AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
VwGVG §29 Abs5
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:W280.2277420.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Wolfgang BONT über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX 1992, StA. Russische Föderation, vertreten durch Mag. Andreas LEPSCHI, Rechtsanwalt in 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 07.2023, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX 06.2024 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetz die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
II. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge als BF bezeichnet), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste am XXXX 11.2022 per Flugzeug nach Österreich und stellte am selben Tag im internationalen Transitbereich des Flughafens Wien-Schwechat einen Antrag auf internationalen Schutz.
Am XXXX 11.2022 wurde der BF vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und gab dabei insbesondere an, am XXXX 11.2022 einen Einberufungsbefehl bekommen zu haben. Er wolle jedoch nicht am Krieg teilnehmen und im Auftrag von Russland unschuldige Menschen töten. Es würden vor allem Leute einen Einberufungsbefehl bekommen, die den Behörden bekannt oder unerwünscht seien. Er habe auch Probleme mit den Behörden gehabt, weil er eine Wohnung in der Nähe einer (Anm.: neu errichteten) Moschee gemietet habe und ihm vorgeworfen worden sei, dass er am Eröffnungstag etwas anstellen könnte. Er sei zwei Tage eingesperrt, verhört, geschlagen und gequält worden.
2. Am XXXX 11.2022 fand eine niederschriftliche Einvernahme des BF im Zulassungsverfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA oder belangte Behörde) statt. Dabei gab der BF ergänzend zu seinen Angaben im Rahmen der Erstbefragung an, dass die Regierung weiterhin Einberufungsbefehle verschicke, obwohl die Mobilisierung eingestellt sei. Zudem führte er erneut aus, sein Heimatland verlassen zu haben, weil er einen Einberufungsbefehl bekommen habe und nicht in den Krieg ziehen wolle sowie, dass er bereits einmal von der Polizei mitgenommen worden sei. Weiters legte der BF seinen russischen Auslandsreisepass sowie den Einberufungsbefehl in Kopie vor.
3. Am XXXX 03.2023 fand eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem BFA statt. In dieser gab der BF im Wesentlichen an, am XXXX 11.2022 eine Ladung erhalten zu haben und er hätte in den Krieg ziehen müssen. Dies habe er jedoch nicht gewollt, da er niemanden umbringen und auch sein eigenes Leben nicht habe riskieren wollen. Die Mobilisierung in Russland sei zwar eingestellt, dauere jedoch in Tschetschenien weiter an. Leute, die bereits zuvor Probleme hatten, seien mitgenommen und gezwungen worden, zu unterschreiben, dass sie freiwillig in den Krieg ziehen. Auch er gehöre zu den Personen, die bereits Probleme gehabt hätten. Im September 2020 habe er eine Wohnung in der Nähe einer neuen Moschee gemietet. Er sei von Mitarbeitern einer Behörde mitgenommen worden und zwei Tage lang gefoltert worden, da man ihn dazu bringen habe wollen, ein Geständnis abzulegen, dass er bei der Moschee eine Sprengung oder Ähnliches habe machen wollen.
4. Mit dem oben angeführten, nunmehr angefochtenen Bescheid vom XXXX 07.2023 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass die vom BF angegebenen Gründe für das Verlassen seines Heimatlandes nicht maßgeblich asylrelevant seien. Dass der BF in der Russischen Föderation asylrelevante Verfolgung oder Gefährdung ausgesetzt (gewesen) sei oder ihm dies in der Zukunft drohe, habe nicht festgestellt werden können. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass der BF dort Gefahr liefe unmenschlicher Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Der gesunde, volljährige, gebildete und arbeitsfähige BF habe sich bereits zuvor als XXXX seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation finanziert sowie den Großteil seines Lebens dort verbracht und sei mit den Gepflogenheiten seines Heimatlandes vertraut. Auch würden seine Mutter und Geschwister nach wie vor in seinem Heimatort leben, sodass er auch von diesen unterstützt werden könne und über ein soziales Netzwerk in der Russischen Föderation verfüge. Dem BF sei es sohin bei einer Rückkehr zumutbar, sich seinen Lebensunterhalt zu sichern und würde er nicht in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten. Auch verfüge der BF weder über ein intensives Familienleben noch über ein schützenswertes Privatleben in Österreich.
5. Gegen diesen Bescheid erhob der BF im Wege seiner Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, die belangte Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt und sei ihr zudem eine mangelhafte Begründung anzulasten. Der BF habe den Vorfall mit der Polizei im Jahr 2020 detailreich geschildert und sei ein Zusammenhang mit einer Rekrutierung vorstellbar. Zudem habe sich der BF einer Rekrutierung entzogen und hätte er auch deshalb mit brutalen Konsequenzen zu rechnen. Darüber hinaus pflege der BF eine sehr enge familiäre Bindung zu seiner im Bundesgebiet lebenden Schwester.
6. Am XXXX 08.2023 langte die gegenständliche Beschwerde samt dazugehörigem Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht (nachfolgend mit BVwG abgekürzt) ein. Mit der Beschwerdevorlage wurde vom BFA gleichzeitig beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
7. Mit Schreiben vom XXXX 06.2024 gab der BF im Wege seiner Rechtsvertretung bekannt, dass er beabsichtige, sich in der mündlichen Verhandlung erstmals zu seiner sexuellen Orientierung und der daraus befürchteten Verfolgung zu äußern. Gleichzeitig wurde das Gericht ersucht zur mündlichen Verhandlung einen Dolmetscher beizuziehen, der nicht der Volksgruppe der Tschetschenen angehörig sei. Zudem wurde das Wehrdienstbuch des BF samt Übersetzung in Kopie vorgelegt.
8. Am XXXX 06.2024 fand vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache, dem BF und seiner rechtsfreundlichen Vertretung statt, in welcher der BF ausführlich zu seinen Fluchtgründen und seinem Aufenthalt in Österreich befragt wurden. Die belangte Behörde nahm nicht an der Verhandlung teil.
9. Mit Schreiben seiner Rechtsvertretung vom XXXX 06.2024 nahm der BF zu den in der mündlichen Verhandlung durch den erkennenden Richter in das Verfahren eingebrachten Anfragenbeantwortungen Stellung. Zudem wurde der russische Inlandsreisepass des BF in Kopie vorgelegt, welcher schließlich am XXXX 06.2024 im Original beim BVwG einlangte.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
1.1.1. Der BF führt die im Spruch genannte Identität (Namen und Geburtsdatum); seine Identität steht fest. Er ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der Volksgruppe der Tschetschenen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islams. Seine Erstsprache ist Tschetschenisch, zudem spricht er Russisch und ein wenig Deutsch. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.
1.1.2. Der BF stammt aus dem Dorf XXXX in der Teilrepublik Tschetschenien der Russischen Föderation. Dort lebte er im Wesentlichen bis zu seiner Ausreise aus der Russischen Föderation im November 2022 durchgehend im Haus der Familie, welches im Eigentum seiner Mutter steht. Der BF besuchte elf Jahre die Schule und begann anschließend ein Studium an einer islamischen Universität, welches er jedoch nicht abschloss. In weiterer Folge stellte er XXXX her und machte Ausbildungen zum XXXX sowie zum XXXX . Das letzte Jahr vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation war der BF als XXXX tätig.
