OGH 10Ob50/15y

OGH10Ob50/15y30.7.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Mag. Korn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W* AG, *, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Univ.‑Prof. Dr. D* G*, vertreten durch Dr. Gernot Murko, Mag. Christian Bauer und Mag. Gerlinde Murko, Rechtsanwälte in Klagenfurt, wegen 91.631,43 EUR sA, über die Revision (Revisionsinteresse 8.430,05 EUR sA) und den Rekurs (Rekursinteresse 83.201,38 EUR sA) der beklagten Partei gegen das Teilurteil und den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 27. Februar 2015, GZ 2 R 172/14b‑31, womit das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 7. August 2014, GZ 20 Cg 84/13z‑27, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung

 

1) den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:E111905

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben und der angefochtene Beschluss aufgehoben und

2) zu Recht erkannt:

 

Der Revision wird Folge gegeben und das angefochtene Teilurteil dahin abgeändert, dass insgesamt die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.931,36 EUR (darin 488,56 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit 9.642,45 EUR (darin 471,74 EUR USt und 6.812 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisions- und Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

H* R* begehrte mit ihrer am 8. 8. 1996 beim Landesgericht Klagenfurt eingelangten Klage (GZ 23 Cg 179/96i) von der Stadtgemeinde F* als dortige Beklagte die Zahlung von 101.000 ATS sA sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für zukünftige Schäden. Sie brachte vor, ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen seien auf eine Bleivergiftung zurückzuführen, deren Ursache mit Blei kontaminiertes Trinkwasser sei, das von der Stadtgemeinde F* als Trinkwasserversorgungsunternehmen zur Verfügung gestellt worden sei. Direkter Auslöser sei ein in der Hauszuleitung befindliches Bleirohr gewesen, das erst 1994 ausgetauscht worden sei. Das in dem Rohr über Nacht stehende Wasser hätte sich mit Blei gesättigt, sodass sie jeden Tag in der Früh mit Blei kontaminiertes Trinkwasser aufgenommen habe. Es werde Schmerzengeld für bisher erlittene Schmerzen geltend gemacht. Überdies lägen noch nicht abschätzbare Dauerfolgen vor.

In diesem Verfahren wurde der nunmehrige Beklagte als medizinischer Sachverständiger aus dem Fachgebiet der Inneren Medizin bestellt. Er erstattete ein schriftliches Gutachten sowie eine schriftliche Gutachtensergänzung. Nachdem er im Rahmen der mündlichen Gutachtenserörterung zusammenfassend zu der gutachterlichen Schlussfolgerung gekommen war, die bei H* R* gegebene Kombination der klinischen Symptomatik im Zusammenhalt mit der langjährigen Bleiexposition und der anfänglichen Erhöhung der Bleiausscheidung führe dazu, dass eine Wahrscheinlichkeit von 80 % für eine bis 1997 vorhanden gewesene chronische Bleiintoxikation angegeben werde könne, kündigte der Richter an, dass er der Klage stattgeben werde. Daraufhin erklärte sich die beklagte Stadtgemeinde F* im Wege eines außergerichtlichen Vergleichs bereit, den Kapitalbetrag von 101.000 ATS samt Zinsen und Kosten zu überweisen und auf den Einwand der Verjährung bezüglich weiterer Forderungen zu verzichten.

Mit Schriftsatz vom 24. 4. 2001 beantragte H* R* die Fortsetzung des Verfahrens, machte weitere Schmerzengeldansprüche sowie weitere Schäden geltend, die sie aus dem Konsum von mit Blei kontaminiertem Wasser herleitete und deren Höhe sie zuletzt mit 144.414,38 EUR sA bezifferte.

Dieses Klagebegehren wies das Landesgericht Klagenfurt ‑ nach mehreren Rechtsgängen ‑ mit Urteil vom 24. 9. 2012 im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass nicht festgestellt werden habe können, dass H* R* nach 1997 an auf eine Bleibelastung zurückzuführenden Gesundheitsbeeinträchtigungen gelitten habe. Das Oberlandesgericht Graz als Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Der Oberste Gerichtshof wies die dagegen gerichtete außerordentliche Revision zurück.

Im vorliegenden Verfahren begehrt der Haftpflichtversicherer der Stadtgemeinde F* als Klägerin vom Beklagten die Zahlung von 91.631,43 EUR sA im Wesentlichen mit dem Vorbringen, dieser habe im Vorverfahren als Sachverständiger ein unrichtiges Gutachten erstattet. Bei sorgfältiger Gutachtenserstattung hätte er zu dem Ergebnis kommen müssen, dass bei H* R* keine Bleivergiftung vorgelegen habe. Der Beklagte habe sich von der angeblichen Bleiexposition leiten lassen, statt anhand der vorliegenden medizinischen Daten und der eigenen Untersuchung eine Einschätzung vorzunehmen. Bei rechtmäßigem Alternativverhalten hätte er zudem erklären müssen, warum das im Vorverfahren ebenfalls eingeholte Gutachten des umweltmedizinischen Sachverständigen unrichtig gewesen sei, der ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen war, dass eine Bleivergiftung vorgelegen habe. Er hafte für die aufgrund dessen von der Klägerin als Haftpflichtversicherer ersetzten bzw für ihre Versicherungsnehmerin geleisteten Beträge an Kapital in Höhe von 7.339,96 EUR und an Kosten von 17.008,52 EUR. Im Vorprozess seien der Stadtgemeinde F* insgesamt 62.139,52 EUR an Verfahrenskosten zugesprochen worden, die die Klägerin der Stadtgemeinde F* ersetzt habe und die von H* R* bisher nicht einbringlich gemacht werden konnten. Weitere Kosten in Höhe von 5.143,43 EUR seien der Stadtgemeinde F* nicht zugesprochen worden, weil das Verfahren für sie bis zum Vergleichsabschluss kostenmäßig als verloren gewertet worden sei. Auch für diese Kosten hafte der Beklagte.

