AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2014:W203.1420977.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER über die Beschwerde von XXXX, geb. am XXXX, StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.08.2011, Zl. 11 01.762-BAL, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 03.09.2014 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF (AsylG 2005) der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AslyG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 19.02.2011 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Bei der am 19.02.2011 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte der BF im Wesentlichen vor, dass er Paschtune und Sunnit sei. Er stamme aus der Provinz Laghman, und habe dort als Sammeltaxifahrer gearbeitet. Sein Bruder XXXX habe in einer amerikanischen Militärbasis als Reinigungskraft und Spion gearbeitet. Als die Dorfbewohner nach ca. einem Jahr von der Tätigkeit des Bruders des BF erfahren hätten, hätte dessen Familie einen Drohbrief von den Taliban erhalten, in dem XXXX aufgefordert worden wäre, seine Tätigkeit für die Amerikaner einzustellen. Die Spionagetätigkeit hätte dazu geführt, dass die Amerikaner eine Talibanstellung in der Nähe des Heimatdorfes des BF bombardiert hätten, wobei viele Taliban ums Leben gekommen wären. Der Bruder des BF wäre auf der Militärbasis sicher gewesen, allerdings wäre der Vater des BF vor ca. 8 Monaten wegen der Tätigkeit des Bruders des BF von den Taliban erschossen worden. Beim Leichnam des Vaters habe sich auch ein Brief befunden, in dem auch der BF namentlich mit dem Tod bedroht worden wäre. Etwa 3 bis 4 Monate danach hätten Taliban auf den BF geschossen, er sei dabei aber nicht verletzt worden. Daraufhin habe er Afghanistan verlassen.
3. Bei einer am 20.04.2011 vor dem Bundesasylamt durchgeführten niederschriftlichen Einvernahme widerholte der BF im Wesentlichen seine Angaben vom 19.02.2011 in ergänzte diese wie folgt:
Er sei im Dorf XXXX, Distrikt XXXX, Provinz Laghman geboren. Der Name seines Stammes sei Gardikas, genauso wie der Name des Dorfes. Er habe keine Schule besucht und immer als Bauer auf den familieneigenen Grundstücken gearbeitet, sechs Monate lang sei er auch Taxi gefahren. Sein Vater sei verstorben, in Afghanistan lebten noch seine Mutter, zwei Brüder und eine Schwester sowie Onkeln und Tanten mütterlicherseits. Die familieneigenen Grundstücke würden mittlerweile von anderen Personen bewirtschaftet, die einen bestimmten Anteil der Erträge an die Familie des BF abtreten würden.
Er wiederholte die bereits bei der polizeilichen Ersteinvernahme vorgebrachte Fluchtgeschichte und ergänzte, dass der Drohbrief der Taliban von seinem Vater und seinem Bruder XXXX zunächst nicht ernst genommen worden wären. Mittlerweile - nach dem Tod des Vaters und einer weiteren Drohung - hätte XXXX aber Angst vor den Taliban und plane, seine Tätigkeit für die Amerikaner bald aufzugeben.
Im Falle einer Rückkehr fürchte er, von den Taliban getötet zu werden.
4. Der BF legte zwei Drohbriefe der Taliban im Original dem Bundesasylamt vor.
Mit dem ersten Brief vom 19.03.2010 wurde dem XXXX, dem Bruder des BF, und seiner Familie mitgeteilt, dass er seine Zusammenarbeit mit den Amerikanern unterlassen und sich der Talibanbewegung anschließen solle, da er ansonsten getötet werde.
Mit dem zweiten Brief vom 17.10.2010 wird dem XXXX und seiner Familie mitgeteilt, dass er trotz Warnung seine Tätigkeit für die Amerikaner fortgesetzt habe, und dass sein Vater dafür mit dem Tod bestraft worden wäre. Im Falle einer Festnahme wird auch dem XXXX der Tod angedroht.