1.1.3. Die Mutter, die zwei Brüder sowie eine Schwester des BF leben nach wie im Haus der Familie im Heimatdorf des BF in der Teilrepublik in Tschetschenien, während eine Schwester in XXXX und eine Weitere in XXXX lebt. Der BF steht regelmäßig in Kontakt mit diesen. Der Vater des BF ist verstorben. Zudem verfügt der BF über zahlreiche weitere Verwandte in der Teilrepublik Tschetschenien.
Am XXXX 11.2022 reiste der BF unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein, stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz und ist seither durchgehend in Österreich aufhältig.
Eine Schwester des BF lebt mit ihrer Familie in Österreich. Der BF wird von dieser unterstützt und lebt im gemeinsamen Haushalt mit ihr und ihrer Familie.
1.1.4. Der BF ist gesund und arbeitsfähig sowie in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der BF ist homosexuell und ist dies den Behörden in der Russischen Föderation bekannt. Aufgrund dessen ist der BF in seinem Herkunftsland, der Russischen Föderation, Verfolgung ausgesetzt.
1.3. Zur maßgeblichen, entscheidungsrelevanten Situation in der Russischen Föderation:
1.3.1. Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus den vom BVwG herangezogenen Länderinformationen zur Russischen Föderation (Version 14 vom 12.06.2024) wiedergegeben:
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung 2023-06-29 09:39
Gemäß der Verfassung ist die Russische Föderation ein Rechtsstaat, Richter sind unabhängig, und Gerichtsverhandlungen sind mit Ausnahme gesetzlich geregelter Fälle öffentlich (Verfassungsartikel 1, 120 und 123). Die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes werden vom Föderationsrat auf Vorschlag des russischen Präsidenten ernannt. Mitglieder der anderen Gerichtshöfe auf föderaler Ebene werden vom russischen Präsidenten ernannt (Art. 128). Der Präsident der Russischen Föderation initiiert die Entlassung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes (Art. 83). Der Generalstaatsanwalt und sein Stellvertreter sowie die Staatsanwälte der Subjekte der Russischen Föderation werden nach Beratungen mit dem Föderationsrat vom russischen Präsidenten ernannt und von diesem entlassen (Art. 129). Föderale Gesetze gelten für das gesamte Territorium der Russischen Föderation. Gesetze und andere rechtliche Bestimmungen der Subjekte der Russischen Föderation dürfen föderalen Gesetzen nicht widersprechen. Im Falle eines Widerspruchs gilt das föderale Gesetz. Republiken haben ihre eigene Rechtsordnung, solange dadurch die Kompetenzen der Russischen Föderation unberührt bleiben (Verfassungsartikel 76) (Duma 6.10.2022). Gemäß dem Verfassungsartikel 79 werden Entscheidungen internationaler Institutionen, welche der Verfassung der Russischen Föderation widersprechen, in der Russischen Föderation nicht vollstreckt (Duma 6.10.2022; vgl. BPB 2.7.2020, KAS 7.2020).
Die Rechtsstaatlichkeit wird von Russlands politischer Führung oft untergraben, um die Stabilität des politischen Systems aufrechtzuerhalten (BS 2022). Gemäß dem Rechtsstaatlichkeitsindex des World Justice Project nimmt Russland aktuell den 107. Rang von insgesamt 140 Ländern ein und befindet sich zwischen den Ländern Libanon und Côte d'Ivoire (WJP o.D.). Das Justizwesen in Russland ist nicht unabhängig (SWP 19.4.2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022, FH 2023). In der Praxis wird die Justiz von der Exekutive kontrolliert (BS 2022; vgl. FH 19.4.2022). Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genügend Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB 30.6.2022). Richter des Verfassungsgerichtshofes dürfen ihre abweichenden Meinungen nicht öffentlich machen (UN-HRC 1.12.2022).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet grundsätzlich nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 28.9.2022). Das Justizwesen ist von Korruption befallen (BS 2022). Gemäß Berichten geraten seit Russlands Ukraine-Invasion Rechtsanwälte immer mehr ins Visier. Beispielsweise wird ihnen der Zugang zu Mandanten auf Polizeistationen und die Vertretung ihrer Mandanten bei Gerichtsverhandlungen verwehrt (EUAA 16.12.2022b). Es kommt vor, dass Rechtsanwälte ungerechtfertigten Disziplinarverfahren und strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sind, insbesondere, wenn sie Teilnehmer an Anti-Kriegsprotesten verteidigen (UN-HRC 1.12.2022). Es gibt Berichte über Anwälte, welche verhaftet wurden, weil sie Opfer politischer Repressionen unterstützt haben (EUAA 16.12.2022b).
Schutzmaßnahmen gegen willkürliche Verhaftung und andere Garantien zur Durchführung ordnungsgemäßer Verfahren werden regelmäßig verletzt (FH 2023). Gemäß den gesetzlichen Vorgaben dürfen Inhaftierte die Gesetzmäßigkeit ihrer Inhaftierung gerichtlich überprüfen lassen. Wegen der mangelnden Unabhängigkeit des Justizsystems schließen sich Richter für gewöhnlich der Ansicht des Ermittlers an und weisen Beschwerden Angeklagter ab. Angeklagte und ihre Rechtsvertreter müssen bei Gerichtsverhandlungen persönlich oder über Video anwesend sein. Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung sowie das Recht auf ein faires und öffentliches Gerichtsverfahren. Diese Rechte werden nicht immer respektiert (USDOS 20.3.2023). Vertreter der Opposition und der kritischen Zivilgesellschaft können in Ermittlungsverfahren und vor Gericht nicht auf eine faire Behandlung bzw. einen fairen Prozess vertrauen (AA 28.9.2022). Gerichtsverfahren enden sehr selten mit Freisprüchen (USDOS 20.3.2023). Das öffentliche Vertrauen in die Justiz ist gering (UN-HRC 1.12.2022; vgl. LZ 20.9.2022).
