BVwG W117 2122650-1

BVwGW117 2122650-18.11.2016

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2016:W117.2122650.1.00

 

Spruch:

W117 2122650-1/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Andreas DRUCKENTHANER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.02.2016, Zl. 14-1027195701/14850349, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

I. Die Beschwerde wird gemäß § 3 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchteil II. des Bescheides des Bundesasylamtes wird stattgegeben. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wird

XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 08.11.2017 erteilt.

IV. Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer hat am 04.08.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab er zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen Folgendes an:

Er habe im Herkunftsstaat den Militärdienst bereits absolviert. Die tschetschenische Behörde habe die jungen Leute eingesammelt, damit diese wieder einrückten, um in die Ukraine geschickt zu werden. Er hätte ebenfalls in die Ukraine in den Krieg ziehen sollen. Er habe jedoch bei seiner Familie bleiben und sein Leben nicht opfern wollen und sei daher aus seiner Heimat geflüchtet. Er habe im Fall der Rückkehr Angst davon, in den Krieg zu ziehen und dort sein Leben zu verlieren.

Weiters gab er an, er sei Tschetschene moslemischen Glaubens aus Tschetschenien, verheiratet und Vater von drei minderjährigen Kindern. Seine Eltern und vier Schwestern lebten noch im Herkunftsstaat. Zuletzt sei er Hilfsarbeiter gewesen. Er sei mit seinem Reisepass ausgereist, diesen habe er im Fluchtfahrzeug vergessen.

Nach einem Befund eines Krankenhauses im Bundesgebiet vom 08.08.2014 hatte der Beschwerdeführer einen Anfall bei bekannter Epilepsie. (Diagnose: "St.p. Krampfgeschehen bei bek. Epilepsie, V.a. Hepatopathie"). Einem weiteren Befund bzw. Kurzarztbrief vom 04.09.2015 ist zu entnehmen, dass die Epilepsie seit einem Stromunfall 2003 bekannt ist (Diagnose: "G40.3 Primär fokale sekundär generalisierte Epilepsie nach Stromunfall 2003")

Einer psychotherapeutischen Stellungnahme vom 02.02.2016 ist zu entnehmen, dass sich der Beschwerdeführer wegen der Diagnosen "posttraumatische Belastungsstörung, Epilepsie (G40.3)" in Kooperation mit einem universitären Institut für Psychologie befand.

Am 05.02.2016 wurde der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl auf Russisch einvernommen, wobei er im Wesentlichen vorbrachte, sowohl psychisch als auch physisch in der Lage zu sein, die Einvernahme zu absolvieren. Er leide an Epilepsie, habe öfter Anfälle und müsse immer Tabletten einnehmen. Er habe am Tag zuvor einen Anfall gehabt, doch es (die Einvernahme) gehe heute, wenn er Tabletten nehmen, gehe das. Er habe in der Russischen Föderation im Haus seines Vaters gelebt, er habe nichts gearbeitet, seine Eltern seien beide sehr krank, sonst lebten noch vier Schwestern in Tschetschenien, zu welchen Kontakt bestehe. Zu seinem Ausreisegrund gab er erneut die drohende Einziehung zum Militär zum Kampf in der Ukraine an. Er habe keine Einberufung erhalten und sei auch nicht gemustert worden, er wisse nicht, ob er tauglich wäre. Zum Vorhalt, dass er auf Grund seiner Krankengeschichte vermutlich nicht tauglich wäre und er außerdem der einzige Sohn sei, konnte er keine Angaben machen, er habe Angst vor dem Krieg gehabt. Medizinisch sei er gut behandelt worden. Weitere Fluchtgründe gebe es nicht. Eigentlich sei er selbst niemals konkret verfolgt worden. Auf die Frage, ob er Probleme mit den Behörden seines Heimatstaates gehabt habe, brachte er sodann vor, irgendwann im Jahr 2006 oder 2007, als er seinen Cousin habe retten wollen, geschlagen worden zu sein, mit dem Gewehr von der Polizei und sei danach eine Woche im Krankenhaus gewesen. Danach habe er keine Probleme mehr mit der Polizei gehabt. 2010 sei er eine Woche im Gefängnis gewesen, als ein Freund von einer Mine getötet worden sei. Sie seien beschuldigt worden, diese Mine eingegraben zu haben. Politisch sei er nicht aktiv, das interessiere ihn nicht wirklich. Ein Gerichtsverfahren sei nicht gegen ihn anhängig.

Mit angefochtenem Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen und ihm der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russland nicht zuerkannt. Es wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Russland zulässig sei. Gemäß § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG wurde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt.

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer verheirateter Tschetschene moslemischen Glaubens sei und an Epilepsie leide. Seine Eltern und vier Geschwister lebten noch in Russland. Sein Vorbringen zum Fluchtgrund sei nicht glaubhaft, da schon infolge seiner Krankengeschichte nicht von seiner Wehrdiensttauglichkeit auszugehen gewesen wäre. Auch auf Grund seines Alters von über 30 Jahren unterliege er nicht mehr der Wehrpflicht in der Russischen Föderation und hätte zudem Zivildienst beantragen können. Andere Fluchtgründe habe er nicht behauptet und seien auch nicht hervorgekommen. Er sei weder politisch aktiv gewesen, auch kein Mitglied einer Partei und habe weder wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch wegen seiner Religion Probleme mit den Behörden gehabt. Auch sonst habe ein Fluchtgrund nicht erkannt werden können. Er sei in Russland adäquat medizinisch behandelt worden, was sich aus den zahlreich vorgelegten Befunden ergebe, sein angegebener Fluchtgrund sei demnach ein vorgeschobener gewesen. Es gebe keine Hinweise auf eine ihm drohende existenzbedrohende Notlage im Fall der Rückkehr, da seine Verwandten nach wie vor in Russland lebten und er so wie vor der Ausreise im Haus seines Vaters leben könnte. Die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz lägen ebenfalls nicht vor. Auch im Familienverfahren seien die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl oder subsidiärem Schutz nicht gegeben. Es folgen Ausführungen zur Rückkehrentscheidung und zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung.

Mit Verfahrensanordnung vom 23.02.2016 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

Mit der vom Beschwerdeführer rechtzeitig erhobenen Beschwerde wurde der Bescheid zur Gänze angefochten. Neben handschriftlichen Ausführungen auf Russisch brachte der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Ehefrau vor, der Beschwerdeführer sei auf einer Hochzeit geschlagen und ins Gefängnis gebracht worden, nachdem er sich für seinen Neffen, welcher auf einer Hochzeit von Soldaten beleidigt und angegriffen worden sei, eingesetzt habe. Im Gefängnis habe er zwei Tage lang kein Essen und nichts zu Trinken bekommen und es habe kein Licht gegeben. Er sei auch sexuell missbraucht worden. Seitdem habe er immer stärkere Epilepsieanfälle und Erinnerungslücken bekommen. Als Beweis für seine psychischen und physischen Probleme lege er ärztliche Bestätigungen vor. Ua. wurde ein Arztbrief vom 09.02.2016 mit den Diagnosen "epileptische Anfallsserie, viraler Infekt der oberen Atemwege, nicht läsionale fokale, fallweise sekundär generalisierter Epilepsie" sowie eine psychotherapeutische Stellungnahme vom 29.02.2016 vorgelegt, wonach der Freund des Beschwerdeführers von einer Mine getötet und der Beschwerdeführer dessen beschuldigt worden sei. Ein Neffe des Beschwerdeführers, der gegen Kadyrov gekämpft habe, sei bei einer Hochzeit vom Militär angegriffen worden und der Beschwerdeführer habe versucht, ihm zu helfen. Dabei sei der Beschwerdeführer zusammengeschlagen und für zwei Tage in einen Gefängniskeller gebracht worden, wo es nichts zu Trinken und kein Licht gegeben habe und er sexuell vergewaltigt worden sei; trotz seines Zustands sei er gezwungen worden, sich zum Kriegsdienst in der Ukraine und Syrien zu stellen.

An der beim Bundesverwaltungsgericht am 12.04.2016 anberaumten öffentlichen, mündlichen Verhandlung nahm der Beschwerdeführer (BF1) gemeinsam mit seiner Ehefrau (BF2) in Anwesenheit einer Rechtsberaterin teil, während das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Verhandlung fernblieb. Dabei gaben der Beschwerdeführer (BF1) und seine Ehefrau (BF2) im Wesentlichen Folgendes an:

"[...]

Die BF2 gibt an: Die ergänzende Ausführungen im Rahmen der Beschwerde in russischer Sprache habe ich für meinen Gatten geschrieben. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass das Protokoll vom 05.02.2016, entgegen der Aufzeichnung, die Einvernahme nicht in russischer Sprache gehalten wurde, sondern in tschetschenischer Sprache.

