European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:E117106
Spruch:
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und die Pflegschaftssache zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung an das Rekursgericht zurückverwiesen.
Begründung:
Die Obsorge für den 13‑jährigen Sohn kommt dem Vater zu. Zum bisherigen Verfahrensgang ist auf die den Parteien bekannte Vorentscheidung 10 Ob 32/16b vom 28. 6. 2016 zu verweisen, deren Gegenstand das Kontaktrecht der Mutter war.
Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens ist die Ausübung des vorläufigen Kontaktrechts zwischen Mutter und Sohn. Strittig ist dabei im Revisionsrekursverfahren noch die Frage, ob der Mutter nach der Entlassung des Sohnes aus einer Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik ein begleitetes oder unbegleitetes Kontaktrecht einzuräumen ist.
Der Vater beantragte am 1. 3. 2016 die Aussetzung des Kontaktrechts, hilfsweise, der Mutter lediglich ein begleitetes Kontaktrecht in Abständen von 14 Tagen einzuräumen. Die weitere Ausübung unbegleiteter Kontakte der Mutter zum Sohn stelle eine Gefahr für dessen Persönlichkeitsentwicklung dar, die Mutter verstoße gegen den aktuell gültigen Kontaktrechtsvergleich vom 21. 9. 2015.
Dem hielt die Mutter entgegen, dass der Vater nur seine eigenen Ziele verfolge und dabei vergesse, auf die Bedürfnisse und das Wohl des Sohnes Rücksicht zu nehmen. Nicht der Kontakt des Sohns zur Mutter, sondern das Streben des Vaters, diesen zu unterbinden, sei kausal für die psychische Irritation des Sohnes. Der Vater halte sich nicht an den gerichtlichen Kontaktrechtsvergleich.
Im Verfahren lehnte die Mutter mit dem Antrag vom 21. 4. 2016 die vom Erstgericht beigezogene Sachverständige für Neurologie und Psychiatrie ab. Diesen Antrag wies das Erstgericht mit Beschluss vom 15. 6. 2016 ab.
In der mündlichen Verhandlung vom 15. 6. 2016 wurden die Eltern vom Gericht einvernommen und das Gutachten der Sachverständigen mit den Eltern erörtert.
Das Erstgericht sprach, soweit für das Revisionsrekursverfahren von Bedeutung, aus, dass die Mutter nach Entlassung des Sohnes aus einer Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik vorläufig berechtigt und verpflichtet ist, ihren Sohn in vierwöchigen Abständen jeweils für die Dauer von fünf Stunden begleitet durch das Eltern‑Kind‑Zentrum W* zu besuchen. Das Erstgericht ging zusammengefasst von folgenden Feststellungen aus:
Anlass für die Aufnahme des Sohnes in der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik am 1. 4. 2016 war eine zunehmend schlechtere psychische Befindlichkeit, wobei als Symptome durch den Vater massives Einkoten (Enkopresis), Zwangsverhalten, Ängste, immer wieder aggressive Durchbrüche und Strukturverlust im Alltag mit Defiziten im Bereich der Alltagsroutine, Hygiene und andere mehr beschrieben wurden. Während des Aufenthalts kam es im Bereich der kognitiven Leistungsfähigkeit zu einer Stabilisierung, auch im Hinblick auf Alltagsroutinen verbesserte sich das Verhalten des Sohnes. Der Sohn besucht während seines Krankenhausaufenthalts die Heilstättenschule und wird das Schuljahr positiv abschließen.
Aus Sicht der behandelnden Ärzte ist im emotionalen Bereich der Konflikt der Eltern mit den sehr unterschiedlichen Beziehungsangeboten systemstabilisierend wirksam. Enkopresis, Zwangsverhalten und Aggression sind Ausdruck der inneren Spannung des Sohnes. Von den Ärzten wird darüber hinaus vermutet, dass ein Herausnehmen des Sohnes aus dem Spannungsfeld über einen längeren Zeitraum eine Verbesserung mit sich bringen wird.