Der Beklagte bestritt das Klagebegehren. Sein Gutachten sei richtig. Er habe es entsprechend dem richterlichen Auftrag nach dem damaligen Stand der Wissenschaft erstattet. Es sei damals festgestanden, dass H* R* einer langjährigen Bleiexposition ausgesetzt gewesen sei. Im Rahmen einer mehrmaligen Mobilisationsbehandlung und Chelat‑Therapie sei dreimal eine erhöhte Bleiausleitung festgestellt worden. Die Kombination der klinischen Symptomatik mit der langjährigen Bleiexposition und der anfänglichen Erhöhung der Bleiausscheidung hätte dazu geführt, dass eine Wahrscheinlichkeit von 80 % für eine chronische Bleivergiftung bis 1997 angegeben habe werden können. Dieses Ergebnis decke sich mit dem Ergebnis des Gutachtens des weiters beigezogenen Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Umweltmedizin. Auch dieser Sachverständige habe ausgeführt, dass bei H* R* eine chronische Bleiintoxikation anzunehmen sei. Jedenfalls hafte er nicht dafür, dass die im Vorprozess der Stadtgemeinde F* zugesprochenen Verfahrenskosten von H* R* nicht einbringlich seien.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Dabei ging es im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:

Mit Beschluss vom 25. 3. 1997 bestellte das Landesgericht Klagenfurt vorerst den Sachverständigen für das Fachgebiet der Chemie Dr. * M* und beauftragte ihn mit der schriftlichen Gutachtenserstellung über die Bleibelastung des zum Hause der H* R* zugeleiteten Wassers in der Zeit bis zum Austausch des Zuleitungsrohres aus Blei durch ein Plastikrohr. Mit Beschluss vom 31. 10. 1997 bestellte das Landesgericht Klagenfurt weiters den Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Umweltmedizin Dr. D* S* und erteilte diesem ua den Auftrag, zu beurteilen, ob die von der Klägerin behaupteten Erkrankungen (Kopfschmerzen, Eisenmangelanämie, Schwindel, Übelkeit, verminderte Leistungsfähigkeit, Magen‑Darmbeschwerden etc) auf eine Bleibelastung durch Trinkwasser oder auf andere Ursachen zurückzuführen seien. Der Sachverständige Dr. S* gelangte zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass eine chronische Bleiintoxikation bei H* R* mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei, die Beweiskette allerdings nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. M* nicht geschlossen werden könne, weil die möglichen täglichen Aufnahmen von Blei in den Organismus zu gering gewesen wären.

Mit Schreiben des Amtes der Kärntner Landesregierung (Abteilung Umweltschutz und Technik, Unterabteilung Gewässerökologie) vom 28. 1. 1998 wurde mitgeteilt, dass Laborversuche über die Bleibelastung von Wasser durch Bleirohre durchgeführt worden seien und aufgrund dieser Versuche davon auszugehen sei, dass H* R* über das Trinkwasser täglich 0,8 bis 1 Milligramm Blei aufgenommen habe. Nach einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Chemie Dr. M*, der Einvernahme des die Untersuchungen der Kärntner Landesregierung durchführenden Zeugen und der Parteieneinvernahme der H* R* führte der Sachverständige Dr. S* aus, dass bei Annahme der Richtigkeit der Aufnahme von täglich 0,5 Milligramm Blei die Beweiskette nunmehr geschlossen wäre. Zwar sei nicht beantwortbar, ob mit einer täglichen Aufnahme von 0,5 Milligramm Blei die Bleivergiftung, wie sie tatsächlich festgestellt wurde, entstanden sein konnte. Er komme aber auf andere Weise zum Ergebnis des Gutachtens, nämlich dass gewisse Symptome bei H* R* festgestellt worden seien, die auf eine Bleivergiftung hinweisen und keine andere Aufnahmequelle als das Bleirohr festzustellen gewesen sei. Die unübliche Zusammensetzung der verschiedenen Krankheitssymptome sprächen für eine Bleivergiftung. Nachdem das Bleirohr entfernt worden sei, habe H* R* eine Bleiausleitungstherapie (Ausscheidung des mobilisierten Bleis über den Harn) absolviert. Dennoch leide sie immer noch an verschiedenen Krankheitssymptomen, die auf die früheren Bleibelastungen zurückgeführt werden können.