VR befragt die BF2, ob sie den Dolmetscher gut verstehen; dies wird bejaht.

VR befragt die Beschwerdeführer, ob diese physisch und psychisch in der Lage sind, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen bzw. ob irgendwelche Hindernisse vorliegen:

BF1: Nein.

BF2: Ja.

[...]

R: Sie haben ausdrücklich angeführt, im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde, dass Sie selbst Tschetschenien/Russische Föderation verlassen, ohne eigene Probleme zu haben. Sie haben Tschetschenien/Russische Föderation wegen Ihres Gatten verlassen, ist das richtig so?

BF2: Ja.

R: D. h. wenn Sie alleine zurückgingen, würde Ihnen etwas drohen oder nicht drohen?

BF2: Ich kann ihn aber nicht allein lassen, in diesem Zustand.

R: Würde Sie man dort festnehmen?

BF2: Alle Bedrohungen auch mich.

R: Inwiefern?

BF2: Als er das letzte Mal bedroht wurde, war die ganze Familie in Panik, aus diesem Grund. Es heißt "du hast Kinder zu Hause, du hast Eltern". Das betrifft immer die ganze Familie.

R: Sie haben bei Ihrer Einvernahme am 05.02.2016 dargestellt, die Szenerie, wie man Ihren Gatten abholen wollte und nach dieser Darstellung in Ihrer Einvernahme vom 05.02.2016, kann ich ein Sie betreffendes Bedrohungsszenario nicht erkennen.

BF2: Sobald etwas meiner Familie und meinen Mann betrifft und die Kinder, die ich mit ihm gemeinsam habe, ist es natürlich auch eine Bedrohung von mir. Wenn er getötet wird, bleibe ich alleine mit den Kindern. Es wäre auch möglich, dass man mir nach Leib/Leben trachten würde, das kommt auch in Tschetschenien vor. Das ist durchaus möglich. Es wird auch sein Vater bedroht, weil er mit ihm verwandt, da schaut man nicht, ob das eine andere Person ist, es betrifft auch Eltern und Kinder. Sein Vater hat man festgenommen und verhört. "Wo ist dein Sohn?" hat man gefragt, seine Mutter hat einen Gehirnschlag und ist gelähmt. Diese Leute kümmern sich nicht um alte Eltern, die Frau, die Kinder.

R: Wer von den Familienangehörigen des Gatten leben noch in Tschetschienen?

BF2: Die Eltern und 4 Schwestern, die verheiratet sind. Er ist der einzige Sohn der Familie gewesen.

R: Wie muss ich mir die Familienverhältnis, der in Tschetschenien verblieben Familie vorstellen, von was leben die?

BF2: Wer Arbeit hat, der arbeitet, andere sind in Pension.

R: Was macht der Vater von ihm?

BF2: Er arbeitet zu Hause in der Landwirtschaft, sie haben ein paar Kühe zu Hause und um die kümmern sie sich. Er hat Steine bearbeitet, er war Maurer. Eine Schwester ist Lehrerin, die anderen sind Hausfrauen in Tschetschenien.

R: Ihre eigenen Familienangehörigen, wo leben die?

BF2: Meine Eltern und einen Bruder leben zu Hause in Tschetschenien. Eine Schwester ist hier in Österreich.

R: Welchen Aufenthaltstatus hat sie?

BF2: Sie ist Asylwerberin.

R: Wie muss ich mir Ihre wirtschaftliche Verhältnisse in Tschetschenien vorstellen, von was haben Sie gelebt?

BF2: Ich war Krankenschwester.

R: Haben Sie eine Ausbildung abgeschlossen?

BF2: Ja, ich habe die entsprechende Lehranstalt besucht.

R: Was hat Ihr Gatte gemacht?

BF2: Nach dem Studium arbeitete er als Lehrer. Das kann er jetzt mit seinem Problem nicht mehr.

R: Was hat er unterrichtet, was für ein Lehrer war er?

BF2: Zeichnen, er hat nur die untere Klassen, Volksschulklassen unterrichtet. Nach dem Studium hat er an der Schule ein Praktikum gemacht, dabei hat er auch Russisch gemacht.

R: Hat Ihr Gatte Matura?

BF2. Er war im Pädagogischen College.

R: Diese "Unfähigkeit" Ihres Gatten sich nicht in Russisch zu artikulieren, dass ist psychischer Natur?

BF2: Ja, das ist die Folge seines Gesundheitszustandes.

R: Sie haben in geordneten Verhältnissen in Tschetschenien gelebt?

BF2: Ja, bis die Probleme begangen.

R: Schildern Sie bitte die Probleme aus Ihrer Sicht im Detail.

BF2: Bevor wir hierherkamen, bekamen wir ein Problem. Bei uns im Dorf gab es in der Nachbarschaft eine Veranstaltung, das war eine Hochzeit, diese war im Mai 2014. Leute von der Nachbarstraße haben geheiratet. Das ist so üblich, dass man auch die die Nachbarschaft zur Hochzeit einlädt, dass ist die tschetschenische Mentalität, da muss man dabei sein.

VR: Was ist da passiert?

BF2: Es kam zu einer Prügelei wegen seines Neffen haben dort Militärangehörige tschetschenischer Nationalität gestritten, es waren Leute mit Tarnuniform, ich weiß nicht, für wen sie gearbeitet haben. Es setzte sich für seinen Neffen ein, weil er nicht sehen konnte, wie er geschlagen wurde.

VR: Was war der Anlass, dass diese gegen den Neffen gegangen sind?

BF2: Ich weiß nicht, welchen Grund sie hatten, mein Mann hat jedenfalls einen Neffen verteidigt.

VR: Was ist da passiert?

BF2: Diese Leute in Militäruniformen haben sie geschlagen und mitgenommen.

VR: Wohin mitgenommen?

BF2: Das wissen wir nicht.

VR: Wissen Sie dann, was dann nachher passiert ist?

BF2: Ich weiß nur, was er mir erzählt hat, wenn er sich noch erinnert.

VR: Wann ist er wieder zu Ihnen gekommen der Gatte, wann wurde er freigelassen?

BF2: Ich glaube es war am dritten Tag danach, zwei Tagen hielten sie ihn fest.

VR: Jetzt haben Sie in Ihrem Verfahren und auch der Gatte in seinem Verfahren bei der Verwaltungsbehörde nur ins Treffen geführt, wegen "drohender Wehrdiensteinziehung" geflüchtet zu sein, dass was Sie heute sagen, haben Sie erstmals in der Beschwerde vorgebracht. Wieso haben Sie das nicht so bei der Verwaltungsbehörde gesagt?

BF2: Er verwechselt immer die Ereignisse, er weiß nicht, er beginnt immer von hinten, er hätte es anders sagen müssen.

VR: Sie haben selber, mit keinem Wort, in Ihrer eigenen Befragung angedeutet, Sie haben nur die "drohende Wehrdiensteinziehung" angegeben, warum haben Sie selbst nichts gesagt?

BF2: Man hat mich nur gefragt, ob ich bestätigen kann, was mein Mann gesagt hat. Darauf sagte ich "ja", ohne genau zu wissen, was er wirklich geäußert hat, sonst hätte ich das korrigieren oder ergänzen können.

VR: Wenn ich Ihnen Ihre Einvernahme in groben Zügen vorhalte, Sie wurden ausdrücklich ersucht, möglichst detailliert, Flucht- und Asylgründe bekanntzugeben. Es wurde Ihnen nicht bloß die Frage gestellt, ob die Gründe des Gatten stimmen. Dann haben Sie ausführlich, ohne dass der Einvernehmer, Sie auf den Gatten angesprochen hat, von dieser drohenden "Wehrdiensteinberufung" gesprochen. Haben dann im Detail einen Vorfall dargelegt, wie man Sie bedrängt hätte, die ganze Familie, weil man den Gatten abholen wollte. Dann wurde auch die Frage noch abschließend gestellt: "Haben Sie alle Fluchtgründe genannt?". Sie haben nicht nur mit einem "ja" oder "nein" geantwortet und Sie haben ausdrücklich angegegeben:

"Weitere gibt es nicht": Von der Hochzeit und im Zuge der Hochzeit sich ergebenden Probleme, kein Wort. In Bezug auf die Krankheit des Gatten, haben Sie angeführt, "mein Mann ist krank, vermutlich oder ziemlich sicher nicht wehrfähig". Sie haben bejaht, dass man den Gatten in dessen Zustand nicht einberufen kann, weil man ihn keine Waffe in die Hand geben kann. Was offensichtlich augenscheinlich ist oder war. Im Verfahren ist herausgekommen, dass er schon seit 2003 an Epilepsie leidet.

