Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.
Text
Begründung
Mit Bescheid der Beklagten vom 14.9.1992 wurde der Antrag der Klägerin vom 9.3.1992 auf Gewährung des Hilflosenzuschusses abgelehnt, weil kein ständiger Wartungs- und Hilfebedarf bestehe (§ 105 a ASVG). Das Erstgericht wies mit Urteil vom 30.6.1993 das auf Gewährung des Hilflosenzuschusses gerichtete Klagebegehren ab. Es stellte fest, daß die am 5.6.1953 geborene Klägerin in der Lage sei, sich alleine an- und auszuziehen, sich zu waschen, die Nahrung zu sich zu nehmen, die Notdurft zu verrichten, die kleine Leibwäsche zu waschen, den Wohnraum oberflächlich instand zu halten und einfache Speisen zuzubereiten. Das Einholen von Nahrungsmitteln sei bis zu einem Gewicht von 5 kg ohne fremde Hilfe möglich. Die Klägerin benötige aber fremde Hilfe für sämtliche gröberen Verrichtungen, wie Großreinemachen und Fensterputzen oder für die Beschaffung von Brennmaterial. Bei der Klägerin bestehe seit Geburt eine höher gradige Debilität. Insoferne benötige sie eine "gewisse gelegentliche" Anleitung.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, die Klägerin sei nicht hilflos im Sinne des § 105 a ASVG, weil der für die notwendigen fremden Hilfsleistungen anzusetzende Kostenaufwand den begehrten Hilflosenzuschuß, der für das Jahr 1992 monatlich S 2.887,- betrage, nicht erreiche.
Das Berufungsgericht gab nach Verwerfung der Nichtigkeitsberufung der Klägerin ihrem Rechtsmittel im übrigen nicht Folge. Es verneinte die gerügte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz und übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis einer unbedenklichen Beweiswürdigung. In Erledigung der Rechtsrüge führte es aus, daß es ohne Bedeutung sei, ob die Klägerin kochen gelernt habe, weil auch Tiefkühlkost verwendet werden könne. Selbst die Berücksichtigung fremder Hilfe für die Zubereitung von Speisen, ergebe höchstens einen Mehraufwand von acht Stunden, der zusammen mit dem für Großreinemachen, Fensterputzen und Großwäsche anzusetzenden Aufwand von zwölf Stunden und der Zubilligung von zwei Stunden für die angebliche Unfähigkeit der Klägerin Geld zu erkennen, das Ausmaß des begehrten Hilflosenzuschusses nicht übersteige. Auch nach dem Bundespflegegeldgesetz würde der zeitliche Betreuungsaufwand von 50 Stunden im Monat, der für die Stufe 1 erforderlich sei, nicht erreicht, selbst wenn man für die Zubereitung von Mahlzeiten eine Stunde täglich ansetzte.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen das Urteil des Gerichtes zweiter Instanz erhobene Revision der Klägerin ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.
Der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt allerdings nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Weder die vom Gericht der zweiten Instanz verworfenen auf die angebliche Prozeßunfähigkeit der Klägerin im Verfahren erster Instanz gestützten Nichtigkeitsgründe in der Berufung (SSV-NF 1/36; 10 ObS 239/93, 10 ObS 254/93), noch die von ihm verneinten, in der Berufung geltend gemachten Mängel des Verfahrens erster Instanz durch unterlassene Anleitung der Klägerin, zum Betreuungsaufwand Beweise anzubieten (SSV-NF 7/74) oder die in der Berufung nicht gerügte nunmehr in der Revision aufgezeigte Unterlassung eines zusammenfassenden Gutachtens (SSV-NF 1/68) können im Sozialrechtsverfahren in der Revision geltend gemacht werden.