Entsprechend dem ihm vom Landesgericht Klagenfurt erteilten Gutachtensergänzungsauftrag vom 14. 12. 1998 gelangte der Sachverständige Dr. M* aufgrund der bisherigen Beweisergebnisse und der Aussage der H* R* als Partei nunmehr zu dem Ergebnis, als wahrscheinlichste Variante für die Bleiaufnahme sei eine wasserbürtige Tagesaufnahme von 56 bis 107 Mikrogramm Blei pro Tag anzunehmen.

Mit Beschluss vom 26. 8. 1999 bestellte das Landesgericht Klagenfurt den nunmehrigen Beklagten zum Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Inneren Medizin. Dieser war und ist als Sachverständiger für das Fachgebiet Innere Medizin, insbesondere Nephrologie, Rheumatologie, Intensivmedizin, Gastroenterologie und Hepatologie sowie Hämatologie‑Onkologie in die Liste der Sachverständigen eingetragen. Er war nach seiner universitären Ausbildung eineinhalb Jahre an der Pharmakologie und Toxikologie und danach 15 Jahre an der Abteilung für Innere Medizin der Universitätsklinik Innsbruck tätig. Er arbeitete drei Monate in einem amerikanischen Stammzellenlabor und ist seit 1991 Primararzt an einer medizinischen Abteilung eines Landesklinikums. Im Zuge seiner Ausbildung an der Pharmakologie und insbesondere an der Toxikologie der Universitätsklinik hatte er mit Vergiftungen zu tun. Er behandelte auch einzelne bleivergiftete Patienten. Er ist im internistischen Fachgebiet bei Fortbildungen sehr aktiv. Arbeitsmedizinische Fortbildungsveranstaltungen besuchte er jedoch nicht.

Das Landesgericht Klagenfurt erteilte dem Beklagten den Auftrag ua ein schriftliches Gutachten darüber zu erstatten,

1. ob H* R* an einer Bleivergiftung oder Bleibelastung gelitten hat oder auch noch leidet,

2. welche Erkrankungen diese Bleivergiftung oder Bleibelastung zur Folge hatte oder auch noch hat,

3. ob und wann H* R* eine Bleiausscheidungsbehandlung erhalten hat ... und über das Ergebnis dieser Behandlungen. ...

Das Gutachten sollte aufgrund einer eingehenden Untersuchung der H* R* und der von ihr vorgelegten Befunde sowie unter Berücksichtigung des Gutachtens des Sachverständigen für Umweltmedizin Dr. D* S* und des Gutachtens des Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Chemie Dr. M* und der bisherigen Verhandlungsprotokolle erstattet werden; es sollte zu den von H* R* vorgelegten Befunden über die Bleibelastung und den diesen zugrunde liegenden Untersuchungsmethoden eingehend Stellung genommen werden.

Der Beklagte kam in seinem Gutachten zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass

1. bei H* R* eine langjährige Bleibelastung vorliege,

2. die erhöhte Bleiausscheidung für eine vermehrte Bleispeicherung im Körper spreche, wohingegen der Blutbleispiegel kein so gutes Maß für die chronische Belastung sei wie das mobilisierte Blei bei der Therapie mit Chelat‑Bildnern (Ausscheidung des mobilisierten Bleis über den Harn),

3. die wahrscheinlichste Ursache für diese vermehrte Bleibelastung das zwischenzeitlich entfernte Bleirohr sei,

4. ...

5. bei der Patientin Symptome bestünden, die mit einer chronischen Bleiintoxikation in Einklang zu bringen seien.

Im Rahmen der mündlichen Erörterung seines Gutachtens führte der Beklagte weiters aus, H* R* habe bei ihrer Bleiausleitung gegenüber einem gesunden Menschen einem um das 5‑fache erhöhten Wert gehabt, das heißt ein gesunder Mensch habe einen Bleigehalt im Harn bei einer Bleiausleitung bis 50 µg/g Kreatinin, während H* R* einen solchen bis zu 245 µg/g Kreatinin hatte (im Jahr 1996). Bei der späteren Ausleitung seien die Werte bei H* R* wesentlich geringer gewesen. In der Medizin gehe man zwar davon aus, dass 10‑fach erhöhte Werte einen sicheren Beweis dafür bieten, dass dieser Mensch einer Bleivergiftung ausgesetzt gewesen sei. Dennoch könne gesagt werden, dass eine Bleivergiftung bei H* R* sehr wahrscheinlich gewesen sei. Weiters führte der Beklagte aus, die sich aus den Befunden ergebenden normalen Bleiwerte im Blut und Harn würden nicht gegen die Annahme einer Bleivergiftung sprechen, weil es möglich sei, dass das Blei in den Knochen abgelagert und nicht mobilisiert sei, daher nicht mehr im Blut enthalten sei. Letztlich führte der Sachverständige im Rahmen der mündlichen Erörterung aus, dass die festgestellten Symptome im Zusammenhang mit den Bleiausleitungswerten insbesondere des Jahres 1996 für eine hohe Wahrscheinlichkeit einer chronischen Bleibelastung und Bleivergiftung sprechen. Am aussagekräftigsten sei sicher der hohe Bleiausleitungswert des Jahres 1996. Es sei eine Wahrscheinlichkeit von 80 % dafür gegeben, dass alle bei H* R* aufgetretenen Symptome durch eine Bleibelastung ausgelöst worden seien.