BF2: Ja, da war er noch nicht in den Zustand, wie jetzt. Der Anfall war aus und dann ist er wieder "normal" gewesen.

VR: Auch in Österreich würde man beim Bundesheer einen Epileptiker nie eine Waffe in die Hand drücken.

BF2: Bei uns ist es durchaus üblich, dass man Kranke auch zum Militär einzieht. Im Jahr 2014 hat man nach den Ereignissen in der Ukraine, Burschen, die schon eine Schussverletzung an der Kehle hatten und nicht sprechen konnten, zum Militärdienst eingezogen, bei uns keiner fragt keiner, welcher Krankheit er hat.

VR: Betreffend der Hochzeit und den Problemen haben Sie damals aus freien Stücken auch erzählen können.

BF2: Hätte ich schon, aber der Referent hat mir nur gesagt, ich solle nur bestätigen, was der Mann gesagt hat, das habe ich nicht gewusst. Außerdem war der Referent sehr "grob" zu uns und sagte, dass wir ohnehin einen negativen Bescheid erhalten würden. Er ist mich gleich so angefahren, der Referent, ich muss mich immer um meinen Mann kümmern, alle Termine gemeinsam mit meinem Mann wahrnehmen. Ich kann nicht wissen, was er gesagt hat. Erst jetzt, nachdem er ein Jahr lang in diesem Ort lebt, hat er sich einen Orientierungspunkt gemerkt. Er findet jetzt in einem Geschäft. Ich sage ihm: "Kaufe Brot und noch etwas" und er erinnert sich nur eines der Sachen. Wenn man glaubt, ich sage die Unwahrheit, kann man das in den Diagnosen nachlesen. Ich muss genau schauen, dass er seine vorgeschriebenen Tabletten einnimmt.

VR: Warum ich doch etwas Zweifel an der Einberufung Ihres Gatten habe. Ich habe mir die Ländersituation in der Ukraine angeschaut und auf Seiten der prorussischen Einheit, es kämpfen Tschetschenen für die Ukrainer und für die russische Seite. Die Tschetschenen, die für die russische Seite kämpfen, das sind der Zahl nach 300 - 400, das sind Leute im "Dunstkreis" von KADYROW "Elitesöldner". Wenn man sich diese Einheit anschaut, dann mag sein, dass dort Verletzte auch mitkämpfen, ich kann mir nie und nimmer vorstellen, dass man so psychisch schwer angeschlagene Leute, wie Ihren Gatten, dort einsetzen würde.

BF2: Man fragt nicht, ob jemand krank ist. Es geht nur um die Anzahl. Niemand sagt: "Schau, wie schlecht es ihm geht.".

VR: Nachdem ich den Akt zugeteilt erhielt, weil die ursprünglich vorgesehen Richterin, den Akt an mich antrat, wegen der behaupteten Geschlechtssphäre des BF und wir auch extra eine männliche Schreibkraft zu diesem Zwecke eine männliche Schreibkraft hier sitzen haben, bleibt es Ihnen frei, Details über die Behandlung Ihres Gatten vorzubringen oder aber auch nichts dazu zu sagen. Hat Ihnen der Gatte im Detail über den Vorfall gesagt?

BF2: Er hat mir nichts über Details gesagt, ich glaube, ich würde über so etwas würde kein Mann detailliert erzählen wollen und schon gar nicht ein Mann mit unserer Mentalität und mit unserem Gepflogenheiten, wahrscheinlich hängt es gar nicht von der Mentalität ab, niemand möchte gerne Einzelheiten darüber sagen.

VR: Gilt für die Kinder dasselbe, in Bezug, dass was auf Sie gilt?

BF2: Ja.

Festgehalten wird, dass die Verfahren, die BF2 und die Kinder betreffend, im Rahmen eines Familienverfahrens fortgesetzt werden, dies schließt aber nicht aus, dass eine Gewährung internationalen/subsidiären Schutzes, nicht auch aus eigenen Gründen möglich wäre.

RB hat keine Fragen und Vorbringen und auch keine Anträge.

BF2 gibt noch ergänzend an: Mein zweiter Sohn, XXXX, er hatte bei seiner Geburt einen erhöhten Schädelinnendruck und eine Infektion. Er wurde behandelt, ich habe hier die Befunde. Immer wenn er aus einen Grund zu weinen begann, dann konnte er mit dem Weinen nicht aufhören, bis er in Ohnmacht fiel, das hat er heute auch noch. Vor einem Jahr hatte er eine Behandlung, man hat dabei eine Infektion festgestellt. Einen Behandlungszyklus haben wir gemacht, mehr ging sich nicht aus. Er ist dann - wenn er gemeint hat - zumindest nicht mehr in Ohnmacht gefallen, er wurde "dunkel-schwarz". Jetzt hat sich das wieder verschlechtert. Er weint in der Nacht, wird ganz verschreckt munter.

VR: Er wäre schon schulpflichtig, geht er in die Schule?

BF2. Ja, er geht in die Schule, lernt normal. In der Nacht kommen aber immer diese Anfälle, in dem er zu Weinen beginnt.

VR: Auswirkungen auf die Schulleistungen hat es nicht?

BF2: Richtig, er lernt gut, hat einen guten Schulerfolg, er hat nur die Probleme, wenn es irgendeinen Grund zu weinen beginnt und wenn er schläft und weint.

VR: Jetzt ist er nicht in medizinscher Behandlung?

BF2: Vor allem haben wir uns auf die Behandlung meines Mannes konzentriert. Dann war ich schwanger und wir hatten noch nicht genügend Gelegenheit, um die Behandlung von XXXX zu kümmern.

VR: Bei den anderen Kindern, gibt es da besondere Umstände?

BF2: Bei den anderen Kindern läuft alles normal.

VR: Ist XXXX ist im Kindergarten?

BF2: Ja, es ist alles OK.

VR: Wo ist XXXX?

BF2: Zu Hause, auf ihr wird aufgepasst.

Hinsichtlich von XXXX kann ich medizinische Unterlagen aus Russland vorlegen. In Österreich habe ich ihn deshalb nicht behandeln lassen, weil man mir und meinen Mann ohnehin unterstellt hätte, dass wir nur zum Zwecke der Behandlung nach Österreich gekommen seien. So habe ich nur das Krankenhaus im Falle meiner letzten Geburt, in Anspruch genommen. Wir haben ihn zu behandelt, ich habe auch alles für meinen Mann gemacht. Es ist sehr schwer, alles zu vereinbaren.

VR: Können Sie etwas Deutsch?

BF2: Ja, ich besuche Kurse, A1, A2, habe ich einen Vorprüfung gemacht. Die Kurse besuche ich immer.

VR: Wollen Sie von sich aus noch etwas sagen

RB legt noch vor eine Ambulanzkarte, aus der sich ergibt, dass morgen, um 10 Uhr, eine EEG-Untersuchung des Gatten und um 13 Uhr eine Kontrolle in der Schlaflaboramublanz stattfindet.

Die Verhandlung wird zum Zwecke der Einholung eines SV-Gutachens, auf unbestimmte Zeit vertagt.

[...]"

Nach dem Ergebnis des seitens des Bundesverwaltungsgerichtes eingeholten psychiatrisch-neurologischen Gutachtens vom 20.05.2016 besteht beim Beschwerdeführer aus neurologischer Sicht "ein epileptisches Anfallsgeschehen iSe primär fokalen und sekundär generalisierten Epilepsie" sowie aus psychiatrischer Sicht "ein sehr leichtgradiges organisches Psychosyndrom mit einem leichtgradig umständlichen Sprach- und Gedankengang, Störungen der Konzentrationsfähigkeit und auch subjektiv angeführten Gedächtnisstörungen". Weiters besteht beim Beschwerdeführer "eine Anpassungsstörung mit vorwiegender Störung von anderen Gefühlen (ICD-10: F43.23)". Der Beschwerdeführer ist antiepileptisch medikamentös eingestellt. Bezüglich der psychischen Auffälligkeiten wird eine medikamentöse Einstellung auf ein schlafanstoßendes Antidepressivum empfohlen.

Die Epilepsie würde bei einer Rückkehr nach Tschetschenien bei entsprechender Weiterführung der Medikation keine Veränderung erfahren, könnte jedoch eine psychische Belastung des Betroffenen darstellen, die zu einer zumindest vorübergehenden Verschlechterung der Anpassungsstörung führen könnte. Die Voraussetzungen für eine Sachwalterschaft seien aber nicht gegeben.

Mit Schreiben vom 08.08.2016 wurden ärztliche Befunde für den Beschwerdeführer vom 08.07.2016 mit der Diagnose "fokale Epi" vorgelegt.

