European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00033.16Z.0510.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Den Gegenstand des Revisionsverfahrens bildet die Frage, ob der am ***** 2013 geborenen Klägerin Pflegegeld der Stufe 6 zusteht. Im Vordergrund steht ein Zustand nach peripartaler Asphyxie mit spastisch-dystoner Bewegungsstörung, BNS-Epilepsie und Dystrophie. Die Klägerin verfügt über keine statischen Funktionen (kein freier Sitz, kein freier Stand). Bedingt durch eine spastische Bewegungsstörung und die fehlende Kopfkontrolle ist die tägliche Körperpflege hochgradig erschwert. Die Nächte verlaufen sehr unruhig. Die Klägerin wacht immer wieder auf, schreit und muss beruhigt werden. Es ist jederzeit mit einem Anfall zu rechnen, was ein sofortiges Einschreiten notwendig macht. Bei einem gleichaltrigen gesunden Kind ist dies nicht der Fall.
Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Pensionsversicherungsanstalt zur Gewährung von Pflegegeld der Stufe 6 ab 1. Jänner 2015: Da die Klägerin jederzeit einen Anfall erleiden könne und ein sofortiges Einschreiten erforderlich sei, liege die Voraussetzung zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen vor, die regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen seien (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 1 BPGG).
Infolge Berufung der beklagten Partei änderte das Berufungsgericht das Ersturteil dahin ab, dass es der Klägerin ab 1. Jänner 2015 Pflegegeld der Stufe 5 zusprach. Zwar könne die Pflege der Klägerin nicht in koordinierten Einheiten durchgeführt werden, doch seien nicht ‑ wie von § 4 Abs 2 Stufe 6 Z 1 BPGG gefordert ‑ regelmäßig während des Tages und der Nacht Betreuungsmaßnahmen zu erbringen. Beim Halten und Tragen zur Beruhigung eines weinenden oder schreienden Kindes handle es sich um eine psychosoziale Betreuungsmaßnahme und nicht um eine Betreuungsmaßnahme im Sinne des BPGG. Das Erfordernis der dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson wegen der Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 2 BPGG) sei bei Kleinkindern bis zum Schuleintritt immer gegeben, sodass insgesamt kein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 6 gegeben sei.
In ihrer außerordentlichen Revision führt die Klägerin im Wesentlichen aus, dass es an gesicherter höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage fehle, ob bei einem Kleinkind, bei dem jederzeit die Gefahr eines Anfalls bestehe, die Voraussetzung zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen, die regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen seien, vorliege. Würde § 4 Abs 2 Stufe 6 Z 1 (gemeint) BPGG so ausgelegt, dass bei einem Kleinkind immer zeitlich unkoordinerbare Betreuungsmaßnahmen (regelmäßig während des Tages und der Nacht) erforderlich seien, käme es de facto zu einem Ausschluss der Pflegegeldstufe 6 für Kleinkinder, was verfassungsrechtlich bedenklich wäre. Im Übrigen sei es unvertretbar, die Voraussetzungen der Pflegegeldstufe 6 zu verneinen, wenn bei einem Kind jederzeit ein Anfall auftreten könne. Bei der Klägerin seien Mehraufwendungen über 24 Stunden erforderlich, welche bei einem gleichaltrigen Kind nicht anfallen würden.
Rechtliche Beurteilung
Damit wird keine erhebliche Rechtsfrage aufgezeigt.
1. Bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr ist gemäß § 4 Abs 3 BPGG nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht. Nur der „behinderungsbedingte Pflegemehrbedarf“ kann im Zuge der Einstufung berücksichtigt werden, während der altersbedingte Mehraufwand eines Kindes oder eines Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr auszuscheiden ist (RIS‑Justiz RS0106555); dies gilt sowohl für Betreuungsleistungen als auch für Hilfeverrichtungen (RIS-Justiz RS0120279). Die Regelung des § 4 Abs 3 BPGG bezieht sich nicht nur auf die Beurteilung des zeitabhängigen Pflegebedarfs der Stufen 1 bis 4, sondern auch auf den besonders qualifizierten Pflegebedarf im Sinne der Stufen 5 bis 7 (10 ObS 102/01z).
Hintergrund ist, dass der alters- bzw entwicklungsbedingte Pflegeaufwand eines Kindes bzw Jugendlichen (beurteilt im Vergleich zu einem Erwachsenen) familienrechtlich von den jeweils obsorgeberechtigten Personen allein zu tragen ist (§ 158 iVm § 160 ABGB; Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 3 [2013] Rz 691).
Der Umstand, dass dadurch die Zugänglichkeit höherer Pflegegeldstufen für Kinder und Jugendliche erschwert ist, ist eine sachlich begründete Konsequenz, die keinen Bedenken unter verfassungsrechtlichen Aspekten (Art 7 B‑VG) begegnet.
2. Soweit es um den Anspruch auf Pflegegeld nach § 4 Abs 2 Stufe 6 Z 1 BPGG geht, ist nicht ein behinderungsbedingter Mehraufwand zu beurteilen, sondern die Frage zu beantworten, ob die Voraussetzungen für diesen Fall überhaupt gegeben sind.
2.1. Anspruch auf Pflegegeld besteht in Höhe der Stufe 6 „für Personen, deren Pflegebedarf nach Abs. 1 durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn
1. zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaß-nahmen erforderlich sind und diese regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind oder
2. die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich ist, weil die Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist; ...“.
2.2. Die Klägerin bezieht sich in ihrer Revision auf die zeitliche Unkoordinierbarkeit der regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringenden Betreuungsmaßnahmen nach § 4 Abs 2 Stufe 6 Z 1 BPGG. Auch die nach der BPGG-Novelle 1998, BGBl I 1998/111, ergangene Rechtsprechung fordert, dass die Hilfestellung regelmäßig, insbesondere während der Nachtstunden, das heißt nahezu jede Nacht erbracht werden muss (RIS‑Justiz RS0107442 [T16]). Die bloße Möglichkeit, dass unkoordinierbare Pflege benötigt wird, schließt in der Regel aus, dass eine solche Betreuungsleistung tatsächlich erbracht werden muss; in diesem Fall ist keine regelmäßige unkoordinierbare Pflege erforderlich (vgl RIS-Justiz RS0107442 [T14]). Daher wird die erforderliche Häufigkeit selbst bei einem unmittelbar notwendigen Tätigwerden in bestimmten Einzelsituationen, zum Beispiel bei lebensbedrohlichen Krampfanfällen, die alle zwei oder drei Tage auftreten, nicht erreicht (RIS‑Justiz RS0122863). Nach den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen in seinem Gutachten vom 27. April 2015 haben sich bei der Klägerin seit Juli 2014 keine weiteren Anfälle ereignet.
3. Auf die ‑ vom Berufungsgericht im Sinne der höchstgerichtlichen Rechtsprechung als nicht gegeben erachteten ‑ Voraussetzungen nach § 4 Abs 2 Stufe 6 Z 2 BPGG kommt die Klägerin in ihrer Revision nicht zurück.
4. Da die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts in Einklang mit der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu § 4 Abs 2 Stufe 6 BPGG steht, ist die außerordentliche Revision der Klägerin zurückzuweisen.
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