Der Beklagte sah keine Notwendigkeit der Beiziehung zusätzlicher allenfalls arbeits‑ und/oder umweltmedizinischer Subgutachter.

Aufgrund des im vorliegenden Verfahren eingeholten arbeitsmedizinisch‑internistischen Gutachtens des Sachverständigen Univ.‑Prof. Dr. C* W* (eines Facharztes für Innere Medizin sowie für Arbeits‑ und Betriebsmedizin) ist nunmehr davon auszugehen, dass bei H* R* keine langjährige Bleiintoxikation bestanden hat. Zur Frage, ob der Beklagte im Vorverfahren unrichtige Schlussfolgerungen gezogen habe, stellte das Erstgericht aufgrund der Ausführungen von Univ.‑Prof. Dr. W* fest, dass die Schlussfolgerung des Beklagten aus fachspezifischer Sicht tatsächlich nicht nachvollziehbar sei. Der Beklagte stützte seine Erkenntnisse in erster Linie auf die Ergebnisse des sogenannten Ausschwemmungstests („Mobilisationstest“ mit Komplexbildnern = Chelat‑Bildnern). Im arbeits- und umweltmedizinischen Fachbereich besteht jedoch weitgehend Einigkeit, dass diese Mobilisationstests keine Erkenntnisse hinsichtlich chronischer Metallvergiftungen bringen. Ausreichend begründete Referenz‑ bzw Grenzwerte sind nicht gegeben. Die verlässlichste Methode, einen vermehrten Bleibestand festzustellen, wäre die Röntgenfluoreszenzanalyse des Knochengewebes. Diese Methode ist jedoch in Österreich im klinischen Betrieb nicht verfügbar. Symptome einer Bleivergiftung treten in aller Regel erst ab Blutbleispiegeln von 70 Mikrogramm pro Deziliter auf. Da H* R* offenbar niemals pathologisch erhöhte Blutbleispiegel hatte, wird sich auch keine erhöhte Bleiexposition ergeben können. Zu der Frage, ob auch ein durchschnittlich sorgfältiger Sachverständiger aus dem Fachgebiet der Inneren Medizin die unrichtigen Schlussfolgerungen getroffen hätte, stellte das Erstgericht aufgrund der Ausführungen von Univ.‑Prof. Dr. W* fest, dass die Diagnose bzw Therapie von Bleivergiftungen in einen Überschneidungsbereich zwischen Innerer Medizin, Arbeitsmedizin und klinischer Umweltmedizin fällt, wobei das Schwergewicht auf den zuletzt genannten Fächern liegt. Vor allem der Fachbereich der Arbeitsmedizin ist routinemäßig mit dem Monitoring von Bleibelastungen betraut. Zum Zeitpunkt der Gutachtenserstellung waren im Fachbereich der Inneren Medizin die Fachkenntnisse in den Fachbereichen Umwelt‑ und Arbeitsmedizin generell nur äußerst spärlich vorhanden. Ausgehend vom Jahr 2000 war es Vertretern des Fachbereichs Innere Medizin schwerlich möglich, verschiedene diagnostische Verfahren valide zu bewerten (zumal der Kenntnisstand des Jahres 2000 zu berücksichtigen ist). Während in den älteren Lehrbüchern der Inneren Medizin Mobilisationstests zur Abklärung chronischer Bleivergiftungen empfohlen werden und auch im Handbuch der Umweltmedizin die Durchführung sogenannter Mobilisationstests für bestimmte Fragestellungen angeregt wird, wird von der auf Arbeitsmedizin spezialisierten Literatur bereits seit über zehn Jahren beschrieben, dass Mobilisationstests zur Abklärung von Bleivergiftungen verzichtbar seien. Im Zeitraum von 1980 bis 2000 wurden aber durchaus Empfehlungen publiziert, Mobilisationstests durchzuführen. Somit existierten im Jahr 2000 im Fachbereich Innere Medizin nur spärliche und überaus widersprüchliche Literaturangaben zur Sinnhaftigkeit von Mobilisationstests im Rahmen der Diagnostik von Bleivergiftungen. Die Unterscheidung zwischen Bleivergiftung und vermehrtem Bleibestand kann für Vertreter anderer medizinischer Fächer als der klinischen Umweltmedizin bzw Arbeitsmedizin eine zu spezielle Frage sein, die ohne tiefergehende Kenntnisse und Erfahrung auf dem Gebiet der Bleiintoxikation schwerlich zu beantworten ist. Ein durchschnittlich sorgfältiger Sachverständiger aus dem Fachgebiet der Inneren Medizin ‑ auch ein habilitierter ‑ wäre deshalb zu einer ebensolchen Fehlinterpretation der Befunde der H* R* gekommen wie der Beklagte. Der Beklagte hätte richtigerweise zum Ergebnis kommen müssen, dass eine erhöhte Bleiausscheidung allein kein Beweis für eine Bleiintoxikation sein kann. Um diese Schlussfolgerung treffen zu können, müsste man jedoch speziell ausgebildet sein. Mit einer bloßen abgeschlossenen Facharztausbildung kann diese Frage nicht beantwortet werden.