In der fortgesetzten Verhandlung beim Bundesverwaltungsgericht am 08.09.2016 gaben der Beschwerdeführer (BF1) und seine Ehefrau (BF2) in Anwesenheit einer Rechtsberaterin Folgendes an:

"Festgehalten wird, dass zwischenzeitlich der BF1 einer psychiatrischen-neurologischen Untersuchung zugeführt wurde, welche ihm bescheinigt, dass er an Epilepsie leide, dass weiters eine Anpassungsstörung vorliege, welche ihn aber nicht unfähig mache, im Rahmen einer Verhandlung einiger Maßen schlüssige Angaben zu tätigen, wobei aber festgehalten wurde, dass die Einvernahmefähigkeit auf Grund der fassbaren Konzentrationsstörung und der Umständlichkeit des Gedankenganges ein "leichtgradig eingeschränkt" zu bewerten ist und bei Bedarfsfall mehrere Pausen einzulegen wären. Im Gutachten wird zusätzlich eine weitere nervenärztliche Behandlung mit entsprechender medikamentöser Einstellung, auch ein schlafanstoßendes Antidepressivum empfohlen. Leichtgradige Gedächtnisstörungen seien durch das fassbare leichtgradige organische Psychosyndrom bei epileptischem Anfallsleiden als möglich zu erachten.

Festzuhalten sei nach diesem Gutachten, dass eine Rückführung nach Tschetschenien entgegne den Wünschen und Zielen des Beschwerdeführers eine psychische Belastung darstellen könnte, die zu einer weiteren Verschlechterung der Anpassungsstörung führen könnte.

Festgehalten wird auch, dass bei der psychiatrischen Begutachtung, die Kommunikation des BFs mit dem Gutachter erforderte, der heute zugezogene Dolmetscher als Übersetzer fungierte. Der Dolmetscher gab gleich zu Beginn der Verhandlung bekannt, dass die Kommunikation mit dem BF1 erschwert gewesen sei; verstanden dürfte er ihn aber gut haben.

VR an BF1 an BF2:

BF1 und BF2: Wir verstehen den BF.

VR: Wie fühlen Sie sich heute?

BF1: Es geht.

VR befragt den Dolmetscher, ob gemäß § 39a iVm § 53 AVG iVm § 7 Abs 1 Z 1 bis 3 und 5 AVG Gründe einer Befangenheit vorliegen; dies wird verneint.

VR befragt die Parteien, ob sie Umstände glaubhaft machen können, die die Unbefangenheit des Dolmetschers in Zweifel stellen; dies wird verneint. Der Dolmetscher ist für die Übersetzungstätigkeiten gerichtlich beeidet.

VR ermahnt den Dolmetscher, die Wahrheit anzugeben und nichts zu verschweigen und belehrt über die strafrechtlichen Folgen eines falschen Gutachtens (§289 StGB).

VR befragt die BFs, ob sie den Dolmetscher gut verstehen; dies wird bejaht.

VR befragt die Beschwerdeführer, ob diese physisch und psychisch in der Lage sind, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen bzw. ob irgendwelche Hindernisse vorliegen:

BF1: Nein.

BF2: Ja.

[...]

BF2 legt vor:

RV legt vor:

Betreffend BF1:

(Es werden Kopien angefertigt und der Verhandlungsschrift beigefügt.)

VR: Warum sind Sie in psychotherapeutischer Behandlung?

BF2: Ich bin da im Rahmen einer "Frauengruppe" in psychotherapeutischer Behandlung, wegen der Vorkommnisse in Tschetschenien.

[...]

VR an BF1: Welche Schule haben Sie in Tschetschenien besucht, welche Berufsausbildung haben Sie erfahren?

BF1: Ich habe einen Maturabschluss gemacht. Wann ich mit der Schule angefangen habe, weiß ich nicht mehr.

R: Was haben Sie in Tschetschenien gearbeitet?

BF1: Ich habe die Pädagogische Schule in Tschetschenien abgeschlossen, ungefähr ein Jahr habe ich als Lehrer gearbeitet. Wegen psychischer Probleme und Störungen konnte ich nicht mehr weiterarbeiten.

R: Was haben Sie da unterrichtet, welche Fächer, in einer Volksschule, Mittelschule?

BF1: Sport und "Leistungsfach".

R: Warum haben Sie Tschetschenien verlassen?

BF1: Ich habe viele Probleme gehabt, ich konnte nicht mehr dort bleiben. Meine Probleme sind wegen einem Cousin angefangen. Ich wollte ihm helfen, das war bei einer Hochzeit, deshalb habe ich selber Probleme bekommen. Ich wurde entführt. Ich war ungefähr zwei, drei Nächte lang in einem Erdloch drinnen. Ich konnte nicht weiter in Tschetschenien bleiben, deshalb bin ich nach Österreich geflüchtet.

R: Was hat sich bei dieser Hochzeit ereignet?

BF1: Bei dieser Hochzeit hat mein Cousin mit tschetschenischen Militärleuten gestritten.

R: Um was ging es bei dem Streit?

BF1: Ich weiß es nicht genau, ich glaube es wegen des Tanzens, wer bei der Hochzeit gerade dran war zu tanzen.

R: Wie ging es weiter? Sie haben sich eingemischt, waren Sie dabei?

BF2: Ich war bei der Hochzeit zwar dabei, habe die Gäste bedient.

R: Haben Sie den Vorfall gesehen?

BF2: Ich hatte dann den Vorfall, wie er sich entwickelte hatte, natürlich mitbekommen.

R: Was haben Sie dann gemacht?

BF1: Ich wollte meinen Cousin unterstützen, helfen. Deshalb habe ich auch selber Probleme mit den Militärleuten bekommen, weil ich mit in den Streit eingemischt habe.

R: Ist der Streit eskaliert?

BF1: Der Streit eskalierte und dann haben die Militärleute, alle in der Nähe befindlichen Personen auch mit ihren Gewehrkolben geschlagen.

R: Wie viele Militärs waren dort?

BF1: Es waren mindestens zehn Militärs.

R: Warum haben diese zehn Militärs an der Hochzeit teilgenommen?

BF1: Diese Militärleute waren zu dieser Hochzeit auch eingeladen.

R: Warum eigentlich?

BF1: Weil ein Teilnehmer der Hochzeit mit einem Militär verwandt war, deshalb war zehn Leute des Militär da.

R: Hat der Cousin bei der Hochzeit geheiratet?

BF2: Die Hochzeit fand überhaupt bei den Nachbarn statt, der Cousin und wir waren eingeladen.

R: Es eskalierte und wie ging es dann weiter?

BF1: Die Militärs haben mich stark geschlagen und haben mich festgenommen. Sie haben mich von der Hochzeit weggenommen.

R: In das Erdloch wurden Sie gleich gesteckt?

BF1: Ich wurde sofort in das Erdloch gesteckt. Ich war ein paar Mal bewusstlos. Ich weiß es nicht, wie lange das gedauert hat, wie lange ich entführt war, aber ich war ungefähr zwei bis drei Nächte in diesem Erdloch gefangen.

R: Wurden Sie befragt oder wurden Sie dort nur festgehalten worden?

BF1: Es wurden an mich überhaupt keine Fragen gestellt, sie haben gar nicht gesprochen.

R: Wie sind Sie dann freigekommen?

BF1: Nach ungefähr zwei, drei Nächten habe meine Verwandte mit Militärleuten es ausgemacht und ich wurde freigelassen.

R: Ist bei diesem "Ausmachen" etwas gezahlt worden?

BF1: Es wurde Lösegeld für meine Freilassung bezahlt, das waren ungefähr 6.000 US-Dollar.

R: Wann war das zeitlich ungefähr, in welchem Jahr und in welcher Jahreszeit?

BF1: Das war im Sommer 2014.

R: Wann haben Sie Land verlassen?

BF1: Nach dem Vorfall im Jahr 2014 habe ich das Land verlassen.

R: Wie lange danach?

BF1: Es war max. ein Monat nach dem Vorfall, dann haben wir Tschetschenien verlassen.

R: Waren Sie psychisch vor dieser Festnahme durch die Militärs "angeschlagen" oder ist Ihr Krankheitsbild nach der Festnahme aufgetreten?

BF1: Ich habe früher auch psychische Probleme gehabt, aber das war nicht so schlimm.

R: Was haben Sie für psychische Probleme schon vorher gehabt?

BF1: Epilepsie.

R: Angststörung, Anpassungsstörung und Konzentrationsstörung hatten Sie das schon immer gehabt?

BF1: Ja, ich hatte früher auch diese Störungen.

