OGH 10ObS2466/96m

OGH10ObS2466/96m11.2.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Erwin Blazek und MR Dr.Walter Kraft (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Erich W*****, Pensionist, ***** vertreten durch die Sachwalterin Ingeborg W*****-S*****, Pensionistin, ***** vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1053 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, vertreten durch Dr.Paul Bachmann ua Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. September 1996, GZ 8 Rs 209/96f-22, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 2. April 1996, GZ 2 Cgs 201/95b-16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid der beklagten Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft vom 6.9.1995 wurde der Antrag des Klägers vom 30.5.1995 auf Erhöhung des gemäß § 4 BPGG zuerkannten Pflegegeldes der Stufe 5 abgelehnt. Das ärztliche Feststellungsverfahren habe ergeben, daß der Pflegebedarf seit der letzten Begutachtung nicht in einem solchen Ausmaß gestiegen sei, welches die Einreihung in eine höhere Pflegegeldstufe rechtfertigen würde.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren statt und erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger ab 1.7.1995 das Pflegegeld in Höhe der Stufe 7 zu gewähren. Dabei ging es vom folgenden Sachverhalt aus:

Der am 11.5.1914 geborene Kläger befindet sich in einem Seniorenwohnheim; er hat einen rechtsseitigen Schlaganfall erlitten und liegt gelähmt im Bett. Sein linker Arm ist seit dem Krieg amputiert. Unbestritten ist, daß sein Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt. Der Kläger ist als praktisch bewegungsunfähig anzusehen; er kann sich nicht einmal im Bett bewegen, sondern muß umgedreht werden. Aufgrund einer gegenseitigen Leidensbeeinflussung ist ihm keine einzige gerichtete Bewegung möglich. Es gelingt ihm auch nicht, sich zur Seite zu drehen. Wenn er sich zur Seite dreht, dann ist das ein "zufälliges Rollen", aber kein gerichtetes Drehen. Das heißt, daß der Kläger selbst im Bett keinen selbständigen Lagewechsel vornehmen kann.

Aus diesem Sachverhalt folgerte das Erstgericht rechtlich, daß der monatliche Pflegebedarf des Klägers 180 Stunden überschreite und mit praktischer Bewegungsunfähigkeit verbunden sei, sodaß Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 7 bestehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens und einer untadeligen Beweiswürdigung, insbesondere die Feststellung, daß dem Kläger keine einzige gerichtete Bewegung möglich sei. Die Erwägungen der Beklagten, daß zwischen den Stufen 5, 6 und 7 des Pflegegeldes ein meßbarer zeitlicher Unterschied liegen müsse, würden im Gesetz keine Deckung finden. Da bereits die Stufe 6 eine dauernde Beaufsichtigung erfordere, könne sich die Stufe 7 von dieser nicht mehr durch ein Mehr an Beaufsichtigung unterscheiden, sondern nur durch einen anderen Leidenszustand des Pflegebedürftigen. Dieser Leidenszustand, der der Stufe 7 entspreche, sei aber beim Kläger gegeben.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache. Sie beantragte die Abänderung dahin, daß die Beklagte lediglich zur Zahlung eines Pflegegeldes der Stufe 5 verurteilt, das darüber hinausgehende Mehrbegehren aber abgewiesen werde.

Der Kläger beteiligte sich am Revisionsverfahren nicht.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die Beklagte steht auf dem Standpunkt, daß der Kläger nicht praktisch bewegungsunfähig sei: Wenngleich ihm kein gerichtetes Drehen bzw keine gerichtete Bewegung mehr möglich sei, sei doch ein Drehen zur Seite "an sich" möglich. Jedenfalls sei die Muskelkraft des Klägers ausreichend, um Schmerzreizen auszuweichen. Dem inneren Aufbau des Bundespflegegeldgesetzes folgend, müsse bei der Stufe 7 ein höherer Aufwand als bei den Stufen 5 oder 6, also mehr als die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson notwendig sein. Sobald ein schädlicher Reiz vom Körper mit einer funktionellen Bewegung beantwortet werden könne, sei Bewegungsfähigkeit vorhanden. Aber auch die Voraussetzungen für die Stufe 6 sei nicht gegeben, weil eine dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand nicht erforderlich sei.

Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 besteht für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt. Für das Ausmaß des Pflegegeldes ab Stufe 5 sind nach § 4 Abs 2 BPGG zusätzlich zu einem zeitlichen Mindestaufwand von 180 Stunden auch andere Kriterien maßgebend. Diese sollen offenbar das Erfordernis besonders qualifizierter Pflege indizieren, sind aber zum Teil nur recht vage umschrieben. So wird für die Stufe 5 ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand verlangt. Dieser liegt nach § 6 der Einstufungsverordnung zum BPGG (EinstV) vor, wenn die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson, nicht jedoch deren dauernde Anwesenheit erforderlich ist. Die Einordnung in Stufe 6 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG (776 BlgNR 18. GP) nur bei Vorliegen des Erfordernisses der dauernden Beaufsichtigung zulässig sein. Durch die im Ausschuß für Arbeit und Soziales vorgenommene Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen für die Stufe 6 durch die Wortfolge "oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand" soll auch körperlich behinderten Menschen der Zugang zu dieser Stufe ermöglicht werden (908 BlgNR 18. GP, 4). Unter dauernder Beaufsichtigung wird die Notwendigkeit einer weitgehenden Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich verstanden werden können. Ebenfalls im Ausschuß wurde die Anspruchsvoraussetzung "vollständige Bewegungsunfähigkeit" für die Stufe 7 durch den weiteren Begriff der "praktischen Bewegungsunfähigkeit" ersetzt. Dies setzt einen Zustand voraus, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommt. Praktische Bewegungsunfähigkeit ist dann anzunehmen, wenn dem Pflegebedürftigen zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung nicht mehr möglich sind. Pflegegeld der Stufe 7 kommt schließlich auch bei einem der praktischen Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtenden Zustand in Betracht. Davon wird man sprechen können, wenn der Pflegebedürftige an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber insbesondere aufgrund des Angewiesenseins auf bestimmte lebensnotwendige Hilfsmittel nicht nützen kann (vgl dazu Gruber/Pallinger, BPGG Rz 55-58 zu § 4; Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 198 f; derselbe, Bundespflegegeldgesetz, 97 ff jeweils mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien; 10 ObS 2324/96d, 10 ObS 2337/96s, 10 ObS 2434/96f). Nach § 17 Abs 2 Z 4 der Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des Bundespflegegeldgesetzes nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, SozSi 1994, 686 ff - Amtliche Verlautbarung Nr 120/1994, gebührt ein Pflegegeld in der Höhe der Stufe 7 Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn a) praktische Bewegungsunfähigkeit (zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung sind nicht mehr möglich) oder b) ein gleichzuachtender Zustand (dauernder Einsatz technischer Hilfmittel zur Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Funktionen ist erforderlich) vorliegt. Da sich die Umschreibung der Erfordernisse für ein Pflegegeld der Stufe 7 in dieser Richtlinienbestimmung im wesentlichen mit der oben wiedergegebenen Auslegung deckt, muß hier nicht dazu Stellung genommen werden, ob diese Richtlinien für die Gerichte bindend sind oder nicht. Es sei jedoch erwähnt, daß der Senat in mehreren Entscheidungen (10 ObS 2349/96f, 10 ObS 2396/96t ua) ausführlich begründet hat, daß diese Richtlinien zwar im Hinblick auf den einheitlichen Vollzug des BPGG durch die davon erfaßten Entscheidungsträger anzuwenden sind, jedoch keine verbindliche Kraft für die zur Entscheidung in Sozialrechtssachen berufenen Gerichte beanspruchen können.

Aus der dargestellten Rechtslage ergibt sich, daß die Auffassung der Beklagten, ein Pflegegeld der Stufe 7 erfordere außer der praktischen Bewegungsunfähigkeit oder eines gleichzuachtenden Zustandes daneben auch noch eine dauernde Beaufsichtigung oder einen gleichzuachtenden Pflegeaufwand, weder aus dem Gesetz noch aus der Einstufungsverordnung abzuleiten ist. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers setzt zwar eine höhere Pflegegeldstufe auch einen höheren Grad der Pflegebedürftigkeit voraus, doch hat der Gesetzgeber durch die Formulierung der Erfordernisse im § 4 Abs 2 BPGG zu erkennen gegeben, daß er die völlige oder praktische Bewegungsunfähigkeit (bzw einen gleichzuachtenden Zustand) als höchsten Grad der Pflegebedürftigkeit einstuft, also hier nicht auf das Element der dauernden Beaufsichtigung abstellt, sondern die umfassende Einschränkung der Beweglichkeit als Maßstab für den zu erwartenden Pflegeaufwand heranzieht (so 10 ObS 2324/96d).

Im vorliegenden Fall ist der Kläger praktisch bewegungsunfähig, weil ihm zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung in keiner Weise mehr möglich sind. Die dies in Frage stellenden Revisionsausführungen gehen nicht von den Feststellungen der Tatsacheninstanzen aus, wonach insbesondere der Kläger im Bett keinen selbständigen Lagewechsel vornehmen kann und ihm keine einzige gerichtete Bewegung mehr möglich ist. Da der Kläger nach den Feststellungen auch im Bett umgedreht werden muß, können aus dem Fehlen von Dekubitus-Anzeichen entgegen der Ansicht der Beklagten keine gegenteilige Schlüsse gezogen werden. Die Auffassung der Beklagten, Bewegungsfähigkeit sei bereits vorhanden, sobald ein schädlicher Reiz vom Körper mit einer funktionellen Bewegung beantwortet werden könne, läßt außer Acht, daß es nach dem Wortlaut des Gesetzes auf die praktische Bewegungsunfähigkeit und nicht auf die vollständige Bewegungsunfähigkeit ankommt.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

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