Es ist gesetzlich vorgesehen, dass Personen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen klagen können. Jedoch sind diese Mechanismen oft nicht effektiv (USDOS 20.3.2023). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Zunächst hatte der Europarat wegen des bewaffneten russischen Angriffs auf die Ukraine die Mitgliedschaftsrechte Russlands im Europarat suspendiert (Europarat 25.2.2022). Russland war dem Europarat 1996 beigetreten (Europarat 16.3.2022). Seit 16.9.2022 ist Russland keine Vertragspartei der vom Europarat geschaffenen Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mehr (Europarat 16.9.2022; vgl. Europarat o.D.b). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt die Einhaltung der EMRK sicher. Bürger können sich, nachdem die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind, mit Beschwerden direkt an ihn wenden (Europarat o.D.). Seit 16.9.2022 haben russische Bürger kein Recht mehr, den EGMR anzurufen (SWP 19.4.2022). Der EGMR ist weiterhin für die Bearbeitung von Beschwerden gegen Russland zuständig, welche bis 16.9.2022 eingereicht wurden. Das Ministerkomitee des Europarats überwacht weiterhin die Umsetzung der Urteile (Europarat 16.9.2022). Gemäß einer von der Russischen Föderation verabschiedeten Gesetzesänderung vom Juni 2022 unterliegen Beschlüsse des EGMR, welche nach dem 15.3.2022 in Kraft traten, aber nicht mehr der Vollstreckung in der Russischen Föderation (RF 11.6.2022). Vor dem EGMR waren mit Stand 30.4.2023 15.700 Beschwerden gegen Russland anhängig (ECHR 30.4.2023).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.9.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand: 10.9.2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2079430/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_10._September_2022%29%2C_28.09.2022.pdf , Zugriff 16.5.2023
BPB – Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (2.7.2020): Verfassungsreferendum in Russland, https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/312075/verfassungsreferendum-in-russland/ , Zugriff 5.6.2023
BS – Bertelsmann Stiftung (2022): BTI (Bertelsmann Transformation Index) 2022 Country Report: Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069600/country_report_2022_RUS.pdf , Zugriff 16.5.2023
Duma [Russland] (6.10.2022): Конституция РФ с изменениями 2022 года [Verfassung der RF mit den Änderungen des Jahres 2022], http://duma.gov.ru/news/55446/ , Zugriff 16.5.2023
ECHR – European Court of Human Rights (30.4.2023): PENDING APPLICATIONS ALLOCATED TO A JUDICIAL FORMATION, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2023_BIL.PDF , Zugriff 5.6.2023
EUAA – European Union Agency for Asylum (16.12.2022b): The Russian Federation – Political opposition, https://euaa.europa.eu/sites/default/files/publications/2022-12/2022_EUAA_COI_Report_Russian_Federation_Political_Opposition.pdf , Zugriff 19.5.2023
Europarat (16.9.2022): Presseraum: Russland keine Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention mehr, https://www.coe.int/de/web/portal/-/russia-ceases-to-be-party-to-the-european-convention-on-human-rights , Zugriff 5.6.2023
Europarat (16.3.2022): Presseraum: Russische Föderation wird aus dem Europarat ausgeschlossen, https://www.coe.int/de/web/portal/-/the-russian-federation-is-excluded-from-the-council-of-europe , Zugriff 16.5.2023
Europarat (25.2.2022): Presseraum: Europarat entzieht Russland Recht auf Vertretung, https://www.coe.int/de/web/portal/-/council-of-europe-suspends-russia-s-rights-of-representation , Zugriff 5.6.2023
Europarat (o.D.): Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, https://www.coe.int/en/web/portal/gerichtshof-fur-menschenrechte , Zugriff 5.6.2023
Europarat (o.D.b): The European Convention on Human Rights: A Convention to protect your rights and liberties, https://www.coe.int/en/web/human-rights-convention , Zugriff 5.6.2023
FH – Freedom House (2023): Freedom in the World 2023 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2088552.html , Zugriff 16.5.2023
FH – Freedom House (19.4.2022): Nations in Transit 2022: Russia, https://freedomhouse.org/country/russia/nations-transit/2022 , Zugriff 22.5.2023
KAS – Konrad-Adenauer-Stiftung / Thomas Kunze (7.2020): Länderbericht: Russlands neue Verfassung, https://www.kas.de/documents/252038/7938566/Russlands+neue+Verfassung.pdf/98a99078-4c44-87ac-bf83-a5f18d21df10?version=1.0&t=1593680876015 , Zugriff 5.6.2023
LZ – Lewada-Zentr [Lewada-Zentrum] (20.9.2022): Доверие общественным институтам [Vertrauen in öffentliche Institutionen], https://www.levada.ru/2022/09/20/doverie-obshhestvennym-institutam-2/ , Zugriff 5.6.2023
ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2022): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2022 (Stand 30.6.2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2085109/RUSS_%C3%96B-Bericht_2022_06.pdf , Zugriff 16.5.2023
RF – Russische Föderation [Russland] (11.6.2022): Федеральный закон "О внесении изменений в Уголовно-процессуальный кодекс Российской Федерации" от 11.06.2022 N 180-ФЗ (последняя редакция) [Föderales Gesetz 'Über Änderungen des Strafprozessgesetzbuches der Russischen Föderation' vom 11.06.2022 N 180-ФЗ (aktuelle Fassung)], http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_419069/ , Zugriff 5.6.2023
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik / Sabine Fischer (19.4.2022): Russland auf dem Weg in die Diktatur (SWP-Aktuell, Nr. 31), https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2022A31_Russland_Diktatur.pdf , Zugriff 22.5.2023
UN-HRC – United Nations Human Rights Committee (1.12.2022): International Covenant on Civil and Political Rights - Concluding observations on the eighth periodic report of the Russian Federation (CCPR/C/RUS/CO/8), https://www.ecoi.net/en/file/local/2083107/G2258965.pdf , Zugriff 16.5.2023
USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089062.html , Zugriff 16.5.2023
WJP – World Justice Project (o.D.): 2022 WJP Rule of Law Index® - Rankings, https://worldjusticeproject.org/rule-of-law-index/global , Zugriff 5.6.2023
Tschetschenien und Dagestan
Letzte Änderung 2023-06-29 09:45
Föderale Gesetze gelten für das gesamte Territorium der Russischen Föderation. Republiken haben ihre eigene Rechtsordnung, solange dadurch die Kompetenzen der Russischen Föderation unberührt bleiben (Verfassungsartikel 76) (Duma 6.10.2022). Die Situation in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit in Tschetschenien und Dagestan ist problematisch. Vor allem bleiben schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, begangen von Vertretern der föderalen und regionalen Behörden, straffrei. Es kommt vor, dass Rechtsanwälte, welche ihre Mandanten verteidigen, Angriffen durch Strafverfolgungsbehörden im Nordkaukasus ausgesetzt sind (COE 3.6.2022).
Tschetschenien
Tschetschenien verwaltet sich im Rechtsbereich weitgehend selbst (KAS 12.12.2022). Gemäß Artikel 96 der tschetschenischen Verfassung gibt es in Tschetschenien föderale Gerichte, den Verfassungsgerichtshof und Friedensrichter. Friedensrichter sind als Gericht erster Instanz für die Überprüfung von Zivil-, Verwaltungs- und strafrechtlichen Fällen zuständig (Artikel 101 der tschetschenischen Verfassung) (RT 23.3.2003). Behörden verletzen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren. Das Justizsystem dient als Vergeltungsmaßnahme gegen Personen, welche Fehlverhalten des tschetschenischen Republikoberhaupts Kadyrow aufdecken (USDOS 20.3.2023). Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Es herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (Adat; einschließlich der Tradition der Blutrache) und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 28.9.2022). Gemäß Aussage von Einwohnern Tschetscheniens lautet das grundlegende Gesetz in Tschetschenien 'Ramsan sagte'. Dies bedeutet, Kadyrows mündliche Aussagen sind einflussreicher als die Rechtssysteme und widersprechen diesen möglicherweise (CSIS 24.1.2020).