Der Revisionswerber behauptet aber auch, daß den Sachverständigen in ihren Gutachten Verstöße gegen die Denkgesetzes unterlaufen seien. Unter diesen Voraussetzungen können die Ergebnisse von Sachverständigengutachten im Revisionsverfahren wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung bekämpft werden (SSV-NF 2/74, 3/14, 5/6, 7/12). Damit ist die Rechtsrüge in diesem Punkte ordnungsgemäß ausgeführt. Der Sachverhalt ist dementsprechend rechtlich in jeder Richtung ohne Beschränkung auf die vom Revisionswerber geltend gemachten Gründe zu überprüfen (Fasching KommZPO IV 322, SZ 53/75, 54/88, 56/107, SSV-NF 1/24,ÖBl 1992, 21,1 Ob 37/93). Unter diesem Gesichtspunkt ist folgendes zu erwägen:
Das BPGG trat mit 1.7.1993 in Kraft. Dieser Zeitpunkt lag sohin nach Schluß der Verhandlung und Fällung des Urteiles erster Instanz. Es ist daher zu prüfen, ob die Bestimmungen des BPGG auf den vorliegenden Fall anzuwenden sind.
Wie der Oberste Gerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, ist auf eine Änderung von Gesetzesbestimmungen in jeder Lage des Rechtsstreites Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen ihrem Inhalt nach auf das streitgegenständliche Rechtsverhältnis anzuwenden sind (JBl 1947, 516; EFSlg 27.805, 27.869 ua).
Dabei ist in erster Linie bei Rechtsänderungen, die nach Fällung des Urteiles erster Instanz erfolgen, von den Übergangsvorschriften auszugehen, die in der neuen Rechtsquelle enthalten sind (Fasching ZPR2 Rz 1927). Gemäß § 43 Abs 2 BPGG sind allen am 1.7.1993 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren für die Zeit bis zum 30.6.1993 die bis zu diesem Zeitpunkt jeweils für die Beurteilung des Anspruches geltenden Bestimmungen der in § 3 BPGG genannten Normen (hier also § 105 a ASVG) zugrunde zu legen. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, daß der Gesetzgeber grundsätzlich davon ausgeht, daß das Inkrafttreten des BPGG in allen anhängigen Verfahren bis zur Rechtskraft der Entscheidung zu beachten ist. Es wären daher von Amts wegen die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld ab 1.7.1993 zu prüfen, wenn der Anspruchswerber sein Begehren nicht in diesem Sinne modifiziert hat. Sind die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilflosenzuschusses zum 30.6.1993 gegeben, so ist nach § 38 Abs 1 BPGG von Amts wegen mit Wirkung vom 1.7.1993 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 zu gewähren.
Es liegt eine ex lege angeordnete Ausnahme von § 405 ZPO vor, die den Grundsatz des sukzessiven Kompetenz durchbricht, weil der Anspruch auf Pflegegeld iS des BPGG nicht Gegenstand des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens gewesen ist (Fink, Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Bundespflegegeldgesetzes SoSi 1993, 352 [371 und FN193]). Soweit die Sonderbestimmungen des § 43 Abs 2 BPGG anzuwenden sind, sind auch noch im Rechtsmittelverfahren die Bestimmungen des BPGG heranzuziehen. Der Anspruch der Klägerin ist daher bis zum 30.6.1993 nach § 105 a ASVG und ab dem 1.7.1993 nach dem BPGG zu beurteilen (10 ObS 139/94, 10 ObS 201/94).
Die vom Erstgericht getroffenen und vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen reichen jedoch zu einer abschließenden rechtlichen Beurteilung nicht aus.
Nach § 105 a ASVG gebührte Beziehern einer Pension, die derart hilflos sind, daß sie ständig der Wartung und Hilfe bedürfen, ein Hilflosenzuschuß. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes war auch ein Versicherter, der körperlich in der Lage ist, die dauernd wiederkehrenden lebensnotwendigen Verrichtungen selbst auszuführen, wegen seiner Kritik- und Antriebslosigkeit aber dazu angehalten werden muß, hilflos im Sinne des Gesetzes (SZ 61/72 = SSV-NF 2/32). Daran schließt die Bestimmung des § 4 EinstV an. Danach sind die Anleitung sowie die Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen. Auch Anleitung und Beaufsichtigung zählen daher zum Pflegebedarf im Sinne des § 4 Abs 1 BPGG und sind gegebenenfalls unter Berücksichtigung der in den §§ 1 und 2 EinstV normierten zeitlichen Vorgaben - der zeitliche Aufwand ist hier insofern der gleiche - bei der Ermittlung des Bedarfsausmaßes in Rechnung zu stellen.
