übertraf die für das Studium im Sommersemester 2020 aufgewendete Zeit das Ausmaß von 24 Wochenstunden bei weitem.

[3] Mit Bescheid vom 21. 4. 2020 entzog die Pensionsversicherungsanstalt die Waisenpension mit Ablauf des Monats April 2020, weil die Arbeitskraft der Klägerin durch das seit 1. 4. 2020 bestehende Dienstverhältnis nicht mehr überwiegend für die Schul‑ oder Berufsausbildung beansprucht werde.

[4] Die Klägerin begehrt in ihrer Klage die Weitergewährung der Waisenpension.

[5] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Arbeitskraft der Klägerin werde von ihren Studien überwiegend in Anspruch genommen. Das nicht aus der Ausbildung erzielte Erwerbseinkommen sei nicht zu berücksichtigen.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. In seiner rechtlichen Beurteilung legte es die im Schrifttum kritisierte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dar, die bei Beurteilung der Kindeseigenschaft danach differenziere, ob Einkünfte einer Waise, deren Arbeitskraft durch eine Schul- oder Berufsausbildung überwiegend beansprucht wird, aus der Ausbildung selbst herrühren oder nicht. Die Waisenpension bezwecke, den entfallenden Unterhalt zu ersetzen und solle im Ergebnis das Scheitern einer Berufsausbildung verhindern. Die Absicht des Gesetzgebers, diesen Zweck zu ändern, sei den Materialien zur 29. Novelle zum ASVG nicht zu entnehmen. Der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass bei Waisenpensionen überhaupt nur kleine Verdienste in Betracht kommen könnten. Auch neben der Ausbildung bezogene, die Selbsterhaltungsfähigkeit sichernde Entgelte müssten den Anspruch auf Waisenpension beseitigen. Die Revision sei zulässig, weil eine klärende Stellungnahme zur Frage der Relevanz von neben der Ausbildung bezogenen Einkommen durch den Obersten Gerichtshof geboten erscheine.

[7] Die – beantwortete – Revision der Klägerin ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[8] 1.1 Nach § 252 Abs 2 Z 1 ASVG besteht die Kindeseigenschaft auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und so lange sich das Kind in einer Schul‑ oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht, längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres.

[9] 1.2 In seiner Stammfassung (BGBl 1955/189) stellte das ASVG für die Frage, ob die Kindeseigenschaft durch eigenes Erwerbseinkommen verloren geht, nur darauf ab, ob Selbsterhaltungsfähigkeit vorlag oder nicht.

[10] 1.3 Mit der Neufassung des § 252 ASVG durch die 29. Novelle zum ASVG (BGBl 1973/31) wurde das Kriterium der Selbsterhaltungsfähigkeit aufgegeben. Die Bindung der Angehörigeneigenschaft an die Unterhaltsberechtigung nach bürgerlichem Recht wurde fallen gelassen und durch die leichter feststellbaren Merkmale der überwiegenden Inanspruchnahme der Arbeitskraft durch die Schul‑ oder Berufsausbildung ersetzt (10 ObS 67/18b SSV‑NF 32/53 mit Hinweis auf die ErläutRV 404 BlgNR 13. GP  88).

[11] 1.4 § 94 Abs 1 ASVG in der Stammfassung BGBl 1955/189 lautete: „Gebührt neben einem Rentenanspruch aus der Pensionsversicherung mit Ausnahme des Anspruches auf Waisenrente Entgelt aus einer gleichzeitig ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit, so ruht der Grundbetrag mit dem Betrag, um den das im Monat gebührende Entgelt 500 S übersteigt, höchstens jedoch mit dem Betrag, um den die Summe aus Rente und Entgelt im Monat den Betrag von 1300 S übersteigt.“ Die Gesetzesmaterialien erklären diese Ausnahme für Waisen damit, dass offenbar nur kleine Verdienste in Betracht kämen (ErläutRV 599 BlgNR 7. GP  43; 10 ObS 120/15t SSV‑NF 30/17).

[12] 1.5 Mit seinem Erkenntnis vom 15. 12. 1990, G 33/89 ua, VfSlg 12.592, sprach der Verfassungsgerichtshof aus, dass § 94 ASVG in den Fassungen von der 31. Novelle, BGBl 1974/775, bis zur 48. Novelle, BGBl 1989/642, verfassungswidrig waren, und hob § 94 ASVG idF der 49. Novelle, BGBl 1990/294, als verfassungswidrig auf.