BF2: Aber früher war es nicht so schlimm auch nicht mit der Epilepsie, aber nach der Entführung ist sehr stark und intensiv geworden.

R: Nachdem Sie freigelassen wurden, was war dann der eigentlich der Anlass für das Verlassen Tschetscheniens? Was hätte Sie nach der Freilassung gehindert, ein einiger Maßen normales Leben in Tschetschenien zu führen?

BF1: Nach diesem Vorfall sind die Militärleute ein paar Mal zu uns nach Hause gekommen. Sie haben sogar meinen Vater entführt.

R: Nach Ihrer Inhaftierung?

BF1: Ja.

R: In diesem einem Monat?

BF1: Nachdem ich Tschetschenien verlassen habe und in Österreich war.

R: Die Militärs sind öfter zu Ihnen gekommen, was wollten die?

BF1: Ich weiß nicht genau, ob dieselben Leute zu uns gekommen sind, ich vermute, dass es dieselben Militärleute waren, mein Vater wurde immer gefragt: "Wo ist dein Sohn?". Mein Vater wurde immer wieder gefragt, wo ich mich befinde.

R: Haben Sie Militärdienst geleistet in der Russischen Föderation?

BF1: Nein.

R: Waren Sie jemals selbst politisch tätig?

BF1: Nein.

R: Die von Ihnen geschilderte Fluchtgeschichte hat unpräjudiziell gesehen, einen privaten Hintergrund, ist das richtig?

BF1: Ich teile die Meinung nicht. Nach meiner Meinung, dass ist die politische Verfolgung, nicht private. Wenn ein Mann ein Problem mit dem Militär hat, dann wird er immer politisch verfolgt. Er muss immer das tun, was die Militärleute ihm sagen. Ich kenne viele Vorfälle, dass solche Leute in die Ukraine oder Syrien zum Kämpfen geschickt worden sind. Ich weiß ganz genau, dass die mich nie in Tschetschenien in Ruhe lassen werden.

R: Wenn Sie heute nach Tschetschenien gehen würden, wie würden Sie das Leben, wenn Sie nicht verfolgt würden bestreiten?

BF1: Es wird für mich sehr schwer mein Leben in Tschetschenien zu bestreiten, wegen meiner gesundheitlichen Beschränkungen.

BF2: Es ist allgemein sehr schwer eine Arbeit zu finden in Tschetschenien.

BF1: Auf Grund meines gesundheitlichen Zustandes ist es überhaupt nicht möglich. Auch eines meiner Kinder leidet an einer bestimmten Krankheit, auch (wahrscheinlich) an Epilepsie.

R: Die anderen Kinder sind gesund?

BF2: Die anderen Kinder sind gesund.

BF1: Nur ein Sohn ist krank.

R: Wie sieht Ihre Lage in Österreich aus? Haben Sie in der Zwischenzeit einen Deutschkurs besucht?

BF1: Ich besuche zurzeit einen Deutschkurs.

BF2: Ich habe den A1-Kurs gemacht.

R: Wo sind Sie untergebracht?

BF1: In XXXX.

R: Was ist mit den Kindern, gehen die in den Kindergarten, Schule?

BF2: Zwei Söhne von mir gehen in die Schule und meine Tochter geht in den Kindergarten.

BFV legt vor:

R: Was machen Sie sonst in Österreich, betätigen Sie sich ehrenamtlich, wie verbringen Sie den Alltag?

BF1:

BF2: Wir besuchen die Kurse, wir lernen die deutsche Sprache. Unsere Kinder befinden sich einem besonderen Kinderprojekt. Die Kinder werden da für die Schule vorbereitet. Es gibt XXXX, das unterstützt uns als Familie auch. Die kommen zu uns und die führen mit uns Gespräche. Die helfen uns, auf die Kinder aufzupassen, wir machen auch Ausflüge zusammen. Wir haben auch Kontakt mit Österreichern in Klagenfurt, z. B. die Lehrerin meines zweiten Sohnes hat eine gute Beziehung zu uns. Sie kommt jede Woche einmal zu uns. Sie hilft auch bei den Hausübungen für meine Kinder. Meine Kinder gehen auch zur Familie dieser Lehrerin zu Besuch und manchmal kommen die Kinder auch zum Übernachten. Am Wochenende gehen wir im Park spazieren. So schaut unser Alltag aus.

R an BF2: Wenn Sie nach Tschetschenien zurückkehren müssten, was könnten Sie beruflich überhaupt machen?

BF2: Als ich in Tschetschenien gewesen bin, habe ich als Helferin bei einem Hausarzt gearbeitet.

R: Sind Sie da mitgegangen oder waren Sie in der Praxis?

BF2: Wir haben mit dem Arzt die Leute besucht, wenn es notwendig war und die Leute sind auch zur Behandlung zu uns gekommen.

R: Welche Ausbildung haben Sie?

BF2: Ich habe ein Medizinisches College abgeschlossen. Ich habe ca. zehn Jahre im medizinischen Bereich gearbeitet. Ich habe auch viele medizinische Zertifikate.

R: Haben Sie diese auch mit oder in Österreich?

BF2: Nein, leider nicht. Ich habe alles in Tschetschenien gelassen, hätte ich das gewusst, hätte ich alle Unterlagen mitgenommen. Ich möchte die deutsche Sprache gut lernen, dann möchte ich in Österreich in derselben Richtung tätig sein.

R an BF1: Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft in Österreich vor, wenn Sie bleiben könnten?

BF2 antwortet: Wenn sich der gesundheitliche Zustand meines Mannes verbessert, wird er auch eine Arbeitsstelle finden und mit dieser Arbeit anfangen.

R: Wollen Sie noch etwas sagen?

BF2: Wir möchten keine zusätzlichen Angaben machen, wir haben nur die Wahrheit gesagt und bitten um eine Unterstützung und Hilfe.

Verlesen wird das in Verwendung befindliche Länderdokumentationsmaterial, das Urteil wird auf Berichten der Staatendokumentation aufbauen, welche ihrerseits eine Vielzahl verschiedenster Quellen einschließt. Zur allgemeinen Lage in Tschetschenien ist anzumerken, dass die Menschenrechtssituation sich als sehr bedenklich darstellt, aber daraus kein Anspruch auf subsidiären Schutz abgeleitet werden kann, vielmehr ist der Einzelfall zu prüfen.

[...]"

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Sachverhalt:

Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der Volksgruppe der Tschetschenen sunnitisch-muslimischen Glaubens. Er ist verheiratet (Beschwerdeführerin zu W117 2122654-1) - die Gattin ist (gleichfalls) psychisch krank und hat vier minderjährige Kinder (Beschwerdeführer zu W117 212653-1, W117 2122652-1, W117 2122651-1 und W117 2122647-1).

Seine kranken Eltern und vier Schwestern leben nach wie vor in Tschetschenien, ebenso die Schwiegereltern und ein Bruder seiner Ehefrau.

Der Beschwerdeführer leidet an Epilepsie, einem sehr leichtgradigen organischen Psychosyndrom sowie einer Anpassungsstörung mit vorwiegender Störung von anderen Gefühlen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in der GFK genannten Gründen droht.

Aufgrund der beim Beschwerdeführer infolge seiner Erkrankungen fehlenden Arbeitsfähigkeit als Lehrer ist trotz der bestehenden familiären Anknüpfungspunkte bzw. der Unterkunftsmöglichkeit bei seinen ebenfalls kranken Eltern davon auszugehen, dass er im Fall der Rückkehr den notwendigen Lebensunterhalt für seine Familie nicht wird erwirtschaften können. Auf Grund der für den Beschwerdeführer derzeit erforderlichen Betreuung durch seine derzeit ebenfalls in psychotherapeutischer Behandlung befindliche Ehefrau kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass diese, welche auch vier minderjährige Kinder zu betreuen hat, so wie vor der Ausreise einer Erwerbstätigkeit als Ordinationshilfe wird nachgehen können, zumal ein Sohn (Beschwerdeführer W117 2122647-1) ebenfalls an Epilepsie leidet und psychische Probleme hat. Insgesamt droht dem Beschwerdeführer und seiner Familie derzeit die reale Gefahr im Fall der Rückkehr nach Tschetschenien in eine existenzbedrohende Lage zu geraten.

Der Beschwerdeführer ist unbescholten, andere Ausschlussgründe sind nicht hervorgekommen.