Nach den Feststellungen bedarf die Klägerin der "gelegentlichen" Anleitung. Ein nur selten auftretendes Anleitungserfordernis ist zwar grundsätzlich nicht geeignet, das Erfordernis des ständigen Bedarfes an Betreuung und Hilfe zu erfüllen (Pfeil, Pflegebedürftigkeit als Rechtsproblem dritter Teil Abschnitt 2 III.5.5). Das Wort "gelegentlich" ist aber inhaltsleer und läßt keine Relation zur Häufigkeit, Intensität und Dauer noch worauf die Anleitung sich konkret beziehen muß, erkennen. Es kann daher nicht beurteilt werden, ob durch dieses gelegentliche, der Betreuung und Hilfe gleichzusetzende Anleitungserfordernis (§ 4 EinstV) der aufgrund der Feststellungen insgesamt bestehende Betreuungsaufwand beeinflußt wird.
Selbst wenn das Berufungsgericht für die Zubereitung anderer Speisen als Tiefkühlkost und einfacher Speisen acht Stunden veranschlagt hat, so hat es im Gegensatz zum Erstgericht bei seiner Gesamtbeurteilung die Frage unbeachtet gelassen, ob die Klägerin beim Einkaufen infolge des dem Sachverständigen für Innere Medizin gegenüber behaupteten aber nicht weiter geprüften Umstandes (AS 9, 25), Geld nicht erkennen zu können, fremder Hilfe bedarf.
Weiters läßt die Feststellung, die Klägerin könne einfache Speisen zubereiten, nicht erkennen, ob sie sich damit auf eine dem allgemeinen Standard angemessene Weise ernähren kann. Dies bedarf näherer Aufklärung. Die zum Hilflosenzuschuß entwickelte Judikatur ging davon aus, daß für eine dem allgemeinen Standard angemessene menschengerechte Lebensführung mindestens einmal täglich die Einnahme einer ordentlichen warmen Mahlzeit erforderlich sei, deren Zubereitung nicht nur eine ganz kurze Zeitspanne in Anspruch nimmt; es sei einem Pensionisten auch nicht zumutbar, sich ausschließlich von aufgewärmten Speisen zu ernähren, bei Prüfung des für die Speisenzubereitung notwendigen Aufwandes sei aber das handelsübliche Angebot an Tiefkühlkost und Fertiggerichten zu berücksichtigen. Es sei immer auf den Einzelfall abzustellen und zu beurteilen, ob die Speisen, die ein Pensionist selbst zubereiten kann, für seine Versorgung als ausreichend angesehen werden können, oder ausgehend von den dargestellten Grundsätzen eine entsprechende Versorgung mit Nahrunghilfe von dritter Seite erforderlich ist (SSV-NF 5/46, 10 Ob S 170/94).
Im wesentlichen haben diese Erwägungen auch bei Beurteilung des Pflegeaufwandes nach dem BPGG zu gelten. Mit der Feststellung, daß die Klägerin "einfache Speisen" zubereiten könne, ist keine ausreichende Aussage getroffen. Es wird vielmehr zu erheben sein, welche Art von Speisen die Klägerin selbst bereiten kann bzw für welche Speisezubereitung sie fremder Hilfe bedarf. Sollte sich etwa ergeben, daß sie aufgrund ihrer Behinderung zur Zubereitung einer ordentlich gekochten warmen Mittagsmahlzeit unfähig ist, dann wäre hiefür der zeitliche Mindestwert von täglich einer Stunde für den Anspruch auf Pflegegeld anzusetzen (10 Ob S 170/94). Beim Hilflosenzuschuß wäre dagegen bis 30.6.1993 mangels Vorgabe von Mindestwerten der tatsächliche Aufwand entsprechend zu berücksichtigen. Da die noch ungeklärten Umstände den Betreuungsbedarf durchaus beeinflussen können und unter Umständen den Anspruch auf Hilflosenzuschuß bzw Pflegegeld begründen können, waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sache insoweit an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.
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