European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00100.24I.0910.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die Klägerin ist italienische Staatsbürgerin und bezieht seit dem Jahr 1992 eine italienische Pension vom italienischen Träger Nationalinstitut für Soziale Fürsorge. Sie ist mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet, der selbst Pensionist ist und unter anderem eine ASVG‑Pension bezieht, und hält sich seit spätestens 2007 in Wien auf, wo sich ihr Hauptwohnsitz befindet.
[2] Mit Bescheid vom 4. August 2023 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 28. Juli 2023 auf Zuerkennung eines Pflegegeldes ab.
[3] Die Vorinstanzen wiesen das auf Zuerkennung eines Pflegegeldes ab 1. August 2023 im gesetzlichen Ausmaß gerichtete Klagebegehren ab. Mangels einer Grundleistung im Sinn des § 3 BPGG sei die Anspruchsberechtigung nach § 3a BPGG zu prüfen. Für die Gewährung von Pflegegeld an Pensionisten mit einer Pension aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union sei der pensionsauszahlende Staat und nicht der Wohnmitgliedstaat zuständig.
Rechtliche Beurteilung
[4] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Klägerin ist mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[5] 1. Nach § 3 Abs 1 BPGG haben bestimmte, taxativ aufgezählte Personengruppen Anspruch auf Pflegegeld. Darunter fallen neben Beziehern einer Pension bzw einer Vollrente nach den dort genannten (österreichischen) Sozialversicherungsgesetzen (§ 3 Abs 1 Z 1 BPGG) unter anderem auch Bezieher eines Unterhaltsbeitrags nach den in § 3 Abs 1 Z 4 BPGG genannten Bundesgesetzen oder eines Unterhaltsbeitrags (auf Pensionsleistungen) nach landesgesetzlichen Bestimmungen (§ 3 Abs 1 Z 9 BPGG).
[6] 1.1. Unterhaltsansprüche gegenüber Ehegatten gründen sich nicht auf die in § 3 Abs 1 BPGG genannten Bundes- oder Landesgesetze, sodass auf dieser Grundlage geschuldete oder tatsächlich geleistete Unterhaltsbeiträge keine Grundleistung im Sinn des § 3 Abs 1 BPGG darstellen, die einen Anspruch auf Pflegegeld vermitteln könnte. Auch die Argumentation der Klägerin, die von ihrem Ehegatten geleisteten Unterhaltsbeiträge würden von dessen Pension finanziert oder sie habe eine Anwartschaft auf eine Witwenpension, ändert nichts daran, dass Unterhaltsansprüche gegenüber Ehegatten oder bloße Anwartschaften auf Grundleistungen in § 3 Abs 1 BPGG nicht genannt sind.
[7] 1.2. Der Behauptung der Klägerin, dass Lücken nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes auszufüllen seien, ist entgegen zu halten, dass eine durch Analogie zu schließende Gesetzeslücke nur vorliegt, wenn die aus der konkreten gesetzlichen Regelung hervorleuchtenden Zwecke und Werte die Annahme nahelegen, der Gesetzgeber habe einen nach denselben Maßstäben regelungsbedürftigen Sachverhalt übersehen (RS0008866 [T13]). Dafür, dass der Gesetzgeber Unterhaltsansprüche gegenüber Ehegatten bei der Regelung des § 3 Abs 1 BPGG übersehen hätte, gib es allerdings keine Anhaltspunkte.
[8] 1.3. Angesichts der insofern eindeutigen Rechtslage begründet das in der Revision betonte Fehlen ausdrücklicher höchstgerichtlicher Rechtsprechung keine Rechtsfrage von im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO erheblicher Bedeutung (RS0042656).
[9] 2. Gemäß § 3a Abs 1 BPGG besteht Anspruch auf Pflegegeld auch ohne Grundleistung gemäß § 3 Abs 1 und 2 BPGG für österreichische und diesen nach § 3a Abs 2 BPGG gleichgestellte Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, sofern nach der VO 883/2004 nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist.
[10] 2.1. Das Pflegegeld nach dem BPGG ist nach der Rechtsprechung als Geldleistung im Sinn der Art 21 ff, konkret des Art 29 VO 883/2004 anzusehen (10 ObS 38/23w Rz 11). Soweit die Klägerin diese Einstufung als unionsrechtlich unrichtig bezeichnet, ist sie auf die diesbezügliche Rechtsprechung des EuGH zu verweisen (EuGH C‑215/99 , Jauch, Rn 28 ua).
[11] 2.2. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist für die Gewährung von Pflegegeld an Pensionisten (Rentner) mit einer Pension (Rente) eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union nach Art 29 Abs 1 iVm Art 21 VO 883/2004 in der Regel der pensionsauszahlende Staat und nicht der Wohnsitzstaat zuständig (10 ObS 38/23w Rz 13; 10 ObS 34/20b ErwGr 1.3; 10 ObS 123/16k ErwGr 2.8). Die Zuständigkeit des rentenzahlenden Mitgliedstaats ergibt sich immer dann, wenn aufgrund des Rentenanspruchs eine Einbeziehung in die Krankenversicherung des rentenzahlenden Mitgliedstaats besteht (10 ObS 38/23w Rz 14) oder eine solche Einbeziehung unter Zugrundelegung einer Wohnsitzfiktion in diesem Mitgliedstaat (Art 24 Abs 1 Satz 1 VO 883/2004 ) bestünde (10 ObS 38/23w Rz 20 und 31).