Das Gewohnheitsrecht (Adat) umfasst zwischenmenschliche Beziehungen wie beispielsweise Vermögensverhältnisse, persönliche und verwandtschaftliche Beziehungen. Es variiert regional und von Sippe zu Sippe und beruht auf dem Prinzip der Wiedergutmachung von Unrecht anstatt Bestrafung (Gumppenberg/Steinbach 2018). Im Gegensatz zum islamischen Recht liegt dem Gewohnheitsrecht (Adat) die kollektive Verantwortung für Rechtsverletzungen zugrunde (RAPSI 4.4.2022). Da es im Rahmen des Gewohnheitsrechts keine individuelle Verantwortung gibt, steht nicht der Täter im Mittelpunkt, sondern dessen Familienclan. Dieser trägt die Verantwortung. Um Stammeskriege und die Ausrottung ganzer Gemeinschaften zu vermeiden, sieht das Gewohnheitsrecht bestimmte Verfahren vor, um die Sippe des Opfers zu versöhnen und Verletzung sowie Verlust auszugleichen (Gumppenberg/Steinbach 2018). In Tschetschenien ist die Praxis der kollektiven Verantwortung weitverbreitet (KR 2.3.2023). Zum Adat gehört beispielsweise der alte Brauch der Blutrache (RAPSI 4.4.2022; vgl. Gumppenberg/Steinbach 2018). Die Blutrache entstand zum Schutz der Ehre und des Vermögens im Rahmen der Sippenstruktur und verpflichtet die Angehörigen eines Ermordeten, sich an dem Mörder oder dessen Angehörigen zu rächen. Blutrache hat keine Verjährungsfrist. Es gab Fälle, in welchen die Blutrache nach 50 oder 100 Jahren vollzogen wurde, als der Mörder und dessen nahe Verwandte bereits verstorben waren. Aus Gründen der Selbsterhaltung wurde eine Reihe von Methoden ausgearbeitet, um dem Morden ein Ende zu setzen und stattdessen Geldstrafen einzuführen. 2010 gründete Kadyrow die 'Kommission für nationale Versöhnung', welche darauf abzielte, Blutfehdekonflikte zu lösen. In Tschetschenien existieren Versöhnungskommissionen zur Lösung von Konflikten (KU 1.2.2023). Nach wie vor gibt es Clans, die Blutrache praktizieren (AA 28.9.2022; vgl. KU 1.2.2023). Die Einstellung der tschetschenischen Führung zur Blutrache ist oft situationsabhängig (KR 27.2.2023). Gemäß § 105 des russischen Strafgesetzbuches zieht Mord mit dem Motiv der Blutrache eine Freiheitsstrafe von 8-20 Jahren, eine lebenslange Freiheitsstrafe oder die Todesstrafe nach sich (RF 28.4.2023). Seit 1996, als Russland Mitglied des Europarats wurde, ist die Todesstrafe aufgrund eines Moratoriums ausgesetzt (AI 5.2023; vgl. CCDPW 27.3.2012, OSCE 7.10.2022).
Im islamischen Rechtssystem (Scharia) trägt nur der Einzelne die Schuld für begangene Taten. Traditionelle Hauptanwendungsgebiete für die Scharia sind Familien-, Erbrecht und teilweise Vermögensrecht (Gumppenberg/Steinbach 2018).
Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz. Hierzu gehören Menschenrechtsaktivisten, sexuelle Minderheiten, Oppositionelle, Regimekritiker, Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, sowie Personen, die sich gegen Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. dessen Clan aufgelehnt haben. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen (AA 28.9.2022).
Dagestan
Gemäß Artikel 92 der Verfassung Dagestans liegt das Rechtswesen der Republik Dagestan in den Händen von föderalen Gerichten sowie Gerichten der Republik Dagestan. Letztere sind der Verfassungsgerichtshof Dagestans und Friedensrichter. Die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes Dagestans werden laut Verfassungsartikel 94 von der Volksversammlung der Republik Dagestan auf Vorschlag des Republikoberhaupts ernannt. Friedensrichter werden von der Volksversammlung Dagestans ernannt (RD 10.7.2003). In Dagestan hat sich der traditionelle Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 1990er-Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weitverbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts ist unter anderem das unzweckmäßige und korrupte staatliche Justizwesen, welches in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern die verschiedenen Rechtssphären nehmen aufeinander Bezug. Zu den Sitten und Gebräuchen des Adat, die im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan befolgt werden, gehört auch die Blutrache. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Blutrache zu verzichten (AA 28.9.2022).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.9.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand: 10.9.2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2079430/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_10._September_2022%29%2C_28.09.2022.pdf , Zugriff 16.5.2023
AI – Amnesty International (5.2023): Global Report: Death Sentences and Executions 2022, https://www.amnesty.org/en/wp-content/uploads/2023/05/ACT5065482023ENGLISH.pdf , Zugriff 16.5.2023
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COE – Council of Europe (3.6.2022): The continuing need to restore human rights and the rule of law in the North Caucasus region, https://pace.coe.int/en/files/30064/html?__cf_chl_tk=N0MvfyHujStO1y2i5De4AjF5sOdH0kwzw1IPrh2B99Q-1660131174-0-gaNycGzNCpE , Zugriff 22.5.2023
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Duma [Russland] (6.10.2022): Конституция РФ с изменениями 2022 года [Verfassung der RF mit den Änderungen des Jahres 2022], http://duma.gov.ru/news/55446/ , Zugriff 16.5.2023
Gumppenberg, Marie-Carin von/Udo Steinbach (Hg.) (2018): Der Kaukasus. Geschichte - Kultur - Politik. 3. Aufl. München: C.H.Beck
KAS – Konrad-Adenauer-Stiftung / Jeronim Perovic (12.12.2022): Die Politische Meinung (Ausgabe 577, 67. Jahrgang): Staat im Staate - Tschetschenien als inneres Ausland, https://www.kas.de/documents/258927/21591476/51_Perovic.pdf/333d5349-de7f-c3d9-9e07-7458e2ae13fd?t=1669894749831 , Zugriff 5.6.2023
KR – Kawkas.Realii (2.3.2023): Кадыров призвал ввести военное положение и "привлечь к ответу семьи" после событий на Брянщине [Kadyrow rief dazu auf, das Kriegsrecht einzuführen und nach den Ereignissen in Brjansk 'die Familien zur Verantwortung zu ziehen'], https://www.kavkazr.com/a/kadyrov-prizval-vvesti-voennoe-polozhenie-posle-sobytiy-v-bryanskoy-oblasti-i-privlechj-k-otvetu-semji-/32296290.html , Zugriff 5.6.2023
KR – Kawkas.Realii (27.2.2023): "Буду преследовать кровника до конца своих дней". Вендетта в Чечне Кадырова ['Ich werde meine Blutrache-Absicht bis zum Ende meiner Tage verfolgen'. Blutrache in Kadyrows Tschetschenien], https://www.kavkazr.com/a/budu-presledovatj-krovnika-do-kontsa-svoih-dney-vendetta-v-chechne-kadyrova/32227736.html , Zugriff 5.6.2023
KU – Kawkasskij Usel [Kaukasischer Knoten] (1.2.2023): Кровная месть - как теперь убивают на Кавказе [Blutrache - wie jetzt im Kaukasus getötet wird], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/296137/ , Zugriff 5.6.2023
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RAPSI – Rossijskoe agentstwo prawowoj i sudebnoj informazii [Russische Agentur für Rechts- und Gerichtsinformationen] (4.4.2022): Шариат и адат: по каким законам живут мусульмане Кавказа [Scharia und Adat: nach welchen Gesetzen Muslime des Kaukasus leben], https://rapsinews.ru/incident_publication/20220404/307852546.html , Zugriff 5.6.2023
RD – Republik Dagestan [Russland] (10.7.2003): Конституция Республики Дагестан (принята Конституционным Собранием 10 июля 2003 г.) (с изменениями и дополнениями) [Verfassung der Republik Dagestan (verabschiedet von der Verfassungsversammlung am 10. Juli 2003) (mit Änderungen und Ergänzungen)],
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RF – Russische Föderation [Russland] (28.4.2023): "Уголовный кодекс Российской Федерации" от 13.06.1996 N 63-ФЗ (ред. от 28.04.2023) ['Strafgesetzbuch der Russischen Föderation' vom 13.06.1996 N 63-ФЗ (idF vom 28.4.2023)], http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/ , Zugriff 16.5.2023
RT – Republik Tschetschenien [Russland] (23.3.2003): Конституция Чеченской Республики (принята 23 марта 2003 г.) (с изменениями и дополнениями) [Verfassung der Republik Tschetschenien (verabschiedet am 23. März 2003) (mit Änderungen und Ergänzungen)], https://constitution.garant.ru/region/cons_chech/ , Zugriff 5.6.2023
USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089062.html , Zugriff 16.5.2023
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung 2023-06-29 09:50
Folter, Gewalt sowie unmenschliche bzw. grausame oder erniedrigende Behandlung und Strafen sind in Russland auf Basis des Art. 21 der Verfassung verboten (Duma 6.10.2022). Die Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe wurde von Russland 1987 ratifiziert. Das Zusatzprotokoll hat Russland nicht unterzeichnet (UN-OHCHR o.D.). Die Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen durch systematische Gewaltanwendung wird gemäß § 117 Strafgesetzbuch mit Freiheitsbeschränkung von bis zu drei Jahren, Zwangsarbeit von bis zu drei Jahren oder Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren bestraft. Wird dieselbe Tat beispielsweise von mehreren Personen oder mit besonderer Grausamkeit begangen, ist das Opfer eine minderjährige Person oder wird die Tat zum Beispiel aus politischen, ideologischen oder religiösen Motiven begangen, hat dies Freiheitsentzug von 3 - 7 Jahren zur Folge. Gemäß § 286 Strafgesetzbuch führt die Anwendung von Folter im Rahmen der Überschreitung von Amtsbefugnissen zu Freiheitsentzug von 4 - 12 Jahren (RF 28.4.2023).
Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut (ÖB 30.6.2022). Die Polizei nutzt Folter, um Andersdenkende unter Druck zu setzen. Im März 2022 berichteten mehrere Demonstranten und Demonstrantinnen, die bei Antikriegskundgebungen festgenommen worden waren, auf Polizeiwachen gefoltert oder anderweitig misshandelt worden zu sein (AI 28.3.2023). In den Haftanstalten sind Folter und andere Misshandlungen an der Tagesordnung (AI 28.3.2023) und die dafür Verantwortlichen werden selten strafrechtlich verfolgt (AI 28.3.2023; vgl. ÖB 30.6.2022). Foltervorwürfe werden nicht effektiv untersucht (UN-HRC 1.12.2022). Gemäß Berichten kommt es vor, dass Journalisten und Aktivisten, welche über Folterfälle in Gefängnissen berichten, von Behörden strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023). Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für zum Teil schwere Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein (ÖB 30.6.2022). Gemäß zahlreichen Berichten erzwingen Strafverfolgungsbehörden Geständnisse gewaltsam, durch Folter und Missbrauchshandlungen. Es kommt zu Todesfällen aufgrund von Folter (USDOS 20.3.2023). Das Problem der Folter und Erniedrigungen hat systemischen Charakter (Gulagu.net o.D.). Betroffene, welche vor Gericht Foltervorwürfe erheben, werden zunehmend unter Druck gesetzt, beispielsweise durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist kürzer geworden (früher fünf bis sechs Jahre), Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 28.9.2022). Es existieren keine verlässlichen Statistiken zu Folter und Misshandlungen (UN-HRC 1.12.2022).
Nordkaukasus/Tschetschenien
Im Nordkaukasus kommt es zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter und Misshandlungen (UN-HRC 1.12.2022). Gemäß weitverbreiteten Berichten begehen Sicherheitskräfte in nordkaukasischen Haftanstalten Missbrauchshandlungen und wenden Folter an (USDOS 20.3.2023). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet das tschetschenische Republikoberhaupt Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie beispielsweise Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 2023). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit Folter zur Erlangung von Geständnissen einher (AA 28.9.2022). Es herrscht in Tschetschenien diesbezüglich Straflosigkeit (ÖB 30.6.2022).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.9.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand: 10.9.2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2079430/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_10._September_2022%29%2C_28.09.2022.pdf , Zugriff 16.5.2023
AI – Amnesty International (28.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Russland 2022, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089408.html , Zugriff 17.5.2023
Duma [Russland] (6.10.2022): Конституция РФ с изменениями 2022 года [Verfassung der RF mit den Änderungen des Jahres 2022], http://duma.gov.ru/news/55446/ , Zugriff 16.15.2023
FH – Freedom House (2023): Freedom in the World 2023 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2088552.html , Zugriff 16.5.2023
Gulagu.net (o.D.): Torture in Russia, https://gulagu.net/Torture_in_Russia , Zugriff 17.5.2023
ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2022): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2022 (Stand 30.6.2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2085109/RUSS_%C3%96B-Bericht_2022_06.pdf , Zugriff 16.5.2023
RF – Russische Föderation [Russland] (28.4.2023): "Уголовный кодекс Российской Федерации" от 13.06.1996 N 63-ФЗ (ред. от 28.04.2023) ['Strafgesetzbuch der Russischen Föderation' vom 13.06.1996 N 63-ФЗ (idF vom 28.4.2023)], http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/ , Zugriff 16.5.2023
UN-HRC – United Nations Human Rights Committee (1.12.2022): International Covenant on Civil and Political Rights - Concluding observations on the eighth periodic report of the Russian Federation (CCPR/C/RUS/CO/8), https://www.ecoi.net/en/file/local/2083107/G2258965.pdf , Zugriff 16.5.2023
UN-OHCHR – United Nations Office of the High Commissioner for Human Rights (o.D.): Russian Federation: Status of Ratification – Interactive Dashboard, https://indicators.ohchr.org/ , Zugriff 16.5.2023
USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089062.html , Zugriff 16.5.2023
Sexuelle Minderheiten
Letzte Änderung 2023-07-04 10:30
Homosexualität ist in Russland nicht strafbar (AA 28.9.2022). Im Verfassungsartikel 72 wird die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau definiert (Duma 6.10.2022), wodurch die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Ehen ausgeschlossen wird (FH 2023). Gemäß dem Kodex über Verwaltungsübertretungen (§ 6.21) ist seit 5.12.2022 die ’Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen und für Geschlechtsumwandlungen’ nicht nur mehr in Gegenwart von Kindern, sondern nun auch in Gegenwart von Erwachsenen unter Strafe gestellt. Das Strafmaß umfasst Geldstrafen von RUB 50.000-5.000.000 [ca. EUR 575-57.485] und richtet sich danach, von wem die ’Propaganda’ betrieben wird (Amtsträger, einfache Bürger, juristische Personen), ob Opfer der ’Propaganda’ Minderjährige sind und welche Kommunikationsmittel verwendet werden (Massenmedien, Internet usw.). Bei juristischen Personen kann es zu Geschäftssperren von bis zu 90 Tagen kommen (RF 17.5.2023). Gesetzlich ist außerdem die Sperrung von Internetseiten mit entsprechenden Inhalten ohne vorausgehenden Gerichtsbeschluss durch die Medienaufsichtsbehörde vorgesehen. Einige kleinere Organisationen, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzen, haben Medienberichten zufolge als Reaktion auf die drohenden Sanktionen ihre Arbeit eingestellt (BAMF 6.12.2022). Seit Verabschiedung des neuen ’Propaganda’-Gesetzes und Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine haben viele Angehörige sexueller Minderheiten Russland verlassen (ILGA 20.2.2023).