Zur Situation im Herkunftsstaat:

Politische Lage

Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 21 Republiken der Russischen Föderation. Betreffend Fläche und Einwohnerzahl - 15.647 km2 und fast 1,3 Millionen Einwohner/innen (2010) - ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russ/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

Den Föderationssubjekten stehen Gouverneure vor. Gouverneur von Tschetschenien ist Ramsan Kadyrow. Er gilt als willkürlich herrschend. Russlands Präsident Putin lässt ihn aber walten, da er Tschetschenien "ruhig" hält. Tschetschenien wird überwiegend von Geldern der Zentralregierung finanziert. So erfolgte der Wiederaufbau von Tschetscheniens Hauptstadt Grosny vor allem mit Geldern aus Moskau (BAMF 10.2013, vgl. RFE/RL 19.1.2015).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrov als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres System geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und größtenteils außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert. Insbesondere die tschetschenischen Sicherheitskräfte, die offiziell zwar dem russischen Innenministerium unterstellt sind, de facto jedoch von Kadyrov kontrolliert werden, agieren ohne föderale Aufsicht. So blockieren tschetschenische Sicherheitskräfte seit Monaten die Untersuchungen der föderalen Behörden im Fall des im Februar 2015 ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzov, dessen Drahtzieher in Tschetschenien vermutet werden. Im April 2015 - nachdem Polizisten aus der benachbarten Region Stawropol eine Operation in Grozny durchgeführt hatten - forderte Kadyrov seine Sicherheitsorgane auf, auf Polizisten anderer Regionen zu schießen, sollten diese ohne Genehmigung in Tschetschenien operieren. Gegen Extremisten, aber auch gegen politische Gegner, wird hart vorgegangen. Auch die Familien von Terrorverdächtigen werden häufig Repressionen ausgesetzt. Im Gegensatz zu Dagestan und Inguschetien wurden keine "soft power"-Ansätze wie die Gründung von Kommissionen zur Rehabilitierung ehemaliger Extremisten verfolgt. Das tschetschenische Parlament hat Anfang 2015 der Staatsduma vorgeschlagen, ein föderales Gesetz anzunehmen, das eine strafrechtliche Verantwortung für Angehörige von Terroristen vorsieht, wenn sie diese in ihren Aktivitäten unterstützten.

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 1.6.2016b).

Nordkaukasus allgemein

Die patriotische Begeisterung, mit der in Russland die Annexion der Krim einherging, rückte die Sicherheitslage im Nordkaukasus in ein trügerisch positives Licht. Dieser Landesteil ragt in der nachsowjetischen Periode aus dem regionalen Gefüge der Russischen Föderation wie kein anderer hervor, bedingt durch die zwei Kriege in Tschetschenien, anhaltende Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und einem bewaffneten islamistischen Untergrund in weiteren Teilen der Region sowie mannigfache sozial-ökonomische Probleme. Bis vor kurzem rangierte der Nordkaukasus in der Gewaltbilanz des gesamten post-sowjetischen Raumes an oberster Stelle, fielen den bewaffneten Auseinandersetzungen doch jährlich mehrere Hundert Menschen zum Opfer - Zivilisten, Sicherheitskräfte und Untergrundkämpfer. 2014 wurde der Nordkaukasus in dieser Hinsicht von der Ostukraine überholt. Zugleich stufen auswärtige Analysen die Sicherheitslage im Nordkaukasus aber weiterhin mit ‚permanent low level insurgency' ein. Im Unterschied zum Südkaukasus mit seinen drei unabhängigen Staaten (Armenien, Aserbaidschan, Georgien) haben externe Akteure und internationale Organisationen kaum Zugang zum Nordkaukasus, dessen Entwicklung als innere Angelegenheit Russlands gilt (SWP 4.2015).

2015 wurden aus dem Nordkaukasus weniger Angriffe bewaffneter Gruppen gemeldet als in den Vorjahren. Die Strafverfolgungsbehörden setzten bei der Bekämpfung bewaffneter Gruppen weiterhin vor allem auf Operationen der Sicherheitskräfte. Es bestand nach wie vor der Verdacht, dass diese mit rechtswidrigen Inhaftierungen, Folter und anderen Misshandlungen von Häftlingen sowie Verschwindenlassen einhergingen (AI 24.2.2016).

Während sich die Situation im westlichen Nordkaukasus in den letzten Jahren stabilisiert hat, gibt es immer wieder Meldungen über gewaltsame Vorfälle mit Toten und Verletzten in der Region. Besonders betroffen ist weiterhin die Republik Dagestan. Aber auch in Tschetschenien, Kabardino-Balkarien und Inguschetien kommt es regelmäßig zu gewaltsamen Zwischenfällen, so dass von einer Normalisierung nicht gesprochen werden kann. Anschlagsziele der Aufständischen sind vor allem Vertreter der Sicherheitskräfte und anderer staatlicher Einrichtungen sowie den Extremisten nicht genehme muslimische Geistliche. Auf Gewalt durch islamistische Aufständische oder im Zuge von Auseinandersetzungen zwischen Ethnien und Clans reagieren die regionalen und föderalen Behörden weiterhin mit Repression. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt dreht sich dadurch weiter, wobei manche Repressalien - etwa gegen Angehörige angeblicher Islamisten, wie z.B. die Zerstörung ihrer Wohnhäuser - zu einer Radikalisierung der Bevölkerung beitragen und damit die Sicherheitslage weiter eskalieren lassen könnten.

Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass im Nordkaukasus Recht und Gesetz auf beiden Seiten missachtet werden und für Täter aus den Reihen der Sicherheitskräfte ein Klima der Straflosigkeit herrsche (AA 5.1.2016).

Trotz der Versuche Moskaus, die sozioökonomische Situation im Nordkaukasus zu verbessern, ist die Region nach wie vor weitgehend von Transferzahlungen des föderalen Zentrums abhängig. Im Mai 2014 wurde ein neues Ministerium für die Angelegenheiten des Nordkaukasus geschaffen und der bevollmächtigte Vertreter des Präsidenten im Nordkaukasischen Föderalbezirk Alexander Chloponin, durch den früheren Oberbefehlshaber der Vereinigten Truppen des Innenministeriums im Nordkaukasus, Generalleutnant Sergej Melikov, ersetzt. Insbesondere in Dagestan, wo es immer wieder zu blutigen Zusammenstößen zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften kommt, ist die Lage weiterhin kritisch. In Tschetschenien hat Ramzan Kadyrov die Rebellen mit Gewalt und Amnestieangeboten dezimiert bzw. zum Ausweichen auf die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan gezwungen. Anschläge auf den Expresszug nach St. Petersburg im November 2009, die Moskauer Metro im April 2010, den Moskauer Flughafen Domodedovo im Jänner 2011 (mit zwei österr. Staatsbürgern unter den Opfern) sowie im Oktober und Dezember 2013 in Wolgograd zeigten, dass die Gefahr des Terrorismus auch Zentralrussland betrifft (ÖB Moskau 10.2015).

Im Jahr 2015 gab es nach Angaben von Caucasian Knot im gesamten Föderalen Distrikt Nordkaukasus 258 Opfer des bewaffneten Konfliktes (2014: 525 Opfer). 209 davon wurden getötet (2014: 341), 49 verwundet (2014: 184) (Caucasian Knot 8.2.2016). Im ersten Quartal 2016 gab es im gesamten Föderalen Distrikt Nordkaukasus 48 Opfer des bewaffneten Konfliktes, 20 davon getötet, 28 davon verwundet (Caucasian Knot 10.5.2016).

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten prorussischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, vor allem jedoch an der derzeit prominentesten und brutalsten Jihad-Front in Syrien und im Irak (SWP 4.2015).

2015 gab es in Tschetschenien 30 Opfer des bewaffneten Konfliktes (2014: 117), davon 14 Tote und 16 Verwundete (Caucasian Knot 8.2.2016).

Im Dezember 2014 ist Tschetschenien von den schwersten Gefechten zwischen islamistischen Kämpfern und Sicherheitskräften seit Jahren erschüttert. Dabei wurden am Donnerstag, den 4.12.2014, in der Hauptstadt Grosny mindestens 10 Angreifer und 10 Beamte getötet sowie 20 weitere Personen verletzt (NZZ 4.12.2014).

Rechtsschutz/Justizwesen

Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen.

Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte. Im Juli stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass wenn der EGMR von einer Konventionsauslegung ausgeht, die der Verfassung der Russischen Föderation widerspricht, Russland in dieser Situation aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten

Mehrere aufsehenerregende Prozesse machten 2015 die gravierenden und weit verbreiteten Mängel der russischen Strafjustiz deutlich. Dazu zählten Verstöße gegen den Grundsatz der "Waffengleichheit" und der Einsatz von Folter und anderen Misshandlungen in der Ermittlungsphase. Außerdem wurden unter Folter erpresste "Geständnisse", Aussagen geheimer Zeugen und andere geheime Beweise, die die Verteidigung nicht anfechten konnte, vor Gericht zugelassen und Angeklagten das Recht auf einen Rechtsbeistand ihrer Wahl verweigert. Weniger als 0,5% der Verfahren endeten mit einem Freispruch (AI 24.2.2016).