[12] 2.2.1. Der Beurteilung des Berufungsgerichts, der rentenzahlende Mitgliedstaat Italien wäre bei einem Wohnsitz der Klägerin in Italien sachleistungsverpflichtet, tritt die Klägerin in der Revision nicht entgegen. Nach der dargelegten Rechtsprechung ist daher – wie in dem der Entscheidung 10 ObS 34/20b zugrunde liegenden Fall – Italien für Geldleistungen bei Krankheit (worunter das österreichische Pflegegeld fällt) leistungszuständig.
[13] 2.2.2. Ob in Italien tatsächlich Pflege-(geld‑)leistungen erbracht werden oder nicht oder dieser Mitgliedstaat nur bestimmte beitragsunabhängige Sonderleistungen erbringt, die nicht exportiert werden müssten, spielt für die Bestimmung der Leistungszuständigkeit nach den Kollisionsregeln der VO 883/2004 keine Rolle (10 ObS 34/20b ErwGr 1.5 und 2.3; 10 ObS 83/16b [vom 20. 12. 2016] ErwGr 4.5).
[14] 2.3. Aus der Mitversicherung in der (österreichischen) Krankenversicherung des Ehegatten kann die Klägerin kein für sich günstigeres Ergebnis ableiten.
[15] 2.3.1. Die Zuständigkeit des rentenzahlenden Mitgliedstaats zur Erbringung von Geldleistungen besteht auch dann, wenn sich neben einem eigenständigen Sachleistungsanspruch aus der mit dem Rentenanspruch einhergehenden (bzw unter Zugrundelegung der Wohnsitzfiktion anzunehmenden) Einbeziehung in die Krankenversicherung des rentenzahlenden Mitgliedstaats ein abgeleiteter Anspruch auf Leistungen für Familienangehörige aus der Krankenversicherung eines anderen Mitgliedstaats ergibt, weil ein aufgrund des Rentenbezugs (bzw einer darauf basierenden Versicherung) bestehender Sachleistungsanspruch nach der Rangfolge des Art 32 Abs 1 VO 883/2004 gegenüber dem abgeleiteten Anspruch als Familienangehöriger vorrangig ist (10 ObS 38/23w Rz 15).
[16] 2.3.2. Anderes hätte nach Art 32 Abs 1 Satz 2 VO 883/2004 nur in dem Fall zu gelten, dass der eigenständige Anspruch im Wohnmitgliedstaat unmittelbar und ausschließlich aufgrund des Wohnorts der betreffenden Person in diesem Mitgliedstaat besteht. Entgegen der Behauptung der Klägerin sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, weil sich die Leistungszuständigkeit Italiens aus dem Bezug einer italienischen Pension und nicht unmittelbar und ausschließlich aus einem (hier auch nicht vorliegenden, sondern bloß fingierten) Wohnsitz in Italien ergibt.
[17] 2.3.3. Der abgeleitete Anspruch hat daher für die kollisionsrechtliche Prüfung nach Art 32 Abs 1 VO 883/2004 unberücksichtigt zu bleiben (10 ObS 38/23w Rz 15; 10 ObS 3/22x Rz 21), sodass es bei der Leistungszuständigkeit Italiens aufgrund des Bezugs der italienischen Pension bleibt.
[18] 2.3.4. Die Mitversicherung in der Krankenversicherung des Ehegatten begründet auch nach nationalem Recht keinen Anspruch auf Pflegegeld. Das BPGG stellt für den Anspruch auf Pflegegeld nicht auf eine Einbeziehung in die Krankenversicherung ab. Dass das österreichische Pflegegeld unionsrechtlich eine Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 darstellt, steht dazu – entgegen der Argumentation der Klägerin – nicht in Widerspruch, sondern führt nur dazu, dass es nach den genannten Regelungen der VO 883/2004 koordiniert wird, die eine Leistungszuständigkeit Österreichs aber nicht vorsehen.
[19] 2.4. Da diese Beurteilung von der Staatsangehörigkeit der Klägerin unabhängig ist, ist eine Diskriminierung aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht ersichtlich. Der Umstand, dass die Klägerin infolge der Leistungszuständigkeit Italiens in unionsrechtlich zulässiger Weise nicht alle Anspruchsvoraussetzungen nach innerstaatlichem Recht erfüllt, begründet keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung im Sinn des Art 4 VO 883/2004 (10 ObS 34/20b ErwGr 2.5).
[20] 2.5. Die von der Klägerin in der Revision aufgezeigten Rechtsfragen des Unionsrechts sind vom EuGH entweder bereits geklärt oder ihre Beantwortung ergibt sich unmittelbar aus dem insofern eindeutigen Wortlaut der VO 883/2004 , mit dem sich die Klägerin in der Revision auch nicht näher auseinandersetzt, sodass keine Veranlassung besteht, ihrer Anregung auf Einleitung eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH zu folgen.
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