[13] 2.1 Zu § 252 ASVG idF der 29. ASVG‑Novelle judiziert der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass neben der die Arbeitskraft überwiegend beanspruchenden Schul‑ oder Berufsausbildung erzielte Einkünfte dem Anspruch auf Waisenpension nicht schaden (RIS‑Justiz RS0089658; RS0085139; 10 ObS 27/19x SSV‑NF 33/24). Hintergrund ist die Wertung, dass ein Kind, das sich überwiegend einer Schul‑ oder Berufsausbildung widmet, in der Regel so beansprucht wird, dass ihm eine die Selbsterhaltungsfähigkeit garantierende Berufstätigkeit nicht zugemutet werden kann. Übt es eine solche dennoch aus, so vernichtet die Erwerbstätigkeit den Anspruch auf Waisenpension nicht (10 ObS 120/15t SSV‑NF 30/17; RS0085139). Das entspricht dem Zweck der Waisenpension, den Lebensunterhalt einer Waise nach dem Tod des bisher Unterhalt Leistenden zu sichern und eine entsprechende Schul‑ oder Berufsausbildung zu gewährleisten (10 ObS 120/15t). Wenn die Waise neben ihrer Schul‑ oder Berufsausbildung einer Erwerbstätigkeit nachgeht, ist – so wie vom Gesetz vorgegeben – das Verhältnis zwischen der Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Ausbildung und der Beanspruchung durch die Erwerbstätigkeit maßgebend. Überwiegt die Inanspruchnahme durch die Erwerbstätigkeit, so fehlt es an der vom Gesetz geforderten überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Ausbildung (10 ObS 120/15t mwN).

[14] 2.2 Ob die Arbeitskraft durch eine Schul‑ oder Berufsausbildung überwiegend beansprucht wird, ist durch den Vergleich der konkreten Auslastung der Arbeitskraft mit der von der geltenden Arbeitsordnung oder Sozialordnung, wie etwa im Arbeitszeitgesetz oder in den Kollektivverträgen für vertretbar gehaltenen Gesamtbelastung zu ermitteln (RS0085184; 10 ObS 33/18b SSV‑NF 32/33). Richtschnur ist dabei ein durchschnittliches wöchentliches Ausmaß von 20 Stunden. Liegt der zeitliche Aufwand für die Ausbildung darunter, liegt keine Kindeseigenschaft mehr vor (RS0085184 [T5]; 10 ObS 33/18b).

[15] 2.3 Im vorliegenden Fall ist unstrittig, dass der Zeitaufwand für ein Masterstudium und einen Masterstudienlehrgang jenen für die Teilzeitbeschäftigung im Ausmaß von 24 Wochenstunden bei weitem übersteigt und daher das Studium die Arbeitskraft der Klägerin überwiegend in Anspruch nimmt.

[16] 3.1 Einkommen, die aus der Ausbildungstätigkeit selbst stammen, lassen nach der Rechtsprechung die Kindeseigenschaft nur dann weiterbestehen, wenn im Rahmen der Ausbildung kein oder nur ein geringes, die Selbsterhaltungsfähigkeit nicht sicherndes Entgelt bezogen wird (RS0085125; 10 ObS 67/18b SSV‑NF 32/53; 10 ObS 27/19x SSV‑NF 33/24). Ein aus der Ausbildungstätigkeit erzieltes Erwerbseinkommen, das die Selbsterhaltungsfähigkeit ebenso sichert wie jedes andere Erwerbseinkommen aus einer Berufstätigkeit, die nicht als Ausbildungsverhältnis deklariert ist, beseitigt die Kindeseigenschaft (RS0085149).

[17] 3.2 So lassen eine Lehrlingsentschädigung (10 ObS 134/91 SSV‑NF 5/56), ein ausnahmsweises zuerkanntes Arbeitslosengeld während der Ausbildung in einer Fachschule (10 ObS 229/91 SSV‑NF 5/91), der Ausbildungsbeitrag für Rechtspraktikanten (10 ObS 38/13f SSV‑NF 27/22), ein Fachkräftestipendium des Arbeitsmarktservice (10 ObS 67/18b SSV‑NF 32/53) in einer zumindest den Ausgleichszulagenrichtsatz erreichenden Höhe (10 ObS 72/17m SSV‑NF 31/41 mwN) sowie ein aufgrund eines Praktikumsvertrags von der ausbildenden Stelle gewährtes Stipendium, das zuzüglich der Leistungen des AMS während der Ausbildung den Ausgleichszulagenrichtsatz übersteigt (10 ObS 27/19x SSV‑NF 33/24), die Kindeseigenschaft wegfallen.