Im November 2013 ist in Russland ein neues Gesetz verabschiedet worden, mit denen man die Bestrafung von Familien und Verwandten von Terrorverdächtigen erreichen wolle und die darauf abzielen würden, die "harte Form" des Kampfes gegen den Aufstand, die bereits in mehreren Republiken im Nordkaukasus praktiziert wird, zu legalisieren. Die neue Gesetzgebung erlaubt es den Behörden, die Vermögenswerte der Familien von Terrorverdächtigen zu beschlagnahmen und die Familien dazu zu verpflichten, für Schäden aufzukommen, die durch Handlungen der Terrorverdächtigen entstanden sind. Die durch sie erlaubten Kollektivbestrafungen werden von den Behörden im Nordkaukasus bereits angewendet (CACI 11.12.2013, vgl. US DOS 13.4.2016).

Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Präsident Ramsan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islam und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Die Religion fasste in Tschetschenien aus den verschiedensten Gründen nicht Fuß. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014a). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art ‚alternativer Justiz'. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).

Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen ist weiterhin verbreitet, trotz der rund 200 diesbezüglichen Entscheidungen des EGMR. Diese Verletzungen beziehen sich auf ungerechtfertigte Gewaltanwendung, rechtswidrige Inhaftierungen, Verschwindenlassen, Folter und Misshandlungen, die Unterlassung effektiver Untersuchungen dieser Verbrechen und das Fehlen eines effektiven Rechtmittels, Versagen in der Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof und unrechtmäßige Durchsuchungen, Festnahmen und Zerstörung von Eigentum (CoE 12.11.2013). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist in Tschetschenien völlig unzureichend. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht sowie die Diskriminierung von Frauen haben in den letzten Jahren zugenommen (AA 5.1.2016).

Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenen, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 5.1.2016).

Grundsätzlich können Personen, die den Widerstand in Tschetschenien unterstützen - sei es mit Lebensmitteln, Kleidung oder Unterschlupf für Rebellen oder sei es durch Waffen - in der Russischen Föderation strafrechtlich verfolgt werden. Es kommt regelmäßig zu Verhaftungen aufgrund von Hilfeleistung an die Rebellen. Ob Personen, die unter diesem Vorwurf vor Gericht gestellt werden mit einem fairen Verfahren rechnen können, ist aufgrund der im Justizbereich verbreiteten Korruption und der bekannten Einflussnahme der Exekutive auf richterliche Entscheidungen fraglich. Das Strafmaß beträgt 8 bis 20 Jahre Freiheitsentzug (BAA/Staatendokumentation 20.4.2011).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen "fremdländischen" Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 5.1.2016).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Von russischer Seite werden die meisten Operationen im Nordkaukasus gegen Terroristen heute nicht mehr vom Militär, sondern von Einheiten des Innenministeriums und des Geheimdienstes durchgeführt. Diese sind zwar nicht weniger schwer bewaffnet, nur soll so der Eindruck eines Krieges vermieden werden (Zenithonline 10.2.2014). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnender Weise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramsan Kadyrows stehen dürften (Rüdisser 11.2012).

Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland gesetzlich verboten. Dennoch werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten basieren, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 10.2015).

Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 13.4.2016).

Die Strafverfolgungsbehörden setzten bei der Bekämpfung bewaffneter Gruppen weiterhin vor allem auf Operationen der Sicherheitskräfte. Es bestand nach wie vor der Verdacht, dass diese mit rechtswidrigen Inhaftierungen, Folter und anderen Misshandlungen von Häftlingen sowie Verschwindenlassen einhergingen (AI 24.2.2016).

Medien und NGOs berichten über Exekutivkräfte und Gefängnispersonal, die in Folter verwickelt sind. Missbrauch und exzessive Gewaltanwendung sind verbreitet und lassen darauf schließen, dass dies vor allem im Strafsystem regelmäßig vorkommt. Schlechte Ausbildung und eine Kultur der Straffreiheit tragen zu dieser Situation bei. Die russische NGO Committee Against Torture zeigt Folter durch Exekutivkräfte im Nordkaukasus auf und arbeitet daran, dass diese für ihre Vergehen bestraft werden (UK FCO 12.3.2015).

Korruption

Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet. Aufgrund der zunehmend mangelhaften Übernahme von Verantwortung in der Regierung können Bürokraten mit Straffreiheit rechnen. In einigen Fällen scheint der Kreml Signale an die Beamten auszusenden, dass die Korruption aufgrund der wachsenden wirtschaftlichen Probleme eingeschränkt werden muss (FH 27.1.2016). Das Gesetz sieht Strafen für behördliche Korruption vor, diese bleibt dennoch ein weitreichendes Problem. Die Regierung bestätigte, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird, und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind. Korruption ist sowohl in der Exekutive, als auch in der Legislative und Judikative und auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet. Zu den Formen der Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung, und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Obwohl es strafrechtliche Verfolgungen von Bestechung gibt, ist der Vollzug im Allgemeinen weiterhin mangelhaft. Behördliche Korruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen. Hochrangige Beamte wurden 2015 wegen Korruption angeklagt, darunter zwei Gouverneure von Sachalin und Komi. Medien spekulierten, dass dies eine neue Anti-Korruptionskampagne sein könnte, jedoch Korruptionsvorwürfe auch häufig wegen politischen Gründen vorgebracht werden und es nicht unbedingt darum geht, die Korruption vollständig zu beseitigen (USDOS 13.4.2016).

Korruption ist auch im Nordkaukasus ein alltägliches Problem (IAR 31.3.2014, AI 9.2013). Die auf Clans basierte Korruption hält die regionalen Regierungen zusammen und die Zuschüsse haben den Zweck, die Loyalität der lokalen Elite zu erkaufen. Putins System der zentralisierten Kontrolle bevorzugt Loyalität und lässt Bestechung und Gesetzlosigkeit gedeihen (IAR 31.3.2014).

Die Korruption ist in Tschetschenien sogar noch größer als in Russland. Vor allem geht in Tschetschenien die Korruption auch in einer ganz offenen Weise von statten. Während man in Russland noch versucht, dies zu verheimlichen, macht man es in Tschetschenien ganz offen (Gannuschkina 3.12.2014). In Tschetschenien hat die Korruption enorme Ausmaße angenommen (DIS 1.2015). Große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Es gibt glaubwürdige Berichte, wonach öffentliche Bedienstete einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrovs Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen müssen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Charity-Projekte, Kritiker werfen ihm jedoch vor, als Vehikel zur persönlichen Bereicherung Kadyrovs und der ihm nahestehenden Gruppen zu dienen. Selbst die nicht als regierungskritisch geltende Tageszeitung "Kommersant" bezeichnete den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes (ÖB Moskau 10.2015)

Der Lebensstandard in der Republik Dagestan ist einer der niedrigsten in der gesamten Russischen Föderation und das Ausmaß der Korruption sogar für die Region Nord-Kaukasus beispiellos (IOM 6.2014).

Wehrdienst

Alle männlichen russischen Staatsangehörigen zwischen 18 und 27 Jahre werden zum Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen. Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr. Es gibt auch die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen (dies steht auch weiblichen Staatsangehörigen offen). Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, die ein Studium absolvieren, oder Väter, die mindestens zwei Kinder haben bzw. Personen, die einen nahen Verwandten pflegen müssen. Anstelle des Wehrdienstes kann ein alternativer Zivildienst abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person ist oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditioneller Lebensweise der Wehrdienst widerspricht. Die Zivildienstzeit beträgt 18 Monate in den russischen Streitkräften bzw. 21 Monate in anderen staatlichen Einrichtungen. In der Regel soll der Zivildienst außerhalb der Region absolviert werden, in der der Staatsangehörige lebt. Nach Angaben des Föderalen Dienstes für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) haben 2014 397 Staatsangehörige einen Antrag auf den alternativen Zivildienst gestellt (2013: 314), wovon 388 Anträge genehmigt wurden (2013: 302). Im Vergleich dazu wurden 2014 insgesamt rund 154.000 Personen einberufen. Für Aufsehen erregte im Mai 2015 ein russischer Wehrpflichtiger, dem die Behörden sein Recht auf Zivildienst verweigert hatten. Der Betroffene hatte angegeben, aufgrund des russischen Vorgehens in der Ostukraine nicht in der russischen Armee dienen zu wollen, doch die zuständige Militärkommission hatte keine ausreichend pazifistischen Überzeugungen festgestellt, die die Ableistung eines Zivildiensts rechtfertigen würden. Der Fall "Kholkin vs. Russland" soll laut Informationen der NGO "Komitee der Soldatenmütter Sankt Petersburg" nun vor den EGMR gebracht werden (ÖB Moskau 10.2015).