Beim Sohn liegt eine schwere kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen mit psychogener Enkopresis vor. Dieses Störungsbild hat sich vor dem Hintergrund des jahrelangen Obsorge‑ und Kontaktrechtsstreits entwickelt, der den Sohn erheblich belastet und wodurch ihm eine gedeihliche Persönlichkeitsentwicklung verwehrt blieb. Der Sohn hat große Schwierigkeiten sich so zu akzeptieren, wie er ist. Sein psychischer Zustand zeigt einen erheblichen Loyalitätskonflikt auf, der durch die einander feindselige Haltung der Eltern genährt und geschürt wird, und dem er durch regressives Verhalten zu entkommen versucht.
Für den Sohn ist es wichtig, im Zuge seiner Entwicklung regelmäßig Kontakt zur Mutter zu haben. Für ihn ist es derzeit vordringlich, „zur Ruhe zu kommen“, ihn aus dem konfliktreichen Beziehungsnetz zwischen Vater, Mutter und den mütterlichen Großeltern herauszunehmen, um sich emotional zu beruhigen. Es ist erforderlich, dem Sohn einige Zeit Ruhe zu geben, um dann erneut und besser auf einem gedeihlichen Niveau Kontakte zur Mutter wieder aufzunehmen. Durch begleitete Kontakte zur Mutter wird Spannung und Druck vom Sohn genommen.
Die Mutter ist derzeit emotional nicht in der Lage, Konflikten mit dem Sohn, die zweifelsohne entstehen werden, entsprechend zu begegnen. Sie kann derzeit ihre Emotionen und Impulse nicht kontrollieren. In einem unbegleiteten Setting ist die Mutter der Problematik, dass der Sohn sie an ihre Grenzen bringen wird, nicht gewachsen.
Der Sohn ist emotional nicht in der Lage, seinen Willen zu Kontaktrechtsfragen zu äußern. Eine gerichtliche Befragung des Sohnes stellt erst nach Stabilisierung seines Zustands keine Kindeswohlgefährdung mehr dar.
Rechtlich führte das Erstgericht aus, dass die Einschränkung der persönlichen Kontakte des Sohnes zur Mutter seinem Wohl förderlich sei. Geringere persönliche und begleitete Kontakte ließen den Sohn zur Ruhe kommen und unterstützten die Genesung des psychisch schwer belasteten Kindes. Aufgrund ihrer derzeitigen „emotionalen Situation“ sei die Mutter unbegleiteten Kontakten zum Sohn nach dessen Entlassung aus der Klinik nicht gewachsen.
Über Rekurs der Mutter änderte das Rekursgericht den Beschluss des Erstgerichts – soweit für das Revisionsrekursverfahren noch von Bedeutung – dahin ab, dass es der Mutter ein von ihr allein wahrzunehmendes, unbegleitetes vorläufiges persönliches Kontaktrecht zum Sohn an jedem zweiten Samstag von 13:00 Uhr bis 18:00 Uhr einräumte.
Das Rekursgericht traf ergänzend zu den bereits wiedergegebenen Feststellungen des Erstgerichts noch Feststellungen über die bei Entlassung des Sohnes aus der Klinik am 8. 7. 2016 bestehenden Diagnosen sowie die im Arztbrief empfohlene Medikation und weitere Maßnahmen.
Rechtlich führte das Rekursgericht mit Begründung aus, dass entgegen der Ansicht des Erstgerichts von einer Befangenheit der gerichtlichen Sachverständigen auszugehen sei. Dies könne die Mutter in zulässiger Weise in ihrem Rekurs gegen die Sachentscheidung des Erstgerichts über das vorläufige Kontaktrecht geltend machen. Die Mutter zeige damit einen Mangel des Verfahrens erster Instanz auf, der sich auf die inhaltliche Richtigkeit der Sachentscheidung auswirke.
