European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00038.23W.0822.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 209,39 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 34,90 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Die * 1938 geborene Klägerin ist deutsche Staatsbürgerin, hat ihren ständigen Wohnsitz seit 2001 in Österreich und bezieht seit 1. 6. 2004 eine Regelaltersrente von der Deutschen Rentenversicherung, Bayern Süd. Sie bezieht keine österreichische Pensionsleistung. Sie ist mit ihrem Ehemann in der Krankenversicherung der Österreichischen Gesundheitskasse mitversichert. In Deutschland besteht keine Krankenversicherung.
[2] Mit Bescheid vom 28. 12. 2021 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 23. 12. 2021 auf Gewährung von Pflegegeld ab. Die Klägerin sei der Krankenversicherung in Deutschland zugehörig.
[3] In ihrer auf Zuerkennung von Pflegegeld gerichteten Klage macht die Klägerin zusammengefasst geltend, sie sei nicht der Krankenversicherung in Deutschland zugehörig, weil sie dort aufgrund ihres konkreten Versicherungsverlaufs nicht krankenversicherungspflichtig sei und sich wegen ihrer Mitversicherung in der österreichischen Krankenversicherung auch nicht freiwillig krankenversichern könne. Sie sei im Jahr 1953 ins Erwerbsleben eingetreten, bis 13. 12. 1988 in Deutschland krankenversichert gewesen, habe von 14. 12. 1988 bis 13. 3. 2001 in einem südamerikanischen Land gelebt und sei dort (privat) krankenversichert gewesen; seit 2001 sei sie nicht mehr erwerbstätig und bei ihrem Ehemann in der österreichischen gesetzlichen Krankenversicherung mitversichert. Aufgrund dieses Verlaufs sei die sogenannte „Vorversicherungszeit“ in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung für Rentner (vgl § 5 Abs 1 Z 11 [deutsches] SGB V) nicht erfüllt.
[4] Die Beklagte bestritt das Klagebegehren und brachte vor, die Klägerin sei aufgrund des Bezugs einer deutschen Regelaltersrente ab 1. 6. 2004 ausschließlich der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung leistungs-zugehörig. Zur Erbringung von Pflegeleistungen sei daher der Mitgliedstaat Deutschland zuständig.
[5] Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab.
[6] Das Berufungsgericht ließ die Revision nicht zu. Rechtlich begründete es die Antragsabweisung im Wesentlichen mit den in den Entscheidungen 10 ObS 202/21k, 10 ObS 3/22x und 10 ObS 31/22i ausgeführten rechtlichen Erwägungen. Der hier anzuwendende § 3a Abs 1 BPGG normiere die negative Anspruchsvoraussetzung, dass nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig sei. Kollisionsrechtlich spiele es für die Anspruchsberechtigung in Österreich keine Rolle, ob die Klägerin in Deutschland tatsächlich versichert sei. Selbst ein allfälliger eigener Sachleistungsanspruch aus der Mitversicherung – der ihr nach § 123 ASVG nicht zustehe – führe nach der Entscheidung 10 ObS 3/22x nicht zur Zuständigkeit Österreichs für die Erbringung von Pflegeleistungen. Der zuständige Staat für Rentenbezieher, die – wie die Klägerin – keinen Anspruch auf Sachleistungen bei Krankheit nach den Rechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats hätten, aber nach den Rechtsvorschriften des rentenauszahlenden Mitgliedstaats solche beziehen könnten, wenn sie dort wohnten, sei nach Art 24 VO (EG) 883/2004 zu bestimmen. Das sei hier Deutschland, weil die Klägerin eine Altersrente nach deutschem Recht beziehe. Auf das tatsächliche Bestehen einer Krankenversicherungspflicht in Deutschland komme es für die rein kollisionsrechtlich vorzunehmende Beurteilung nicht an. Daher bestünden auch die gerügten sekundären Feststellungsmängel nicht.