Die Situation für Personen mit homosexueller Orientierung ist regional unterschiedlich, die Toleranz variiert oftmals nach Größe der Stadt und empfundener Nähe zu Europa. In St. Petersburg findet jährlich ein ’Queer-Fest’ statt (AA 28.9.2022). Sexuelle Minderheiten sind in Russland Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt (UN-HRC 1.12.2022; vgl. AI 28.3.2023, AA 28.9.2022). Wegen Vorurteilen und Intoleranz haben sexuelle Minderheiten eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung (USDOS 20.3.2023). Hassrede von Politikern und religiösen Führern richtet sich gegen sexuelle Minderheiten (UN-HRC 1.12.2022). Sexuelle Minderheiten sind Opfer von Hassverbrechen, darunter Mord, körperliche Gewalt und Erpressung. Die Behörden stufen diese Straftaten nicht als Hassverbrechen ein (ILGA 20.2.2023). Der staatliche Schutz vor Übergriffen Dritter ist unzureichend. Laut Aussagen von NGOs bringen Opfer homophober Straftaten diese häufig nicht zur Anzeige. Wird Anzeige erstattet, weigert sich die Polizei häufig, sie aufzunehmen, wenn das Opfer den homophoben Hintergrund der Tat benennt. Eine Ahndung der Tat durch die Justiz ist dann nur möglich, wenn das Tatopfer Beschwerde bei der vorgesetzten Polizeidienststelle, der Staatsanwaltschaft oder bei Gericht einlegt (AA 28.9.2022).
Am stärksten gefährdet sind Transgender-Personen, die von der Öffentlichkeit als männlich wahrgenommen werden, sich aber entsprechend ihrer sexuellen Identität feminin kleiden und beispielsweise schminken, sowie Personen, welche sich öffentlich für Rechte sexueller Minderheiten einsetzen (AA 28.9.2022). Seit Kriegsausbruch sind transsexuelle Personen mit Hormon-Engpässen und beträchtlichen Preissteigerungen konfrontiert (ILGA 20.2.2023). Die rechtliche Anerkennung ihres Geschlechts gestaltet sich für transsexuelle Personen schwierig (ILGA 20.2.2023; vgl. USDOS 20.3.2023). LGBT-Organisationen und ihre Mitglieder sind anhaltender Schikane unterworfen (UN-HRC 1.12.2022; vgl. BS 2022). Zum Beispiel wird ihr Recht auf friedliche Versammlungen übermäßig eingeschränkt, und ihre Tätigkeiten werden unterbunden (UN-HRC 1.12.2022). Organisatoren und Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen, welche sich Rechten sexueller Minderheiten widmen, sind mit Schikane und Gewalt konfrontiert (ILGA 20.2.2023). In Russland sind sogenannte Konversionstherapien erlaubt. Diese verfolgen das Ziel, die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zu ändern (ILGA 20.2.2023; vgl. ILGA 14.2.2022).
Im April 2022 wurde die NGO Sfera, welche sich für Rechte sexueller Minderheiten eingesetzt hat, gerichtlich aufgelöst (EUAA 16.12.2022b). Im November und Dezember 2021 stufte das Justizministerium folgende vier Gruppen Angehöriger sexueller Minderheiten als ’ausländische Agenten’ ein: das ’russische LGBT-Netzwerk’, Majak (Leuchtturm), Coming Out und Revers (ILGA 14.2.2022) [zum Begriff ‚ausländischer Agent‘ siehe Näheres im Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten].
Gemäß einer Umfrage des russischen Lewada-Zentrums aus dem Jahr 2021 begegnen 38 % der befragten Russen Homosexuellen mit großer Abneigung oder Angst. 32 % der Befragten stehen Personen mit homosexueller Orientierung neutral gegenüber und 3 % wohlwollend. Interesse an homosexuellen Personen bekundet 1 % der Befragten (LZ 15.10.2021).
Tschetschenien
2017 und 2019 waren Angehörige sexueller Minderheiten Verfolgung durch lokale Behörden ausgesetzt. Gemäß Medienberichten wurden in Tschetschenien Anfang 2019 über 40 Angehörige sexueller Minderheiten festgenommen und zwei zu Tode gefoltert (AA 28.9.2022). Tschetschenien bleibt weiterhin besonders gefährlich für sexuelle Minderheiten (FH 2023; vgl. AA 28.9.2022). Es kommt zu schwerwiegenden Verletzungen der Rechte sexueller Minderheiten (UN-OHCHR 20.10.2022). Nach Aussagen sind Angehörige sexueller Minderheiten in Tschetschenien verbaler und körperlicher Gewalt ausgesetzt, außerdem Massenentführungen, willkürlichen Verhaftungen, Folter durch Behörden (EUAA 16.12.2022b; vgl. UN-OHCHR 20.10.2022), Verschwindenlassen, außergerichtlichen Tötungen sowie systematischer Schikane (FCDO 12.2022). Es existieren Berichte über Angehörige sexueller Minderheiten, welche gegen ihren Willen aus anderen Teilen der Russischen Föderation nach Tschetschenien zurückgebracht wurden und dort zu Opfern von Menschenrechtsverletzungen geworden sind (AA 28.9.2022). Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit (UN-OHCHR 20.10.2022; vgl. AA 28.9.2022). Die tschetschenischen Behörden verweigern die Untersuchung von Vorwürfen betreffend Entführung und Misshandlung wegen sexueller Orientierung (Europarat 3.6.2022).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.9.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand: 10.9.2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2079430/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_10._September_2022%29%2C_28.09.2022.pdf , Zugriff 16.5.2023
AI – Amnesty International (28.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Russland 2022, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089408.html , Zugriff 17.5.2023
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (6.12.2022): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw49-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=5 , Zugriff 24.5.2023
BS – Bertelsmann Stiftung (2022): BTI (Bertelsmann Transformation Index) 2022 Country Report: Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069600/country_report_2022_RUS.pdf , Zugriff 16.5.2023
Duma [Russland] (6.10.2022): Конституция РФ с изменениями 2022 года [Verfassung der RF mit den Änderungen des Jahres 2022], http://duma.gov.ru/news/55446/ , Zugriff 16.5.2023
EUAA – European Union Agency for Asylum (16.12.2022b): The Russian Federation – Politicalopposition, https://euaa.europa.eu/sites/default/files/publications/2022-12/2022_EUAA_COI_Report_Russian_Federation_Political_Opposition.pdf , Zugriff 19.5.2023
Europarat (3.6.2022): The continuing need to restore human rights and the rule of law in the North Caucasus region, https://pace.coe.int/en/files/30064/html?__cf_chl_tk=N0MvfyHujStO1y2i5De4AjF5sOdH0kwzw1IPrh2B99Q-1660131174-0-gaNycGzNCpE , Zugriff 22.5.2023
FCDO – Foreign, Commonwealth & Development Office [Vereinigtes Königreich] (12.2022): Human Rights & Democracy: The 2021 Foreign, Commonwealth & Development Office Report, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/1130821/human-rights-and-democracy-2021-foreign-commonwealth-development-office-report.pdf , Zugriff 22.5.2023
FH – Freedom House (2023): Freedom in the World 2023 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2088552.html , Zugriff 16.5.2023
ILGA – International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (20.2.2023): 2023 Annual Review of the Human Rights Situation of Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex People in Europe and Central Asia 2022, https://www.ilga-europe.org/files/uploads/2023/02/annual-review-2023.pdf , Zugriff 24.5.2023