Rechtlich würdigte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahingehend, dass ein Sachverständiger auch zur Haftung herangezogen werden könne, wenn ihm wegen seiner mangelnden Fähigkeiten kein subjektiver Vorwurf gemacht werden könne. Jeder, der eine besondere Tätigkeit ausübe, müsse auch dafür einstehen, dass er die dafür nötigen Fähigkeiten habe. Es habe im vorliegenden Fall jedoch festgestellt werden können, dass ein durchschnittlich sorgfältiger Sachverständiger aus dem Gebiet der Inneren Medizin ‑ auch ein habilitierter ‑ zu einer ebensolchen Fehlinterpretation der Befunde gekommen wäre wie der Beklagte. Damit fehle es an einer Sorgfaltsverletzung. Auch ein maßgerechter Fachmann in der konkreten Situation des Beklagten hätte sich so verhalten wie dieser.

Das Berufungsgericht änderte über Berufung der Klägerin das Ersturteil dahingehend ab, dass es dem Klagebegehren mit Teilurteil im Umfang von 8.430,05 EUR samt 4 % Zinsen seit 1. 7. 2013 stattgab und das Zinsenbegehren von 4 % Zinsen aus 91.631,43 EUR vom 12. 6. 2013 bis 30. 6. 2013 abwies. Im Übrigen (hinsichtlich der Abweisung von 83.201,38 EUR sA und der Kostenentscheidung) hob das Berufungsgericht das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache an das Erstgericht zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung zurück. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision und der Rekurs zur möglichen Rechtsentwicklung über die Voraussetzungen der Haftung eines Sachverständigen nach § 1299 ABGB zulässig seien. Rechtlich ging das Berufungsgericht nach Verwerfung der Mängel‑ und Beweisrüge im Wesentlichen davon aus, dass dem Beklagten eine Übernahmefahrlässigkeit zur Last zu legen sei, da er es unterlassen habe, seine Fachkompetenz zum Gutachtensauftrag kritisch zu hinterfragen, weshalb er für die durch seine Gutachtenserstattung eingetretenen Schäden hafte. Für einen im Rahmen der Rechtspflege bestellten Sachverständigen bestehe ein besonders hoher objektiver Sorgfaltsmaßstab. Der Beklagte habe im Vorverfahren die Klägerin durch sein schuldhaft unrichtiges Gutachten zur Zahlung von zumindest 116.000 ATS an H* R* veranlasst. Dass Feststellungen über deren Vermögenssituation fehlen, stehe der Erlassung eines Teilurteils nicht entgegen, weil der durch ein Sachverständigengutachten veranlasste Irrtum über das Bestehen einer vergleichsweise anerkannten Klageforderung ein unbeachtlicher Motivirrtum sei. Den Feststellungen lasse sich zur Höhe lediglich entnehmen, dass die Klägerin 7.339,96 EUR (101.000 ATS) an Kapital und umgerechnet 1.090,09 EUR (15.000 ATS) an Zinsen und Kosten bezahlt habe. Über diese Beträge sei daher sogleich mit Teilurteil zu entscheiden gewesen. Im Übrigen fehlten jedoch ergänzende Feststellungen, weshalb das angefochtene Urteil im übrigen Umfang aufzuheben gewesen sei.

Die Klägerin erhob gegen diese Entscheidung kein Rechtsmittel, sodass die Abweisung des Zinsenbegehrens in Rechtskraft erwuchs.

Der Beklagte beantragte in seiner gegen das Teilurteil gerichteten Revision und in seinem gegen den aufhebenden Teil der Entscheidung gerichteten Rekurs, das Klagebegehren im Umfang des Teilurteils abzuweisen und den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts dahingehend abzuändern, dass das Ersturteil wiederhergestellt werde.

Die Klägerin beantragte in ihrer Revisions‑ und Rekursbeantwortung, die beiden Rechtsmittel jeweils als unzulässig zurückzuweisen bzw ihnen keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision und der Rekurs sind aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig und auch berechtigt.