[7] Dagegen richtet sich die außerordentlicheRevision der Klägerin, mit der sie die Abänderung und Klagestattgebung anstrebt; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
[8] Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[9] Die Klägerin macht als erhebliche Rechtsfragen geltend, es fehle Rechtsprechung zu Fällen, in denen der Rentner im rentenzahlenden Mitgliedstaat nicht krankenversicherungspflichtig sei. Die vom Berufungsgericht herangezogene Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sei in der Literatur auf Kritik gestoßen.
[10] 1. Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass die Klägerin nicht anspruchsberechtigt gemäß § 3 Abs 1 BPGG ist, weil sie keine der dort genannten Grundleistungen bezieht, sondern aufgrund ihres unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts § 3a BPGG anzuwenden ist. Negative Anspruchsvoraussetzung des § 3a Abs 1 BPGG ist, dass nicht ein anderer Mitgliedstaat nach der VO (EG) 883/2004 für Pflegeleistungen zuständig ist, was nach den Kollisionsregeln nach Art 11 ff VO (EG) 883/2004 zu beurteilen ist (10 ObS 31/22i Rz 12 ff mwN). Neben den Art 11 ff VO (EG) 883/2004 enthalten die Art 23 ff VO (EG) 883/2004 Sondernormen für die Krankenversicherung der Pensionisten („Rentner“ iSd Art 1 lit w VO (EG) 883/2004 ).
[11] 2.1. Eine Leistung bei Krankheit, wie das Pflegegeld nach dem BPGG, zählt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den in Art 19 Abs 1 lit a der VO (EWG) 1408/71 genannten Geldleistungen (EuGH C‑215/99 , ECLI:EU:C:2001:139, Jauch, Rn 35). Es ist daher auch als Geldleistung iSd Art 21 ff, konkret des Art 29 VO (EG) 883/2004 anzusehen.
[12] 2.2. Gemäß Art 29 Abs 1 VO (EG) 883/2004 liegt die Leistungszuständigkeit für Geldleistungen bei Krankheit für Rentner einheitlich beim kollisionsrechtlich primär zuständigen Träger, das heißt bei dem Träger, der die Kosten der im Wohnstaat gewährten Sachleistungen gemäß den Art 23 bis 25 VO (EG) 883/2004 zu tragen hat (10 ObS 34/20b SSV‑NF 34/43 ErwGr 1.3.; 10 ObS 3/22x Rz 17; 10 ObS 202/21k Rz 15, DRdA 2023/6, 53 [Schöffmann]; Janda in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 [2022] Art 29 VO (EG) 883/2004 Rz 1).
[13] 2.3. In der Regel ist nach Art 29 Abs 1 iVm Art 24 Abs 1, Abs 2 lit a VO (EG) 883/2004 für die Gewährung von Pflegegeld an Pensionisten (Rentner) mit einer Pension (Rente) eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union der pensionsauszahlende Staat und nicht der Wohnmitgliedstaat zuständig (10 ObS 202/21k Rz 14, DRdA 2023/6, 53 [Schöffmann]; vgl 10 ObS 123/16k SSV‑NF 31/9 ErwGr 2.8; Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld4 [2017] Rz 3.46).
[14] 2.4. Die Zuständigkeit des rentenzahlenden Mitgliedstaats ergibt sich bereits immer dann, wenn aufgrund des Rentenanspruchs eine Einbeziehung in die Krankenversicherung des rentenzahlenden Mitgliedstaats besteht. Dem Umstand, dass die Inanspruchnahme von Leistungen von der Grundstruktur der nationalen Krankenversicherungsrechte her regelmäßig vom Territorialitätsprinzip gekennzeichnet ist und den Aufenthalt in dem Mitgliedstaat voraussetzt, in dem die Versicherung besteht (vgl Bieback in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 17 VO [EG] 883/2004 Rz 1), trägt (im hier interessierenden Zusammenhang) die Wohnsitzfiktion des Art 24 Abs 1 VO (EG) 883/2004 Rechnung.