ILGA – International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (14.2.2022): Annual Review of the Human Rights Situation of Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex People in Europe and Central Asia 2022, https://www.ilga-europe.org/files/uploads/2022/04/annual-review-2022.pdf , Zugriff 24.5.2023
LZ – Lewada-Zentr [Lewada-Zentrum] (15.10.2021): Отношение россиян к ЛГБТ людям [Verhältnis der Russen zu LGBT-Personen], https://www.levada.ru/2021/10/15/otnoshenie-rossiyan-k-lgbt-lyudyam/ , Zugriff 24.5.2023
RF – Russische Föderation [Russland] (17.5.2023): „Кодекс Российской Федерации об административныхправонарушениях“ от 30.12.2001 N 195-ФЗ (ред. от 28.04.2023, с изм. от 17.05.2023) [’Kodex der Russischen Föderation über Verwaltungsübertretungen’ vom 30.12.2001 N 195-ФЗ (idF vom 28.04.2023)], http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_34661/ , Zugriff 24.5.2023
UN-HRC – United Nations Human Rights Committee (1.12.2022): International Covenant on Civil and Political Rights - Concluding observations on the eighth periodic report of the Russian Federation (CCPR/C/RUS/CO/8), https://www.ecoi.net/en/file/local/2083107/G2258965.pdf , Zugriff 16.5.2023
UN-OHCHR – United Nations Office of the High Commissioner for Human Rights (20.10.2022): Human Rights Committee Considers Report of the Russian Federation in the Absence of a Delegation, Experts Raise Issues on the Persecution of Journalists and the Arrests of Protesters, https://www.ohchr.org/en/news/2022/10/human-rights-committee-considers-report-russian-federation-absence-delegation-experts , Zugriff 24.5.2023
USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089062.html , Zugriff 16.5.2023
1.3.2. Auszug aus dem Themenbericht „Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs“, Kapitel 7.2.1 Situation in Tschetschenien
< … > Die meisten tschetschenischen Kriegsteilnehmer entstammen dem ländlichen Raum und leben mit ihren Familien in bescheidenen Verhältnissen. Die versprochenen hohen Geldsummen verleiten sie zu einem Kriegseinsatz. Weiters nehmen am Ukraine-Krieg tschetschenische Berufs- bzw. Vertragssoldaten teil. Diesen machte Kadyrow ein schlechtes Gewissen und erklärte ihnen, es sei nun an der Zeit, ihren in Friedenszeiten empfangenen ’hohen’ Sold abzuarbeiten. Außerdem nehmen (noch nicht gerichtlich verurteilte) Gesetzesbrecher am Krieg teil, welchen man einen Kriegseinsatz als ’Freiwillige’ nahelegt. Besonders betroffen davon sind Personen, welche sich des Drogenmissbrauchs und Alkoholismus schuldig machten, sowie Diebe (VQ RUSS2 23.1.2024). Ebenfalls unter den unfreiwillig Rekrutierten befinden sich Strafgefangene (EUAA 16.12.2022). Gemäß Berichten kommt es im Zuge von Verkehrskontrollen und Streitigkeiten zwischen Verkehrspolizisten und Autofahrern zur Aushändigung von Einberufungsbefehlen (KK 24.11.2023). Tschetschenen, welchen eine homosexuelle Orientierung unterstellt wird, sind ebenfalls Zielgruppe von Kriegsentsendungen. Gleich ergeht es Personen, die spezielle politische Ansichten vertreten (VQ RUSS2 23.1.2024). Rekrutiert werden hauptsächlich Menschen, welche ihre Unzufriedenheit mit der tschetschenischen Führung oder dem Ukraine-Krieg ausdrückten, und auch Personen, die auf irgendeine Art und Weise in Ungnade gefallen sind (DIS 9.12.2022). < … >
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zu den Personalien des BF und seiner Staatsangehörigkeit ergeben sich aus dem sich im Verwaltungsakt befindlichen russischen Inlandsreisepasses des BF (OZ XXXX ) und dem in Kopie vorgelegten russischen Auslandsreisepass (AS XXXX ) sowie den damit übereinstimmenden und gleichbleibenden Angaben des BF dazu während des gesamten Verfahrens (AS XXXX , AS XXXX , AS XXXX ). Die Feststellungen zur Volksgruppe und zur Religionszugehörigkeit des BF sowie zu seinen Sprachkenntnissen und seinem Familienstand beruhen ebenfalls auf seinen übereinstimmenden Angaben dazu im Verfahren (AS XXXX , AS XXXX , AS XXXX ; Verhandlungsprotokoll [VHP] S. XXXX ).
Auch die Feststellungen zur Herkunft und zur (Schul-)Bildung des BF in der Russischen Föderation ergeben sich aus seinen übereinstimmenden Angaben im gegenständlichen Verfahren (AS XXXX , AS XXXX , AS XXXX ; VHP S. XXXX ).
Die Feststellungen zu den Familienangehörigen des BF in der Russischen Föderation beruhen ebenso wie die Feststellung, dass sein Vater verstorben ist, auf seinen gleichbleibenden sowie plausiblen Angaben dazu während des Verfahrens (AS XXXX , AS XXXX , AS XXXX ; VHP S. XXXX , S. XXXX ).
Die Feststellungen zur Einreise nach Österreich, der Antragstellung und seinem Aufenthalt im Bundesgebiet ergeben sich aus dem Akteninhalt des Verwaltungsaktes.
Dass der BF in Österreich bei seiner Schwester und deren Familie lebt und von dieser auch unterstützt wird, gründet ebenfalls auf seinen diesbezüglich glaubhaften Angaben im Verfahren (AS 199) sowie einem ZMR-Auszug.
Dass der BF gesund ist, stützt sich auf seine Angaben dazu während des gesamten Verfahrens, zuletzt in der mündlichen Verhandlung (VHP S. XXXX , S. XXXX ). Daraus, sowie dem Umstand, dass er bereits in der Russischen Föderation gearbeitet hat, ergibt sich seine Arbeitsfähigkeit.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus einer Einsichtnahme in das Strafregister (OZ XXXX ).
2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
2.2.1. Dem BF gelang es mit seinen nachvollziehbaren, an Realkennzeichen reichen sowie in sich schlüssigen Ausführungen im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft zu machen, dass er homosexuell ist und dies den Behörden in der Russischen Föderation auch bekannt ist (S. XXXX VHP). Die diesbezüglichen Schilderungen des BF waren widerspruchsfrei und wurde die Glaubhaftigkeit der Angaben auch durch die Art und Weise, wie der BF die ihm widerfahrenen Vorfälle schilderte, untermauert (vgl. S. XXXX VHP).
2.2.2. Darüber hinaus steht das Vorbringen des BF auch im Einklang mit den oben angeführten Länderinformationen, aus welchen hervorgeht, dass sexuellen Minderheiten in der Russischen Föderation Diskriminierung und Stigmatisierung droht, sodass anzunehmen ist, dass der BF im Herkunftsland staatlicher Verfolgung sowie auch Verfolgung durch Privatpersonen ausgesetzt ist.
2.2.3. Weiters lässt sich den Länderberichten entnehmen, dass sexuelle Minderheiten wegen Vorurteilen und Intoleranz lediglich eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung haben und sich Hassreden von Politikern und religiösen Führern gegen sexuelle Minderheiten richten. Sexuelle Minderheiten sind Opfer von Hassverbrechen, darunter Mord, körperliche Gewalt und Erpressung. Die Behörden stufen diese Straftaten nicht als Hassverbrechen ein - der staatliche Schutz vor Übergriffen Dritter ist unzureichend. Laut Aussagen von NGOs bringen Opfer homophober Straftaten diese häufig nicht zur Anzeige. Wird Anzeige erstattet, weigert sich die Polizei häufig, sie aufzunehmen, wenn das Opfer den homophoben Hintergrund der Tat benennt. Eine Ahndung der Tat durch die Justiz ist dann nur möglich, wenn das Tatopfer Beschwerde bei der vorgesetzten Polizeidienststelle, der Staatsanwaltschaft oder bei Gericht einlegt.