[18] 4.1 Diese Differenzierung zwischen neben und aus (oder im Zusammenhang mit) der Ausbildungstätigkeit erzielten Einkünften kritisierten in der Lehre Standeker (Verlängerte Kindeseigenschaft und Waisenpension, ZAS 2001, 129 ff) und R. Müller (Richterliche Rechtsfortbildung im Leistungsrecht der Sozialversicherung DRdA 1995, 465 [473 f]) unter anderem als mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz nicht vereinbar. Nach Standeker sollte angesichts des Zwecks der Waisenpension als Unterhaltssurrogat ihre Gewährung in jenen Fällen nicht mehr angebracht sein, in denen die Waise – sei es durch größere Arbeitsanstrengung, bessere Berufskenntnisse oder andere günstige Gegebenheiten – ihren Lebensunterhalt aus einer neben der ihre Arbeitskraft überwiegend beanspruchenden Schul‑ oder Berufsausbildung ausgeübten Erwerbstätigkeit selbst decken kann. Standeker sah – sowie hier das Berufungsgericht – den Zweck der 29. ASVG‑Novelle nicht darin, den Einkommensverhältnissen der Waise überhaupt jegliche rechtliche Bedeutung zu nehmen. Sie stellte an den Gesetzgeber die Forderung, die funktionell untrennbare Verbindung des Zwecks der Waisenpension mit dem Kriterium der Unterhaltsbedürftigkeit in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eindeutig zum Ausdruck zu bringen. M. Harrer (DRdA 1998, 469 [474]) und Binder (ZAS 1979, 232 [233 f]) schlugen dagegen vor, bei Erzielung von Einkommen aus der Ausbildung ausschließlich zu prüfen, ob in zeitlicher Hinsicht die Ausbildung oder die Erwerbstätigkeit vorrangig war, und  – entgegen der Rechtsprechung – nicht auf die Selbsterhaltungsfähigkeit abzustellen.

[19] 4.2 Der Senat sieht sich durch diese– schon längere Zeit zurückliegende – Kritik im Schrifttum nicht dazu veranlasst, von seiner ständigen Rechtsprechung abzugehen. Die Waisenpension soll als Unterhaltssurrogat den Wegfall der Unterhaltsleistung ausgleichen und eine entsprechende Schul‑ oder Berufsausbildung gewährleisten (10 ObS 150/15d SSV‑NF 30/19; 10 ObS 27/19x SSV‑NF 33/24). Stellen die aus der Ausbildung selbst erzielten Einkünfte die Selbsterhaltungsfähigkeit sicher, führt der subsidiäre Charakter der Waisenpension zu ihrem Entfall. Die Ausbildung ist – ohne zusätzliche Erwerbstätigkeit – ebenso gesichert wie die Deckung des Lebensaufwandes. Neben einem Studium, das die Arbeitskraft wie im vorliegenden Fall überwiegend beansprucht, muss eine Waise nicht zusätzlich einer Beschäftigung nachgehen. Kann sie aber neben einer zeitintensiven Ausbildung – wie im vorliegenden Fall nach den Feststellungen des Erstgerichts anzunehmen ist – nur aufgrund besonderer Anstrengung und/oder besonderen Fähigkeiten aus einer Teilzeitbeschäftigung Einkünfte in oder über Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes erzielen, ist es nicht sachgerecht, diesen besonderen Einsatz mit dem Verlust der Waisenpension zu „sanktionieren“. Dann müsste die Waise ihr Studium nämlich erst recht – bis an die Grenzen ihrer Leistungskraft oder darüber hinausgehend – über eine daneben ausgeübte Erwerbstätigkeit finanzieren, wozu sie aber nicht verpflichtet ist. Dieses Ergebnis widerspricht den Wertungen des Gesetzgebers, der das Kriterium der Selbsterhaltungsfähigkeit mit der 29. ASVG‑Novelle aufgegeben hat. Ein extremer Ausnahmefall, wie das von R. Müller (DRdA 1995, 465 [474]) erwähnte Beispiel eines „Millionenerben“, der aufgrund seines Studiums iSd § 252 Abs 2 Z 1 ASVG Anspruch auf eine Waisenpension hätte, obwohl er seine Ausbildung (und anderes) ohne weiteres aus seinem Vermögen finanzieren könnte, liegt bei einer erwerbstätigen Studierenden nicht vor.

[20] 5. Ergebnis: Die Kindeseigenschaft nach § 252 Abs 1 Z 2 ASVG besteht auch dann fort, wenn die Waise aus einer Erwerbstätigkeit, die sie neben einer ihre Arbeitskraft überwiegend in Anspruch nehmenden Ausbildung ausübt, ein zur Selbsterhaltungsfähigkeit führendes Einkommen erzielt.

[21] 6. Aus diesen Erwägungen ist der Revision der Klägerin Folge zu geben. Ihr Klagebegehren auf Weitergewährung der Waisenpension ist berechtigt.

[22] 7. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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