Der BF legte dem Bundesasylamt auch einen am 08.06.2010 in englischer Sprache ausgestellten Dienstausweis seines Bruders XXXX vor. Aus diesem Ausweis mit einer Gültigkeitsdauer vom 27.05.2009 bis zum 08.09.2010 geht hervor, dass XXXX im Base Camp XXXX in der Küche tätig war.
5. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.08.2011, Zl. 11 01.762-BAL, wurde der Antrag des BF auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 idgF abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II) und der BF gemäß § 10 Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen (Spruchpunkt III).
Begründend wurde ausgeführt, dass die Angaben des BF zu seinen Fluchtgründen nicht plausibel, nicht substantiiert und inkonsistent erscheinen, weswegen dem Vorbringen die Glaubwürdigkeit abzusprechen wäre. Dies deshalb, weil der BF widersprüchliche Angaben über die Häufigkeit der Besuche seines Bruders im Elternhaus gemacht habe, und weil auch der BF selbst in den Drohbriefen nicht namentlich erwähnt worden wäre. Es wäre ihm auch als jungem, gesunden Mann durchaus zumutbar, im Falle einer Rückkehr seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsjobs zu verdienen.
6. Am 25.08.2011 langte beim Bundesasylamt eine Beschwerde gegen den Bescheid vom 10.08.2011 ein, die im Wesentlichen wie folgt begründet wurde:
Die unterschiedlichen Angaben betreffend die Häufigkeit der Besuche des Bruders fußten darauf, dass dieser zunächst ein bis zwei Mal pro Woche nach Hause gekommen wäre, nach den Drohungen aber aus Angst vor den Taliban nicht mehr. In den Drohbriefen würde sehr wohl auch der BF erwähnt, und selbst dann, wenn das nicht der Fall wäre, wäre jedenfalls der BF auch dadurch miterfasst, dass die ganze Familie des XXXX bedroht würde.
Auf Grund dessen, dass der Bruder des BF für die Amerikaner tätig sei, werde seitens der Taliban auch dem BF eine bestimmte politische Gesinnung unterstellt, und es liege daher eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen vor, vor der der BF nicht durch staatliche Institutionen geschützt werden könne.
7. Im Rahmen einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 03.09.2014 wiederholte der BF im Wesentlichen seine bereits bei der polizeilichen Ersteinvernahme bzw. vor dem Bundesasylamt getätigten Aussagen und machte folgende ergänzende Angaben:
Von seiner Schwester wisse er, dass sein Bruder XXXX seit 6 Monaten verschollen wäre. Er vermute, dass sein Bruder von den Dorfbewohnern verraten worden wäre, weil man ihm seine Arbeit nicht gegönnt habe.
Insgesamt waren die Angaben des BF vor dem Bundesverwaltungsgericht schlüssig und plausibel und im Einklang zu den im bisherigen Verfahren getätigten Angaben. Der BF konnte alle Detailfragen prompt und ohne lange Nachdenkpausen beantworten, insbesondere war auch die chronologische Reihenfolge der Geschehnisse konsistent und frei von Widersprüchen.
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Auf Grund des diesbezüglich glaubwürdigen Vorbringens des BF im Rahmen der polizeilichen Ersteinvernahme, beim Bundeasysamt und bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht können folgende Feststellungen getroffen werden:
Der BF ist afghanischer Staatsbürger und stammt aus der Provinz Laghman. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zum sunnitischen Glauben. Er verfügt über keine Schulausbildung und war abgesehen von einer kurzzeitigen Tätigkeit als Taxifahrer ausschließlich als Bauer in der Landwirtschaft seiner Familie tätig.
Der Bruder des BF war in Afghanistan für eine von den Amerikanern geführte Militärbasis tätig.