[15] 2.5. Die Zuständigkeit des rentenzahlenden Mitgliedstaats zur Erbringung von Geldleistungen besteht auch dann, wenn sich neben einem eigenständigen Sachleistungsanspruch aus der mit dem Rentenanspruch einhergehenden Einbeziehung in die Krankenversicherung des rentenzahlenden Mitgliedstaats ein abgeleiteter Anspruch auf Leistungen für Familienangehörige aus der Krankenversicherung eines anderen Mitgliedstaats ergibt, weil ein aufgrund des Rentenbezugs (bzw einer darauf basierenden Versicherung) bestehender Sachleistungsanspruch nach der Rangfolge des Art 32 Abs 1 VO (EG) 883/2004 gegenüber dem abgeleiteten Anspruch als Familienangehöriger vorrangig ist (vgl 10 ObS 3/22x Rz 21). Der abgeleitete Anspruch hat daher für die kollisionsrechtliche Prüfung nach Art 32 Abs 1 VO (EG) 883/2004 unberücksichtigt zu bleiben (10 ObS 3/22x Rz 21; vgl Schreiber in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] 883/2004 [2012] Art 32 Rz 4).
[16] 2.6. In diesem Sinn ist die zitierte Rechtsprechung des Senats dahin zu präzisieren, dass es bei Bestehen einer Anspruchsberechtigung zugunsten eines Rentners oder einer Rentnerin als Angehörige („Mitversicherung“) in der österreichischen Krankenversicherung nach § 123 ASVG (10 ObS 202/21k, DRdA 2023/6, 53 [Schöffmann]; 10 ObS 31/22i) oder § 56 B‑KUVG (10 ObS 3/22x) oder anderen Normen für die Ermittlung des zur Erbringung von Geldleistungen primär zuständigen Mitgliedstaats gemäß Art 29 Abs 1 iVm Art 24 VO (EG) 883/2004 nicht entscheidend darauf ankommt, ob der Angehörige nach der Ausgestaltung des nationalen Rechts den Sachleistungsanspruch in eigener Person (vgl zu § 56 B‑KUVG RS0086022) oder nur im Weg der Beanspruchung durch den Versicherten (vgl zu § 123 ASVG RS0113003) geltend machen kann.
[17] Entscheidend ist vielmehr, ob dem (unabhängig von der nationalen Ausgestaltung) gemäß Art 32 Abs 1 VO (EG) 883/2004 als abgeleitet zu beurteilenden Sachleistungsanspruch eines Angehörigen aus der österreichischen Krankenversicherung ein (iSd Art 32 Abs 1 VO (EG) 883/2004 ) eigenständiger Sachleistungsanspruch gegen den zuständigen Träger des rentenzahlenden Mitgliedstaats gegenübersteht.
[18] Da der eigenständige Anspruch gegen den Träger des rentenzahlenden Mitgliedstaats nach Art 32 Abs 1 VO (EG) 883/2004 – mit Ausnahme der im vorliegenden Fall nicht relevanten, in Art 32 Abs 2 VO (EG) 883/2004 geregelten Ausnahme eines „Einwohnersystems“ im rentenzahlenden Mitgliedstaat (vgl dazu Bieback in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 32 VO [EG] 883/2004 Rz 7; Zaglmayer/Pöltl in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, 85. Lfg [2020] Art 32 VO [EG] 883/2004 Rz 3) – dem abgeleiteten Anspruch als Angehöriger gegen den Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats vorgeht, ergibt sich nach Art 29 iVm Art 24 Abs 1, Abs 2 lit a VO (EG) 883/2004 bei Einfachrentnern (Personen mit einem Rentenbezug aus einem einzigen Mitgliedstaat) die primäre Zuständigkeit des rentenzahlenden Mitgliedstaats zur Erbringung der Geldleistungen aus der Krankenversicherung an den Rentner (vgl 10 ObS 3/22x Rz 21).