Wie in allen Fällen einer nachträglichen Ablehnung dürfe das bereits erstattete Gutachten des mit Erfolg abgelehnten Sachverständigen nicht mehr als Prozessstoff berücksichtigt werden. Das Gericht habe vielmehr iSd § 362 Abs 2 Satz 2 ZPO eine neuerliche Begutachtung durch einen anderen, unbefangenen Sachverständigen anzuordnen.
Anders als im konkreten Fall im Hauptverfahren über das Kontaktrecht bestehe jedoch im Verfahren über eine vorläufige Kontaktrechtsregelung grundsätzlich keine Verpflichtung zur Beiziehung eines gerichtlichen Sachverständigen. Hier habe der Sohn in einem Brief vom 20. 11. 2015 und aus Anlass seiner Untersuchung durch die Sachverständige am 4. 4. 2016 klar geäußert, beide Eltern gleich gern zu haben, bei beiden gleich gern wohnen und mit ihnen gleich viel Zeit verbringen zu wollen. Die Annahme des Erstgerichts, dass der Sohn emotional nicht in der Lage sei, seinen Willen zu Kontaktrechtsfragen zu äußern, könne in dieser Allgemeinheit nicht übernommen werden. Die mittlerweile eingetretene erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustands des Sohnes rechtfertige zwar die Einschränkung der persönlichen Kontakte zwischen Mutter und Sohn, nicht aber die vom Erstgericht angeordnete Besuchsbegleitung. Das Wohl des – kurz vor Erreichen der Mündigkeit stehenden – Sohnes erfordere im konkreten Fall keine Besuchsbegleitung. Ein das Kindeswohl gefährdendes Verhalten der Mutter, das eine Besuchsbegleitung erforderlich machen würde, sei den erstgerichtlichen Feststellungen nicht zu entnehmen. Die Anordnung einer Besuchsbegleitung komme weder zur Wahrung des – angeblichen – Schutzes der Mutter noch zur Lösung von Obsorgestreitigkeiten in Betracht. Das Erstgericht gehe selbst davon aus, dass die Mutter derzeit nur länger dauernden unbegleiteten Kontakten zum Sohn nicht gewachsen sei. Es sei der Mutter daher nach Maßgabe des Kindeswohls ein – vorübergehend zeitlich eingeschränktes – unbegleitetes vorläufiges Kontaktrecht zu ihrem Sohn einzuräumen.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil die Einräumung eines vorläufigen Kontaktrechts immer einzelfallbezogen zu erfolgen habe.
Gegen diesen Beschluss richtet sich, soweit mit diesem der Mutter die unbegleitete Ausübung des Kontaktrechts eingeräumt wird, der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters, mit dem dieser anstrebt, dass die Mutter ihr Kontaktrecht begleitet ausüben soll.
In der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung beantragt die Mutter die Zurück‑, hilfsweise die Abweisung des Revisionsrekurses.
Rechtliche Beurteilung
Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch des Rekursgerichts zulässig und auch im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
1. Der Vater führt in seinem Rechtsmittel insbesondere aus, das Erstgericht habe festgestellt, dass die Mutter emotional nicht in der Lage sei, Konflikten mit dem Sohn, die zweifelsohne entstehen werden, zu begegnen. Diese Feststellung könne nur als zwingendes Erfordernis für ein begleitetes Kontaktrecht gesehen werden, jegliche andere Auslegung sei unter dem Aspekt des Kindeswohls bedenklich. Gehe das Rekursgericht von der Befangenheit der vom Erstgericht beigezogenen Sachverständigen aus, so hätte deren Gutachten nicht mehr als Prozessstoff berücksichtigt werden dürfen. In diesem Fall wäre aber ein anderer, unbefangener Sachverständiger beizuziehen gewesen. Geschehe dies nicht, liege eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens vor.
Dem kommt im Ergebnis Berechtigung zu.