Der BF ist schlepperunterstützt illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am 19.02.2011 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zur Lage in Afghanistan:
Zur Lage in der Provinz Laghman:
Beamte geben zwischenzeitlich an, dass sich die Sicherheitslage in der Provinz im Vergleich zur Vergangenheit um 80 Prozent verbessert hat. Nun sind alle Straßen, die in die Bezirke führen, für den Verkehr geöffnet.
(Pajhwok: "Laghman security improved; problems in far-flung areas persist" vom 6. August 2013)
Justiz und Sicherheitsverwaltung:
Verwaltung und Justiz funktionieren nur sehr eingeschränkt. Neben der fehlenden Einheitlichkeit in der Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia und Gewohnheitsrecht), werden auch rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien nicht regelmäßig eingehalten. Trotz bestehender Aus-und Fortbildungsangebote für Richter und Staatsanwälte wird die Schaffung eines funktionierenden Verwaltungs-und Gerichtssystems noch Jahre dauern.
(Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 4. Juni 2013)
Richterinnen und Richter sind Bestechungsversuchen und Drohungen sowohl seitens lokaler Machthaber, Beamten aber auch Familienangehörigen, Stammesältesten und Angehöriger regierungsfeindlicher Gruppierungen ausgesetzt, was ihre Unabhängigkeit schwerwiegend beeinträchtigt. Die Urteile zahlreicher Gerichte basieren auf einem Gemisch von kodifiziertem Recht, Schari'a, lokalen Gebräuchen und Stammesgesetzen. Gerichtsprozesse entsprechen in keiner Weise den internationalen Standards für faire Verfahren. Die Haftbedingungen liegen weiterhin unter den internationalen Standards; sanitäre Einrichtungen, Nahrungsmittel, Trinkwasser und Decken sind mangelhaft, ansteckende Krankheiten verbreitet.
Die Afghanische Nationale Polizei [ANP] gilt als korrupt und verfügt bei der afghanischen Bevölkerung kaum über Vertrauen. Die afghanischen Sicherheitskräfte, die inzwischen praktisch im ganzen Land an vorderster Front kämpfen, werden auch künftig auf internationale Unterstützung sowie Beratung und Ausbildung angewiesen sein. Ein weiteres schwerwiegendes Problem stellt die hohe Ausfallquote dar: Rund 35 Prozent der Angehörigen der Afghanischen Sicherheitskräfte schreiben sich jedes Jahr nicht mehr in den Dienst ein. Die Desertionsrate in der Armee wird nur noch von jener der ANP übertroffen.
Die Taliban haben in den von ihnen kontrollierten Gebieten ihre eigenen parallelstaatlichen Justizsysteme eingerichtet. Ihre Rechtsprechung basiert auf einer äußerst strikt ausgelegten Interpretation der Shari'a; die von ihnen ausgeführten Bestrafungen umfassen auch Hinrichtungen und körperliche Verstümmelungen und werden von UNAMA teilweise als Kriegsverbrechen eingestuft.
(Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update vom 30. September 2013, S. 12f)
Eine Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis, die systematisch nach Merkmalen wie Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Überzeugung diskriminiert, ist nicht festzustellen. Fälle von Sippenhaft sind allerdings nicht auszuschließen (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 4.6.2013). Blutfehden können zu lang anhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Pashtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt. Wenn die Familie des Opfers nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann die Blutfehde ruhen, bis die Familie des Opfers sich in der Lage sieht, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters durch das formale Rechtssystem schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus.
Innerhalb der Polizei sind Korruption, Machtmissbrauch und Erpressung - ebenso wie in der Justiz - endemisch.
(Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes Afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013)
Risikogruppen:
In seinen "Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom August 2013" geht UNHCR (HCR/EG/AFG/13/01) von folgenden "möglicherweise gefährdeten Personenkreisen in Afghanistan" aus:
• Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen
• Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen
• Männer und Burschen im wehrfähigen Alter
• Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden
Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen die Scharia verstoßen haben
• Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch die Taliban verstoßen
• Frauen
• Kinder
• Opfer von Menschenhandel oder Zwangsarbeit und Personen, die entsprechend gefährdet sind
• lesbische, schwule, bisexuelle, transgender und intersexuelle Personen (LGBTI)
• Angehörige ethnischer (Minderheiten‑)Gruppen
• an Blutfehden beteiligte Personen
• Familienangehörige von Geschäftsleuten und anderen wohlhabende Personen
Die Aufzählung ist nicht notwendigerweise abschließend. Je nach den spezifischen Umständen des Falls können auch Familienangehörige oder andere Mitglieder des Haushalts von Personen mit diesen Profilen aufgrund ihrer Verbindung mit der gefährdeten Person inter-nationalen Schutzes bedürfen.
Überdies können nach den genannten UNHCR-Richtlinien "Menschenrechtsverletzungen einzeln oder zusammen eine Verfolgung darstellen, wie etwa:
• die Kontrolle über die Zivilbevölkerung durch regierungsfeindliche Kräfte einschließlich der Einführung paralleler Justizstrukturen und der Verhängung ungesetzlicher Strafen sowie der Bedrohung und Einschüchterung der Zivilbevölkerung, der Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Einsatz von Erpressungen und illegalen Steuern
• Zwangsrekrutierung
• die Auswirkung von Gewalt und Unsicherheit auf die humanitäre Situation in Form von Ernährungsunsicherheit, Armut und Vernichtung von Lebensgrundlagen
• steigende organisierte Kriminalität und die Möglichkeit von lokalen Machthabern ("Warlords") und korrupten Beamten, in von der Regierung kontrollierten Gebieten straflos zu agieren
• die systematische Beschränkung des Zugangs zu Bildung und zu grundlegender Gesundheitsversorgung
• die systematische Beschränkung der Teilnahme am öffentlichen Leben, insbesondere für Frauen
Interne Fluchtalternative:
Gemäß UNHCR besteht in umkämpften Gebieten keine interne Fluchtmöglichkeit. Da regierungsfeindliche Gruppierungen wie die Taliban, das Haqqani-Netzwerk oder Hekmatyars Hezb-e Islami über operationelle Kapazitäten verfügen, Personen im ganzen Land zu verfolgen, existiert für von diesen Gruppierungen bedrohte Personen auch in Gebieten, welche von der Regierung kontrolliert werden, keine Fluchtalternative. Die afghanische Regierung hat in zahlreichen Gebieten des Landes die effektive Kontrolle an regierungsfeindliche Gruppierungen verloren und ist dort daher nicht mehr schutzfähig. Betreffend der Verletzung sozialer Normen muss in Betracht gezogen werden, dass konservative Akteure auf allen Regierungsstufen Machtpositionen innehaben und dass weite Segmente der afghanischen Gesellschaft konservative Wertvorstellungen vertreten. UNHCR schließt für alleinerziehende Frauen ohne nahe männliche Angehörige eine innerstaatliche Fluchtalternative aus.
(UNHCR, Eligibility Guidelines, vom August 2013, S.72-78)
Rückkehrfragen:
Freiwillig zurückkehrende Afghanen kamen in den ersten Jahren meist bei Familienangehörigen unter, was die in der Regel nur sehr knapp vorhandenen Ressourcen (Wohnraum, Versorgung) noch weiter strapazierte. Eine zunehmende Zahl von Rückkehrern verfügt aber nicht mehr über diese Anschlussmöglichkeiten.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage, vom 10.01.2012, S. 28)
Ob ein Schutz in Kabul für Personen aus einer Konfliktregion gegeben ist, hängt sehr von der schwere des Konflikts ab, ob sie oder er in Kabul weiter verfolgt wird. Aufgrund der Stammesgesellschaft mit nahen Familiennetzen ist es kein Problem jemanden zu finden, wenn man es wirklich will. Auch den nationalen Behörden ist es möglich in Kabul Personen ausfindig zu machen. Die Problematik die sich jedoch dabei stellt, ist dass es in Afghanistan keine Registrierung der Adresse gibt.