[19] 2.7. Auf das tatsächliche Bestehen einer Krankenversicherung im rentenzahlenden Mitgliedstaat kommt es für die kollisionsrechtliche Beurteilung insofern nicht an, als die Verwaltungspraxis eines Mitgliedstaats (vgl 10 ObS 56/21i), der Verzicht auf eine Leistung (ebenfalls 10 ObS 56/21i) oder die Inanspruchnahme einer Befreiung von der Krankenversicherungspflicht (vgl 10 ObS 83/16b SSV‑NF 30/80) aufgrund einer dies ermöglichenden Ausgestaltung des nationalen Krankenversicherungsrechts nichts an der kollisionsrechtlichen Beurteilung zu ändern vermag (vgl 10 ObS 83/16b SSV‑NF 30/80 = DRdA 2017/34, 312 [Felten]).
[20] 2.8. In den vom Obersten Gerichtshof bisher entschiedenen Fällen hatten die Kläger die Möglichkeit der Einbeziehung in das Krankenversicherungssystem des rentenzahlenden Mitgliedstaats und das Bestehen eines Sachleistungsanspruchs unter Zugrundelegung einer Wohnsitzfiktion in diesem Mitgliedstaat (Art 24 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 ) nicht konkret bestritten (vgl etwa 10 ObS 56/21i; 10 ObS 202/21k DRdA 2023/6, 53 [Schöffmann]).
[21] 2.9. Die Kritik Schöffmanns (DRdA 2023, 53 [55]), der die konkrete Prüfung verlangt, ob bei Zugrundelegung der Wohnsitzfiktion Sachleistungen im rentenzahlenden Mitgliedstaat zustünden, trifft allerdings für Fälle zu, in denen konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Rentenbezieher auch unter Zugrundelegung der Fiktion eines Wohnsitzes im rentenzahlenden Mitgliedstaat dort keinen oder keinen nach Art 32 VO (EG) 883/2004 vorrangigen Sachleistungsanspruch hätte.
[22] 3.1. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin konkretes Vorbringen dazu erstattet, dass ihr selbst bei Bestehen eines Wohnsitzes in Deutschland dort kein Sachleistungsanspruch aus der Krankenversicherung zustünde.
[23] Sie begründete dies damit, dass sie aufgrund ihres im Einzelnen dargelegten Sozialversicherungsverlaufs im rentenzahlenden Mitgliedstaat Deutschland nicht in die Pflichtversicherung in der Krankenversicherung einbezogen sei, weil sie seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Jahr 1953 und der Rentenantragstellung auch unter Berücksichtigung ihrer zwei Kinder nicht neun Zehntel der zweiten Hälfte dieses Zeitraums, das seien 22 Jahre und 10,5 Monate, in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert gewesen sei. Sie sei daher mangels Erfüllung der Vorversicherungszeit in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung nicht versicherungspflichtig. Eine freiwillige Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung sei ihr wegen der aufrechten Mitversicherung bei ihrem Ehemann nicht möglich.
3.2. Ein eigenständiger Anspruch auf Sachleistungen aus einer Versicherung basiert nach deutschem Recht auf den Pflichtversicherungsverhältnissen gemäß (soweit hier relevant) § 5 SGB V sowie der freiwilligen Versicherung gemäß § 9 SGB V sowie im Basistarif gemäß § 193 Abs 5 VVG (Bieback in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 [2022] Art 32 VO [EG] 883/2004 Rz 7).