2. Gemäß § 52 Abs 2 AußStrG darf das Rekursgericht nur dann von der neuerlichen Aufnahme eines in erster Instanz unmittelbar aufgenommenen, für die Feststellungen maßgeblichen Beweises Abstand nehmen, wenn es vorher den Parteien bekanntgegeben hat, dass es gegen die Würdigung dieses Beweises durch das Erstgericht Bedenken habe, und ihnen Gelegenheit gegeben hat, eine neuerliche Aufnahme dieses Beweises durch das Rekursgericht zu beantragen. Soweit das Erstgericht daher seine Feststellungen aufgrund unmittelbar aufgenommener Beweise getroffen hat, darf das Rekursgericht diese weder abändern noch ergänzen, ohne die in § 52 Abs 2 AußStrG vorgesehene Vorgangsweise einzuhalten (vgl RIS‑Justiz RS0126460, RS0122252).
3. Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht insbesondere die Feststellungen, dass durch begleitete Kontakte zur Mutter Spannung und Druck vom Sohn genommen werden, dass die Mutter „in einem unbegleiteten Setting“ der Problematik, dass der Sohn sie an „ihre Grenzen bringen“ werde, nicht gewachsen sei, dass es sinnvoll sei, mit begleiteten Besuchskontakten unmittelbar nach der Entlassung des Sohnes aus der Klinik zu beginnen, und dass der Sohn emotional nicht in der Lage sei, seinen Willen zu Kontaktrechtsfragen zu äußern, auf unmittelbar aufgenommene Beweise gestützt, nämlich auf das Gutachten der Sachverständigen und dessen mündliche Erörterung im Rahmen einer vom Erstgericht mit den Parteien abgehaltenen Verhandlung. In seiner Beweiswürdigung stellt das Erstgericht darüber hinaus (disloziert) fest, dass die Mutter „emotional nicht in der Lage ist, Konflikten mit dem Kind entsprechend zu begegnen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung in einem sehr geordneten ruhigen Setting in einer harmonischen Umgebung beschädigte die Mutter die Türe der Sachverständigen, schrie und brüllte, war nicht zu beruhigen“.
4. Das Rekursgericht weicht von diesen Feststellungen ab, wenn es seiner Entscheidung (nicht in der Entscheidung des Erstgerichts festgestellte) Äußerungen des Sohnes über die Gestaltung des Kontaktrechts der Mutter zugrunde legt und dabei nicht Bedacht auf die Feststellung des Erstgerichts nimmt, dass der Sohn zu solchen Äußerungen emotional nicht in der Lage ist. Dies gilt auch für die Ausführungen des Rekursgerichts, wonach ein das Kindeswohl gefährdendes Verhalten der Mutter sich nicht aus den Feststellungen des Erstgerichts ergebe. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit ist nunmehr im Verfahren außer Streitsachen ausdrücklich auch für das Rekursgericht angeordnet (RIS‑Justiz RS0006370 [T4]). Es begründet einen Verfahrensmangel, wenn das Rekursgericht von den tatsächlichen Feststellungen des Erstgerichts ohne Wiederholung der Beweisaufnahmen abgeht (vgl RIS‑Justiz RS0043461). Die Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes bedeutet eine erhebliche Verletzung einer Vorschrift des Verfahrensrechts, deren Wahrnehmung der Wahrung der Rechtssicherheit dient (RIS‑Justiz RS0042151, RS0043057). Ein Abgehen insbesondere von den genannten erstgerichtlichen Feststellungen hätte hier einer Beweiswiederholung – allenfalls in Form der Verlesung erstinstanzlicher Beweisergebnisse nach Erörterung mit den Parteien – bedurft (3 Ob 108/07i). Sieht sich das Rekursgericht außerstande, das Verfahren selbst zu ergänzen, müsste es den erstinstanzlichen Beschluss aufheben und die Verfahrensergänzung dem Erstgericht auftragen.
Dem Revisionsrekurs war daher im Sinn des Aufhebungsantrags Folge zu geben.
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