(Danish Immigration Service, Report from Danish Immigration Service¿s fact finding mission to Kabul, vom 29.05.2012)
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen beruhen im Wesentlichen auf den schlüssigen, einander nicht widersprechenden Angaben das BF im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens und vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Der BF war in der Lage, im Laufe der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht auch auf Detailfragen des Richters, auf die im bisherigen Verfahren noch nicht eingegangen worden war, rasch und ohne Verstrickung in Widersprüche zu antworten. Es ist daher davon auszugehen, dass die Angaben des BF über dessen Fluchtgrund der Wahrheit entsprechen, und dass es sich beim Vorbringen des BF insgesamt um keine von diesem erdachte, eingelernte, frei erfundene Geschichte handelt.
Der Wahrheitsgehalt des Vorbringens wird auch durch die vorgelegten Beweismittel in Form zweier Drohbriefe und eines Dienstausweises des Bruders des BF gestützt.
Der BF konnte auf Vorhalt auch die im Bescheid des Bundesasylamtes festgestellten Widersprüche und nicht plausiblen Angaben aufklären und sein Fluchtvorbringen nachvollziehbar darstellen.
Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan stützen sich auf die zitierten Quellen. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibiliät ihrer Aussagen besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:
Gemäß § 75 Abs. 19 AsylG 2005 i.d.g.F. sind alle mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beim Asylgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren ab 1. Jänner 2014 vom Bundesverwaltungsgericht zu Ende zu führen.
Da die Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesasylamtes am 25.08.2011 beim Asylgerichtshof eingebracht und diese mit 31. Dezember 2013 noch nicht erledigt worden ist, ergibt sich die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes zu deren Erledigung.
Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz, BGBl. I 2013/10 (BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122 (im Folgenden: VwGVG), geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
3.2. Zu Spruchpunkt A):
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.
Flüchtling i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK (i.d.F. des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung."
Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. (vgl. zB. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen.
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183, 18.02.1999, 98/20/0468).
Nach der ständigen Judikatur muss die Verfolgung, um asylrelevant zu sein, nicht zwingend von staatlichen Institutionen ausgehen. Die Schutzbedürftigkeit ist auch bei Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure gleich, da es für den (potentiell) Verfolgten keinen Unterschied macht, vom wem die Verfolgung ausgeht, wenn der Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, die Verfolgung zu verhindern. In beiden Fällen ist es dem BF nicht zumutbar, sich des Schutzes des Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; VwGH 6.3.2001, 2000/01/0056; VwGH 4.4.2001, 2000/01/0301; VwGH 26.2.2002, 99/20/0509; VwGH 28.10.2009, 2006/01/0793). Dass es bei drohenden Übergriffen durch die Taliban seitens des afghanischen Staates aktuell am Willen bzw. an der Fähigkeit, ausreichenden Schutz zu gebieten, mangelt, ist amtsbekannt und lässt sich aus den aktuellen Länderfeststellungen entnehmen. Die afghanische Regierung ist weit davon entfernt, ihren Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit und Schutz vor Menschenrechtsverletzungen bieten zu können. (Vgl. Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan, vom 30.09.2013).
Gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs.1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind. Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (§ 11 Abs.2 leg.cit.)
Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht. (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011).
Es sei weiters betont, dass die Glaubwürdigkeit des Vorbringens die zentrale Rolle für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Asylgewährung einnimmt (VwGH vom 20.06.1990, Zl. 90/01/0041).
Die Wortfolge "glaubhaft zu machen" ist dahingehend zu verstehen, dass der Antragsteller die Behörde von der Wahrscheinlichkeit - und nicht etwa von der Richtigkeit - des Vorliegens einer bestimmten Tatsache zu überzeugen hat (VwGH Zl. 2004/10/0114 vom 09.09.2009, VwGH Zl. 2005/04/0120 vom 15.09.2006).