Der Beklagte macht in seinem Rechtsmittel zusammengefasst geltend, eine Übernahmefahrlässigkeit sei ihm nicht vorwerfbar. Das Fachgebiet der Inneren Medizin befasse sich mit Bleiintoxikationen und der Behandlung von Patienten mit Bleiintoxikationen. Auch er selbst habe bereits Patienten mit derartigen Vergiftungen behandelt. Seine Sorgfalt als Sachverständiger sei am erteilten Gutachtensauftrag zu messen, der ausdrücklich die Berücksichtigung des umweltmedizinischen Gutachtens erforderte, dessen Ergebnis sich mit seinem eigenen Gutachten im Wesentlichen decke. Bezogen auf den Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens im Jahr 1999/2000 sei die von ihm bei der Gutachtenserstellung angewandte Methode, die bei H* R* festgestellten Krankheitssymptome im Zusammenhalt mit den Bleiausleitungswerten ‑ insbesondere den erhöhten Werten im Jahr 1996 ‑ als maßgeblich zu erachten, nicht inadäquat gewesen. Das Berufungsgericht habe den zur Beurteilung heranzuziehenden objektiven Maßstab des durchschnittlich in der Branche zu erwartenden Wissens bzw den Leistungsstandard seiner Berufsgruppe überspannt. Allenfalls wären korrespondierende Feststellungen zur Frage zu treffen gewesen, inwieweit in den Jahren 1999/2000 auch ein durchschnittlich sorgfältiger Sachverständiger aus dem Fachgebiet der Arbeitsmedizin oder der klinischen Umweltmedizin zum richtigen Gutachtensergebnis gelangt wäre oder ob nicht auch einem arbeitsmedizinischen Sachverständigen im Jahr 2000 eine ebensolche Fehlinterpretation der Befunde unterlaufen wäre. Im Übrigen habe er gegenüber dem Gericht kein auf „sicher“ lautendes Kalkül abgegeben, sondern nur auf eine hohe (80%ige) Wahrscheinlichkeit abgestellt.

Dazu ist auszuführen:

1.1 Nach § 1299 ABGB muss sich ein Sachverständiger, der sich öffentlich zu einem Amt, einer Kunst, einem Gewerbe oder Handwerk bekennt oder der ohne Not freiwillig ein Geschäft übernimmt, dessen Ausführung eigene Kunstkenntnisse oder einen nicht gewöhnlichen Fleiß erfordert, den Mangel dieser besonderen Voraussetzungen zurechnen lassen.

1.2 Durch § 1299 ABGB wird der Sorgfaltsmaßstab auf den Leistungsstandard der jeweiligen Berufsgruppe erhöht (RIS‑Justiz RS0026541). Dabei geht es um den durchschnittlichen Fachmann des jeweiligen Gebiets, wobei der Sorgfaltsmaßstab nicht überspannt werden darf (RIS‑Justiz RS0026535). Innerhalb von Berufsgruppen sind weitere Differenzierungen notwendig, so zB bei Ärzten nach einem in Ausbildung befindlichen Arzt und einem bereits ausgebildeten Facharzt (2 Ob 599/85) oder auch nach einem Facharzt des jeweiligen medizinischen Fachgebiets. Selbst innerhalb eines medizinischen Fachgebiets werden weitere Differenzierungen nötig sein, wie etwa Herzchirurgie, Unfallchirurgie etc (Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1299 Rz 2). Es kommt somit auf die übliche Sorgfalt jener Personen an, die die betreffende Tätigkeit ausüben (RIS‑Justiz RS0026524). Maßstab ist nicht die spezifische individuelle Erfahrung eines Mitglieds einer bestimmten Untergruppe eines Berufszweigs, sondern das durchschnittlich in der Branche zu erwartende Wissen (RIS‑Justiz RS0026535 [T13] = 7 Ob 82/14f).

1.3 Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass nur der jeweilige zum Zeitpunkt der Ausübung der Tätigkeit geltende Leistungsstandard maßgeblich ist, mag sich der Wissensstand auch zwischenzeitig vertieft, erweitert oder geändert haben.

2. Auch ein vom Gericht bestellter Sachverständiger, der im Zivilprozess ein unrichtiges Gutachten erstattet, haftet den Parteien gegenüber persönlich und unmittelbar nach den §§ 1295, 1299 ABGB für den dadurch verursachten Schaden (RIS‑Justiz RS0026360; RS0026319 [T5]). Ein (Übernahme‑)Verschulden wird dann begründet, wenn ein Sachverständiger außerhalb seiner Fachkompetenz liegende Tätigkeiten übernimmt, obwohl er wusste, dass es an den hiezu erforderlichen Fähigkeiten fehlt (RIS‑Justiz RS0026199). Die Übernahme weiterer Aufgaben bewirkt eine Erweiterung der Sorgfalts‑ und Aufklärungspflichten (RIS‑Justiz RS0026557). Übernimmt etwa ein Arzt eine Behandlungstätigkeit, die eine höhere oder andere Qualifikation als die an sich bei ihm vorausgesetzte erfordert, so hat er für die höhere Qualifikation einzustehen, sofern nicht Gefahr im Verzug gegeben ist (Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1299 Rz 25).