[24] 3.3. Die Klägerin nimmt mit ihrem Rechtsvorbringen offenkundig auf die in § 5 Abs 1 Z 11 SGB V als Voraussetzung für die Versicherungspflicht normierte „Vorversicherungszeit“ iVm Abs 2 dieser Bestimmung (betreffend die Anrechnung von Mitgliedszeiten für jedes Kind) Bezug. Ihr Vorbringen zur Nicht-Einbeziehung in die deutsche gesetzliche Krankenversicherung wegen der „Mitversicherung“ bei ihrem Ehemann könnte rechtlich, auch wenn die Klägerin in diesem Zusammenhang auf die (in § 9 SGB V geregelte) freiwillige Versicherung verweist, vor dem Hintergrund des § 5 Abs 1 Z 13 SGB V zu verstehen sein.
[25] 3.4. Sollte es zutreffen, dass die Klägerin aufgrund ihres Versicherungsverlaufs selbst unter der Annahme eines Wohnsitzes in Deutschland, also unter Zugrundelegung der Wohnsitzfiktion des Art 24 Abs 1 VO (EG) 883/2004 , dort keinen Anspruch auf Sachleistungen hätte, weil sie weder der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 5 SGB V unterliegt noch die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 9 SGB V hat, bestünde aus der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V kein eigenständiger Sachleistungsanspruch der Klägerin, der gemäß Art 32 VO (EG) 883/2004 mit ihrem abgeleiteten Anspruch (als solcher ist die Anspruchsberechtigung ihres Ehemanns für sie nach § 123 ASVG zu beurteilen) konkurrieren und ihrem abgeleiteten Anspruch nach Art 32 VO (EG) 883/2004 vorgehen würde.
[26] Ob dies der Fall ist, kann nach dem derzeitigen Aktenstand nicht beurteilt werden, weil keine Feststellungen zur Erwerbsbiographie und dem Versicherungsverlauf der Klägerin getroffen wurden.
[27] 3.5. Darauf kommt es allerdings im vorliegenden Fall nicht an, weil sich ein eigenständiger Sachleistungsanspruch der Klägerin unter der Annahme, dass sie in Deutschland wohnte, auch aus dem gesetzlich gebotenen Abschluss einer privaten Krankenversicherung gemäß § 193 (deutsches) VVG ergeben könnte (vgl Bieback in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 32 VO [EG] 883/2004 Rz 7).
[28] 3.6. Nach § 193 Abs 3 VVG ist jede Person mit Wohnsitz in Deutschland, die nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert oder versicherungspflichtig ist (§ 193 Abs 3 Z 1 dVVG; Z 2 bis Z 4 sind hier nicht relevant), verpflichtet, eine Krankheitskostenversicherung mit einem im Einzelnen umschriebenen Leistungsumfang abzuschließen. § 193 Abs 5 dVVG normiert die entsprechende Verpflichtung des Versicherers zur Gewährung von Versicherungsschutz zum Basistarif. Eine solche Versicherung muss mindestens eine Kostenerstattung für ambulante und stationäre Heilbehandlung umfassen.
[29] 3.7. Nach Art 1 lit va sublit i VO (EG) 883/2004 liegen für die Zwecke des (im vorliegenden Fall relevanten) Titels III Kapitel 1 VO (EG) 883/2004 Sachleistungen bei Krankheit auch vor, wenn sie „den Zweck verfolgen, die ärztliche Behandlung und die diese Behandlung ergänzenden Produkte und Dienstleistungen zu erbringen bzw zur Verfügung zu stellen oder direkt zu bezahlen oder diesbezüglich die Kosten zu erstatten“. Sachleistungen (und nicht Geldleistungen) liegen demnach auch dann vor, wenn die Krankenversicherung dafür Geld im Weg der Kostenerstattung oder Kostenübernahme zahlt (Bieback in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 17 VO [EG] 883/2004 Rz 4; EuGH C‑466/04 , Acereda Herrera, Rz 29).