Im gegenständlichen Verfahren ist die Furcht des BF, er wäre im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt, wohlbegründet im Sinne der in den zitierten Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes zum Ausdruck gebrachten Kriterien. Der BF hat glaubhaft angegeben, dass seine Familie bereits mehrmals auf Grund der fortgesetzten Tätigkeiten des Bruders des BF auf einer amerikanischen Militärbasis mit dem Tod bedroht worden ist, und dass auch auf ihn selbst bereits einmal ein Schussattentat verübt worden ist. Die Echtheit der Drohbriefe ist unzweifelhaft und es geht daraus auch eindeutig hervor, dass der Vater des BF bereits den Vergeltungsmaßnahmen der Taliban zum Opfer gefallen ist. Die Furcht des BF, selbst verfolgt zu werden, ist somit wohlbegründet.
Um asylrelevant zu sein, muss die Verfolgung aus einem bestimmten, in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 der GFK abschließend genannten Grund, drohen. Zu prüfen bleibt demnach, ob dem BF Verfolgung auf Grund seiner politischen Gesinnung droht.
Im gegenständlichen Verfahren droht die Verfolgung deswegen, weil der Bruder des BF für die aus Sicht der Taliban feindlichen Amerikaner tätig gewesen ist und der BF und seine Brüder nicht bereit sind, mit der regierungsfeindlichen Gruppierung der Taliban zusammenzuarbeiten.
Als "politisch" kann jede Gesinnung qualifiziert werden, die für den Staat und das Gemeinwesen von Bedeutung ist (vgl. VwGH 12.9.2002, 2001/20/0310). Um dem Schutzgedanken der GFK gerecht zu werden, darf dabei der Begriff "Staat" nicht zu eng ausgelegt werden, sondern es sind dem Staat auch alle Gruppierungen gleichzuhalten, die faktisch im Staatsgebiet oder einem Teil desselben die Macht ausüben und das Gemeinwesen ordnen. In weiten Teilen Afghanistans üben die Taliban faktisch die Macht aus, sie repräsentieren in diesem Sinne gleichsam den "Staat". Wer durch sein Verhalten oder durch seine nach außen zu Tage getretene Einstellung zu verstehen gibt, dass er mit den Handlungen des Taliban-Regimes nicht einverstanden ist, offenbart damit eine "politische Gesinnung".
Schließlich ist auch davon auszugehen, dass dem BF innerhalb seines Herkunftslandes keine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht gemäß ständiger Rechtsprechung dann, wenn für den BF in einem Teil des Staates Verfolgungsfreiheit gegeben ist, er also die Möglichkeit hat, frei von Furcht zu leben. (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0430). Davon kann im verfahrensgegenständlichen Fall aber nicht ausgegangen werden, da die Taliban in ganz Afghanistan über ein ausreichend dichtes Netzwerk verfügen, um missliebige Personen bei Bedarf landesweit aufspüren zu können. Auf Grund des Umstandes, dass dem BF durch das Verhalten seines Bruders eine talibanfeindliche Gesinnung unterstellt wird, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Taliban nicht nur in der unmittelbaren Herkunftsregion des BF, sondern landesweit nach ihm suchen und ihn schließlich auch finden würden.
Da somit insgesamt sämtliche Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gegeben sind und in der Person des BF auch keine Asylausschluss- oder Endigungsgründe vorliegen, war dem BF der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen und festzustellen, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Es war daher gemäß Spruchpunkt A) zu entscheiden.
3.3. Zu Spruchpunkt B):
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Die maßgebliche Rechtsfrage im gegenständlichen Verfahren war, ob jemand, dem eine gegen die einflussreiche regierungsfeindliche Gruppierung der Taliban gerichtete politische Gesinnung unterstellt wird, der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt ist. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. (vgl. dazu die jeweils zitierten Erkenntnisse des VwGH). Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
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