2.2.4. Insbesondere in der Teilrepublik Tschetschenien, der Herkunftsregion des BF, sind sexuelle Minderheiten ausweislich der Länderberichte zur Russischen Föderation der Gefahr von Verfolgung durch lokale Behörden ausgesetzt. Es kommt zu schwerwiegenden Verletzungen der Rechte sexueller Minderheiten und laufen Angehörige dieser Minderheiten Gefahr Opfer verbaler und körperlicher Gewalt sowie Massenentführungen, willkürlicher Verhaftungen, Folter durch Behörden, Verschwindenlassens, außergerichtlicher Tötungen sowie systematischer Schikane zu werden. Es existieren Berichte über Angehörige sexueller Minderheiten, welche gegen ihren Willen aus anderen Teilen der Russischen Föderation nach Tschetschenien zurückgebracht wurden und dort zu Opfern von Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit. Die tschetschenischen Behörden verweigern die Untersuchung von Vorwürfen betreffend Entführung und Misshandlung wegen sexueller Orientierung. Die Situation für Angehörige sexueller Minderheiten, wie der BF, stellt sich im Hinblick auf die aktuellen Länderberichte sohin als höchst problematisch dar.
2.2.5. Unbeschadet des Umstandes, dass die vom BF in Kopie vorgelegte Vorladung mangels eines Originaldokumentes nicht auf deren Echtheit überprüft werden konnte und der BF im Zeitpunkt der Datierung derselben bereits das 30 Lebensjahr überschritten und sich sohin bereits außerhalb des wehrpflichtigen Alters befunden hat, ist fallgegenständlich nicht gänzlich auszuschließen, dass dem Vorbringen eine entsprechende Relevanz zuzumessen ist. Angesichts des Umstandes, dass der BF aufgrund seiner sexuellen Orientierung in den Fokus der dortigen Behörden geraten ist, ist eine Zwangsrekrutierung abseits der geltenden Wehrdienstgesetze durchaus glaubhaft und ergibt sich dies auch aus dem Themenbericht der Staatendokumentaion „Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine Kriegs“ (s. Pkt. 1.3.2.).
2.2.6. Eine innerstaatliche Fluchtalternative ist fallgegenständlich auszuschließen, zumal die sexuelle Orientierung des BF in der Teilrepublik Tschetschenien bei den staatlichen Behörden bekannt ist. Es besteht sohin eine reale Gefahr einer zwangsweisen Rückführung des BF aus anderen Teilen der Russischen Föderation in seine Herkunftsregion auf Druck der dortigen Behörden, zumal sich seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine generell, insbesondere jedoch für homosexuelle Personen in Tschetschenien, die Sicherheitslage maßgeblich verändert hat (s.o. Pkt. 1.3. Länderinformationen zur Russischen Föderation, Unterpunkt Sexuelle Minderheiten).
2.2.7. Sohin besteht für den BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation einer gegenwärtigen sowie unmittelbaren Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen ausgesetzt zu sein.
2.3. Zu den Feststellungen zur maßgeblichen, entscheidungsrelevanten Situation in der Russischen Föderation:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Bei den angeführten Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in der Russischen Föderation ergeben. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf eine Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht
Gemäß § 9 Abs. 2 FPG und § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA.
Da sich die gegenständliche – zulässige und rechtzeitige – Beschwerde gegen einen Bescheid des BFA richtet, ist das Bundesverwaltungsgericht für die Entscheidung zuständig.
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte (mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes) ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 59 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem, dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen, Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
3.2. Zu Spruchteil A): Stattgabe der Beschwerde
3.2.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides (Zuerkennung des Status des Asylberechtigten):
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffes ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 mwN). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Herkunftsstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 06.09.2018, Ra 2017/18/0055; vgl. auch VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100, mwN).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Herkunftsstaates bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Herkunftsstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (vgl. etwa VwGH 25.09.2018, Ra 2017/01/0203; 26.06.2018, Ra 2018/20/0307, mwN).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Herkunftsstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. etwa VwGH 12.06.2018, Ra 2018/20/0177; 19.10.2017, Ra 2017/20/0069). Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinne der ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, das heißt er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, § 45, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden Verwaltungsgerichtes vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom Verwaltungsgericht nicht getroffen werden (VwGH 28.06.2016, Ra 2018/19/0262; vgl. auch VwGH 18.11.2015, Ra 2015/18/0237-0240, mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).
Der Antrag ist gemäß § 11 AsylG 2005 abzuweisen, wenn der Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat Schutz gewährleistet werden kann und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann. Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind. Darüber hinaus ist nach Art. 8 der Statusrichtlinie zu prüfen, ob der Antragsteller in diesen Landesteil sicher und legal reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, begründet ist:
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
Der BF konnte im Verfahren glaubhaft machen, dass er homosexuell ist. Wie beweiswürdigend aufgezeigt, droht dem BF in der Russischen Föderation aufgrund seiner sexuellen Orientierung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung.
Die Verfolgungsgefahr steht auch im Zusammenhangmit den in der GFK taxativ aufgezählten Verfolgungsgründen, nämlich der sozialen Gruppe der homosexuell orientierten Personen in der Russischen Föderation.
Der VwGH hat – unter Bezugnahme auf Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union – bereits wiederholt ausgesprochen, dass eine Verfolgung von Homosexuellen Asyl rechtfertigen kann und dass von einem Asylwerber nicht erwartet werden kann, seine Homosexualität im Herkunftsstaat geheim zu halten, um eine Verfolgung zu vermeiden (vgl VwGH 13.1.2022, Ra 2020/14/0214, mit Hinweis auf VwGH 23.2.2021, Ra 2020/18/0500). Folglich muss es Menschen gleichgeschlechtlicher Orientierung möglich sein, auch in der Öffentlichkeit zu ihrer geschlechtlichen Orientierung zu stehen und sich zu entsprechenden Beziehungen zu bekennen, ohne dadurch Gefahr zu laufen, im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK verfolgt zu werden (vgl. VfGH 19.09.2022, E 4365/2021-12).
Die Möglichkeit, vom russischen Staat vor der ihm drohenden (asylrelevanten) Verfolgung geschützt zu werden, ist für den BF auszuschließen, zumal die Verfolgung (auch) vom Staat ausgeht.
Da fallgegenständlich - wie beweiswürdigend dargestellt -die Lage für den BF als Angehöriger der sozialen Gruppe der homosexuell orientierten Personen vor dem Hintergrund, dass dieser in den Fokus der tschetschenischen Behörden geraten ist und für diesen – vor dem Hintergrund, dass auch in anderen Teilen der Russischen Föderation sich die Lage für Homosexuelle seit 2022 verschlechtert hat – die ernsthafte Gefahr besteht auf Druck der dortigen Behörden zwangsweise nach Tschetschenien zurückgeschickt zu werden, sodass dem BF auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht.
Da keine Asylausschlussgründe iSd. § 6 AsylG 2005 vorliege, ist dem BF gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Gemäß § 3 Abs. 4 iVm § 75 Abs. 24 AsylG 2005 kommt einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu, wenn er einen Antrag auf internationalen Schutz nicht vor dem 15.11.2015 gestellt hat. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird.
Es ist daher spruchgemäß zu entscheiden.
3.2.2. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt II. bis VI. des angefochtenen Bescheides (Ersatzlose Behebung):
Aufgrund der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten sind die Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos zu beheben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.
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