3.1 Nach den im vorliegenden Fall getroffenen Feststellungen fällt die Diagnose und Therapie von Bleivergiftungen sowie die Gutachtenserstellung darüber unstrittig (auch) in den Bereich der Inneren Medizin; sie ist nicht allein Ärzten aus den Fachbereichen der klinischen Umweltmedizin oder Arbeitsmedizin vorbehalten. Die Besonderheit besteht aber darin, dass sich ‑ historisch gesehen ‑ die Fächer Arbeitsmedizin und klinische Umweltmedizin aus dem Bereich der Inneren Medizin entwickelt und zunehmend abgegrenzt haben (siehe Seite 7 des von Univ.‑Prof. Dr. W* erstellten Gutachtens), sodass die Diagnose und Therapie von Bleivergiftungen in einen Überschneidungsbereich zwischen Innerer Medizin, Arbeitsmedizin und klinischer Umweltmedizin fällt, wobei das Schwergewicht auf den zuletzt genannten Fächern liegt. Vor allem der Fachbereich der Arbeitsmedizin ist routinemäßig mit dem Monitoring von Bleibelastungen betraut.

3.2 Im Hinblick auf diese Überschneidung der Fachbereiche ist zu beurteilen, ob allein der objektive Wissensstand eines Sachverständigen der Inneren Medizin als maßgebender Sorgfaltsmaßstab heranzuziehen ist oder auch jener eines umwelt‑ oder arbeitsmedizinischen Sachverständigen (bezogen auf den Zeitpunkt der Gutachtenserstellung).

3.3 Zum Sorgfaltsmaßstab eines Sach-verständigen der Inneren Medizin steht fest, dass im Fachbereich der Inneren Medizin zum Zeitpunkt der Gutachtenserstellung die Fachkenntnisse in den Fachbereichen Umwelt‑ und Arbeitsmedizin generell nur äußerst spärlich vorhanden waren, sodass es ausgehend vom Jahr 2000 Vertretern des Fachbereichs Innere Medizin schwerlich möglich war, verschiedene diagnostische Verfahren valide zu bewerten. Weiters steht fest, dass die Unterscheidung zwischen Bleivergiftung und vermehrtem Bleibestand für Vertreter anderer medizinischer Fächer als der klinischen Umweltmedizin bzw Arbeitsmedizin eine zu spezielle Frage sein kann, die ohne tiefergehende Kenntnisse und Erfahrung auf dem Gebiet der Bleiintoxikation schwerlich zu beantworten ist. Ein durchschnittlich sorgfältiger Sachverständiger aus dem Fachgebiet der Inneren Medizin ‑ auch ein habilitierter ‑ wäre demnach zu einer ebensolchen Fehlinterpretation der Befunde gekommen, wie der Beklagte.

3.4.1 Aus diesen Festellungen ist vorerst abzuleiten, dass der damalige Wissensstand des Beklagten in seiner Funktion als Sachverständiger für Innere Medizin vom durchschnittlichen Wissensstand eines Vertreters seines Fachgebiets nicht abgewichen ist.

3.4.2 Zugleich folgt aber aus diesen Feststellungen, dass bei Gutachtenserstellung in solchen Fällen neben den Kenntnissen bzw der Qualifikation eines Facharztes für Innere Medizin auch Kenntnisse, Erfahrungen und Qualifikationen eines Umweltmediziners bzw jene eines Facharztes für Arbeitsmedizin gefordert sind, dies zumindest in dem Umfang, als der „Überschneidungsbereich“ betroffen ist. Hat der Beklagte (ohne Notwendigkeit) die vorliegende Gutachtenstätigkeit übernommen, die im Vergleich zu einer ausschließlich in das Fachgebiet der Inneren Medizin fallenden Gutachtertätigkeit einen höheren Wissens‑ bzw Erfahrungsstand erfordert, ist als objektiver Sorgfaltsmaßstab demnach auch der objektive Wissensstand eines umwelt‑ oder arbeitsmedizinischen Sachverständigen auf dem Gebiet der Bleiintoxikationen heranzuziehen (vgl Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1299 Rz 25).

3.5 Maßgeblich kann freilich nur der zum Zeitpunkt der Gutachtenserstellung in diesen Fachbereichen herrschende Wissensstand sein. Erst später hinzugekommene Erfahrungswerte und neu erlangte Erkenntnisse haben außer Betracht zu bleiben.

4.1 Im Hinblick auf diese zeitliche Komponente bzw die zwischenzeitig eingetretene Veränderung des Erkenntnisstands ist jedoch ‑ auch bei Anwendung des erhöhten (erweiterten) Sorgfaltsmaßstabs ‑ ein Verschulden des Beklagten zu verneinen:

4.2 Zu den Kernaufgaben des Sachverständigen gehört es, aufgrund der einschlägigen Fachkenntnisse jene Methode auszuwählen, die sich zur Klärung der nach dem Gutachtensauftrag jeweils maßgebenden strittigen Tatfrage am besten eignet (RIS‑Justiz RS0119439 [T2]). Nach der zur Haftung wegen ärztlicher Behandlung ergangenen Rechtsprechung handelt der Arzt dann nicht fahrlässig, wenn die von ihm gewählte Methode einer Praxis entspricht, die von angesehenen, mit dieser Methode vertrauten Medizinern anerkannt ist, selbst wenn ebenfalls kompetente Kollegen eine andere Methode bevorzugt hätten. Eine Methode kann somit grundsätzlich so lange als fachgerecht angesehen werden, wie sie von einer anerkannten Schule medizinischer Wissenschaft vertreten wird (RIS‑Justiz RS0026324).