[30] Auch ein Anspruch aus einer gemäß § 193 dVVG abgeschlossenen Versicherung, die gemäß § 193 Abs 3 dVVG eine Krankheitskostenversicherung zu beinhalten hat, verschafft der versicherten Person daher einen Sachleistungsanspruch iSd VO (EG) 883/2004 . Dabei handelt es sich um einen eigenständigen Sachleistungsanspruch iSd Art 32 Abs 1 VO (EG) 883/2004 . Ein solcher Anspruch ginge einem abgeleiteten Anspruch auf Leistungen für Angehörige (im vorliegenden Fall: nach § 123 ASVG) gemäß der Vorrangregel des Art 32 VO (EG) 883/2004 vor. Die Ausnahmebestimmung des Art 32 Abs 2 VO (EG) 883/2004 , nach der ausnahmsweise der abgeleitete Anspruch dem eigenständigen vorgeht, wäre bei Vorliegen der geschilderten Versicherung im Basistarif gemäß § 193 Abs 5 dVVG nicht erfüllt, weil der daraus resultierende Sachleistungsanspruch aus einer Versicherung nicht bloß – wie bei einem Einwohnersystem – ausschließlich auf dem Wohnsitz beruhte (vgl zur sprachlich schwer verständlichen Ausnahme des Art 32 Abs 2 VO (EG) 883/2004 Bieback in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 32 VO [EG] 883/2004 Rz 3).
[31] 4.1. Ergebnis: Allgemein gilt, dass zur Beurteilung des Pflegegeldanspruchs einer Person nach § 3a BPGG, die eine Rente aus einem anderen Mitgliedstaat bezieht und zu deren Gunsten in der österreichischen gesetzlichen Krankenversicherung eine Anspruchsberechtigung für Angehörige besteht, die konkrete Prüfung, ob bei Zugrundelegung der Wohnsitzfiktion Sachleistungen im rentenzahlenden Mitgliedstaat zustünden (Art 29 iVm Art 24 Abs 1 VO (EG) 883/2004 ), erforderlich ist, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein (iSd Art 32 VO (EG) 883/2004 eigenständiger) Sachleistungsanspruch im rentenzahlenden Mitgliedstaat auch unter der Annahme, der Rentner würde in diesem Mitgliedstaat wohnen, nicht bestünde.
[32] 4.2. Im vorliegenden Fall ergibt die konkrete Prüfung – wie ausgeführt –, dass der Klägerin, die eine Rente aus der deutschen Rentenversicherung bezieht, unter der Annahme eines Wohnsitzes in Deutschland dort jedenfalls ein auf einer Versicherung basierender eigenständiger Sachleistungsanspruch in der Krankenversicherung zustünde.
[33] 4.3. Das Urteil des Berufungsgerichts erweist sich daher auch bei Berücksichtigung der in der Literatur an der Entscheidung 10 ObS 202/21k geäußerten Kritik (Schöffmann, DRdA 2023/6, 64 ff) als rechtsrichtig. Der zur Klarstellung zulässigen Revision ist daher nicht Folge zu geben.
[34] 4.4. Die in der außerordentlichen Revision angeregte Befassung des Europäischen Gerichtshofs zur Vorabentscheidung ist im vorliegenden Fall nicht erforderlich, weil es nicht auf die im Rechtsmittel aufgeworfene Frage ankommt, ob eine Rentnerin im pensionsauszahlenden Mitgliedstaat schlechthin kranken- bzw pflegeversicherungspflichtig ist, sondern auf die Frage, ob unter Anwendung der Vorrangregeln des Art 32 nach Art 24 Abs 1 VO (EG) 883/2004 unter Zugrundelegung der Wohnsitzfiktion ein vorrangiger eigenständiger Sachleistungsanspruch im rentenzahlenden Mitgliedstaat besteht.
[35] 4.5. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Ist eine Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 2 Abs 1 ASGG, § 502 Abs 1 ZPO abhängig, entspricht es der Billigkeit, der unterlegenen Versicherten die Hälfte der Kosten ihrer Rechtsvertretung zuzuerkennen (RS0085871). Allerdings ist der verzeichnete Ansatz nach Anmerkung 5 zu TP3 RATG nicht zu gewähren.
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