4.3 Zu der vom Beklagten als maßgeblich für seine gutachterlichen Schlüsse erachteten Methode der sogenannten Ausschwemmungstests („Mobilisationstest“) mit Komplexbildnern (Chelat‑Bildnern) steht fest, dass diese nach dem heutigen (fast 15 Jahre späteren) Wissensstand keine Erkenntnisse über chronische Metallvergiftungen bringen. Der Sachverständige Univ.‑Prof. Dr. W* führte in seinem Gutachten ‑ allerdings in Zusammenhang mit Amalgam‑ bzw Quecksilberbelastungen ‑ ua aus, dass eine von ihm geleitete Arbeitsgruppe zur Erkenntnis gelangt sei, dass Mobilisationstests nicht sinnvoll und konsequenterweise daher auch nicht mehr durchzuführen wären (Gutachten Seite 8). Ein Literaturüberblick zum Wissensstand des Jahres 2000 habe jedoch erbracht, dass im Zeitraum 1980 bis 2000 (also auch zum Zeitpunkt der Erstattung des Gutachtens) noch durchaus Empfehlungen zur Durchführung derartiger Tests publiziert worden waren. So erwähne das Handbuch für Umweltmedizin ebenso Mobilisationstests zum Nachweis chronischer Bleivergiftungen wie eine Habilitationsschrift. Von der auf Arbeitsmedizin spezialisierten Literatur werde aber bereits vor über zehn Jahren beschrieben, dass Mobilisationstests zur Abklärung von Bleivergiftungen verzichtbar seien (Gutachten Seite 9 f).

Aus diesen Ausführungen bzw Feststellungen ergibt sich, dass nach dem entscheidungswesentlichen Wissensstand der Jahre 1999 und 2000 in den maßgeblichen Fachbereichen keine einhellige Lehrmeinung zur Sinnhaftigkeit und Aussagekraft von Mobilisationstests zur Abklärung von Bleivergiftungen bestand, sondern innerhalb der Fachbereiche divergierende Standpunkte vertreten wurden. Wurde diese Methode im Jahr 2000 noch in einem Handbuch für Umweltmedizin vertreten, ist sie ‑ bezogen auf den damaligen Zeitpunkt ‑ noch als fachgerecht anzusehen (RIS‑Justiz RS0026324). Vor diesem Hintergrund kann dem Beklagten ‑ auch ausgehend von dem erhöhten Sorgfaltsmaßstab ‑ nicht als Verschulden zugerechnet werden, er hätte eine dem damaligen Wissensstand nicht entsprechende Untersuchungsmethode angewendet. Ein Verschulden wäre nur dann anzunehmen, wenn bereits in den Jahren 1999 und 2000 für jeden anderen Sachverständigen mit dem zu fordernden durchschnittlichen Wissensstand in den Gebieten der Inneren Medizin, der Umwelt‑ und Arbeitsmedizin die mangelnde Aussagekraft der Methode der Bleiausleitung mit Chelat‑Bildnern zur Diagnose von Bleivergiftungen und die Unrichtigkeit darauf aufgebauter gutachterlicher Schlussfolgerungen erkennbar gewesen wäre.

4.4 Entsprach der Mobilisationstest zur Abklärung von Bleivergiftungen (noch) dem damaligen Standard, so ist dem Beklagten auch keine Fahrlässigkeit im Hinblick auf den ihm bei Gutachtenserstellung vorliegenden Befund der Universitätsklinik für Innere Medizin IV‑Abteilung für Arbeitsmedizin vom 14. 2. 1995 (Blg ./G) vorzuwerfen, nach welchem anamnestisch keine Hinweise für eine klinisch relevante chronische Bleibelastung bestanden. Seine Schlussfolgerung, die sich aus diesem Befund ergebenden normalen Bleiwerte im Blut und Harn sprächen nicht gegen eine Bleivergiftung, entsprach der von ihm vertretenen Ansicht, die Werte nach einer Bleiausleitung seien zur Diagnose einer chronischen Bleivergiftung aussagekräftiger als Blut‑ und Harnbleiwerte. Dass nach dem zwischenzeitig geänderten Wissensstand dem Blutbleispiegel nunmehr doch Relevanz beigemessen wird, hat ‑ wie bereits ausgeführt ‑ außer Betracht zu bleiben.

5. Gerade so wie ein Rechtsanwalt seiner Partei nicht haftet, wenn ein von ihm eingenommener, an sich vertretbarer Standpunkt in der Folge von der Rechtsprechung nicht geteilt wird, haftet auch ein Sachverständiger nicht, wenn ein nach den Regeln der Wissenschaft erarbeitetes Gutachten in der Folge nicht standhält (1 Ob 605/84).

Der Revision und dem Rekurs des Beklagten war daher Folge zu geben und das klageabweisliche Ersturteil, das in seinem nicht angefochtenen abweisenden Teil (hinsichtlich des Zinsenbegehrens) unberührt blieb, wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

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