Wehrdienst im Nordkaukasus

Keine Region der Russischen Föderation hat eine größere Anzahl an jungen Männern, die den Wehrdienst ableisten könnten, als der Nordkaukasus. Grund dafür sind das schnelle demographische Wachstum und die Tatsache, dass in den letzten zwanzig Jahren so gut wie keine Grundwehrdiener aus dem Nordkaukasus eingezogen wurden. Grund hierfür war, dass man während der Tschetschenienkriege keine Kämpfer ausbilden wollte, die das Erlernte gegen die eigenen Truppen einsetzen. Der Ausschluss von nordkaukasischen Wehrpflichtigen war kontraproduktiv: Erstens, die Ausschluss Richtlinie legte nahe, dass Moskau den Nordkaukasus als nicht gleichwertig, wie alle anderen russischen Regionen ansah, was die Integration erschwerte. Zweitens, erzürnte diese Richtlinie viele ethnische Russen, da ihre Söhne dienen müssen und die Nordkaukasier nicht. Gleichzeitig verärgerte die Richtlinie aber auch die Nordkaukasier, da sie durch den Ausschluss von der Wehrpflicht, von Jobs bei Sicherheitsdiensten ausgeschlossen waren, da diese einen militärischen Hintergrund als Voraussetzung haben. Drittens, für die Russische Föderation wurde es immer schwieriger, die Quoten für den Wehrdienst zu erfüllen, da die wehrdienstfähigen Kohorten bei den ethnischen Russen immer weniger werden. Laut tschetschenischen Beamten stehen 86.000 Tschetschenen zum Militärdienst bereit. Auch die Republiksoberhäupter von Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien sind überzeugt davon, dass der Militärdienst für die jungen Männer gut wäre. Einerseits könnte damit die Arbeitslosigkeit reduziert werden, andererseits würde der Militärdienst bei der Integration in die Russische Föderation helfen. Nicht zuletzt können die Oberhäupter mit der Befürwortung des Wehrdienstes ihre Loyalität zum Kreml beweisen. 2014 wurde wieder begonnen, Nordkaukasier (Tschetschenen und Dagestani) in den Wehrdienst einzuberufen. Jedoch gibt es mittlerweile Widerstand in der Bevölkerung gegen die Einberufung und viele junge Nordkaukasier verstecken sich, oder schließen sich dem Widerstand an, um nicht einberufen zu werden. Gerüchten zufolge könnte die Einberufung zum Wehrdienst in Tschetschenien wieder beendet werden. Momentan sollen 500 Tschetschenen den Wehrdienst ableisten. In Dagestan wurden im Frühling 2016 1.800 junge Männer eingezogen. Ein Drittel mehr als letztes Jahr. Trotzdem sind mehr als 2.000 junge Männer nicht auffindbar, die eingezogen werden sollen (Jamestown 19.4.2016).

Erstmals seit langer Zeit wurden rund 500 Personen aus ganz Tschetschenien in den aktiven Wehrdienst eingezogen. In die Truppenverbände traten die Rekruten erst im November 2014 ein. Bei der überwiegenden Mehrheit der Rekruten handelt es sich um Freiwillige, von denen viele eine militärische Karrierelaufbahn anstreben würden. Nach Angaben des Leiters für Einberufungsangelegenheiten des tschetschenischen Militärkommissariats habe es "sehr viele" Interessenten gegeben, weshalb die Freiwilligen nach den Kriterien Gesundheitszustand, hoher Bildungsgrad sowie danach ausgewählt worden seien, ob sie über Fachkenntnisse verfügten, die für den Dienst nützlich seien. Die derzeitige Zahl der Einberufenen sei weitaus niedriger als die Zahl derer, die in die Armee eintreten wollten. Aus Grosny seien 56 Personen ausgewählt worden, um direkt zum Dienst in der russischen Armee entsendet zu werden. Laut Aussage des Leiters der Einberufungskommission von Grosny hätten mehr als 200 Personen erklärt, aus eigenem Willen den aktiven Wehrdienst ableisten zu wollen. Wie er weiter ausführt, hätten insgesamt 1.000 junge Menschen aus Grosny das Auswahlverfahren bei der Einberufungskommission durchlaufen, obwohl (in Grosny) lediglich Bedarf an 56 Rekruten bestehe (Kavpolit.ru 20.10.2014). Die letzte größere Einberufungskampagne für Tschetschenen hat im Jahr 1992 stattgefunden. Danach habe man Tschetschenen faktisch nicht mehr zum Wehrdienst eingezogen. Nur eine kleine Zahl an Rekruten sei einberufen worden, um in Verbänden zu dienen, die in Tschetschenien stationiert und dem Verteidigungsministerium unterstellt waren bzw. der Inlandsarmee des russischen Innenministeriums angehörten (Caucasian Knot 1.11.2014).

Soziales

Waisenhäuser:

Wenn Kinder sich selbst überlassen bleiben, nachdem beide Eltern verstorben sind, sorgt der Tradition zufolge die Familie ihres Vaters für sie. Wenn die Großeltern nicht für die Kinder sorgen können, werden sie in die Obhut der Familie ihrer Mutter übergeben. Wenn es niemanden gibt, der sich um die Kinder kümmern kann, kommen sie in ein Waisenhaus. In Tschetschenien und dem übrigen Nordkaukasus setzen Familien alles daran, um zu vermeiden, dass Kinder in ein Waisenhaus kommen. Es ist nicht üblich, Kinder in Waisenhäuser zu bringen, und normalerweise leben in Waisenhäusern nur Kinder, die ihre gesamte Familie verloren haben. Im Allgemeinen vertreten Behörden die Auffassung, dass es in Tschetschenien keine Waisenhäuser geben sollte, da es Aufgabe der Familie ist, für die Kinder zu sorgen. 2009 ordnete Präsident Kadyrow an, dass alle Waisenhäuser in Tschetschenien geschlossen werden und die Kinder wieder zu ihren Verwandten zurückkehren sollten. Nach Auskunft eines Vertreters einer internationalen Organisation im Nordkaukasus lag dieser Initiative von Kadyrow der Wunsch zugrunde, deutlich zu machen, dass Familien einen starken Verbund darstellen und sie für sich selbst sorgen können. Nur wenige wollten jedoch entfernte Verwandte zu sich nehmen, zu denen sie kaum Kontakt hatten. Aufgrund des Wohnungsmangels und finanzieller Zwänge waren die Menschen nicht bereit, noch ein weiteres Mitglied in ihren Haushalt aufzunehmen und zu unterstützen. Kadyrow möchte den Eindruck vermitteln, dass die familiären Bande noch genauso stark sind wie früher, doch ist dies nach Angaben der Organisation nicht der Fall. Landinfo hat keinen Überblick über die Zahl der Waisenhäuser in Tschetschenien, doch nach Angaben eines tschetschenischen Rechtsanwalts gibt es eines in Grosny, ein weiteres im Bezirk Nadteretschny. Laut einer NGO in Moskau gibt es in Tschetschenien fünf oder sechs Waisenhäuser. In dem größten sind 200-300 Kinder untergebracht. Waisenhäuser sind öffentliche Einrichtungen (EASO 6.2014a, S. 31)

Mutterschaftskapital und Kindergeld

2007 stellte die russische Führung einen Maßnahmenkatalog vor, der mit Zuschüssen und Betreuungsplätzen zum einen den Frauen die Mutterschaft ans Herz legt und zum anderen durch bessere medizinische Infrastruktur die Lebensdauer der Russen verlängern soll. Für Mütter ist seither ab dem zweiten Kind das sogenannte Mutterschaftskapital vorgesehen. Umgerechnet rund 7500 € erhalten die Frauen, Mittel die zweckgebunden vom vierten bis zum 25. Geburtstag des Kindes eingesetzt werden müssen. Mit den nicht bar auslösbaren Zertifikaten können Familien in die Ausbildung des Nachwuchses investieren, die eigene Wohnsituation verbessern oder medizinische Versorgung in Anspruch nehmen. Mit den Zertifikaten kann auch die Altersvorsorge der Mutter aufgestockt werden. Darüber hinaus bezahlt der Staat Geburtsprämien, bezuschusst Kindergartenplätze und hat das Elterngeld erhöht. Flankierend hat Moskau den Mutterschutz im Arbeitsmarkt ausgebaut (Wirtschaftsblatt 8.9.2014, vgl. IOM 6.2014; MDZ 17.8.2013). Mütter bekommen eine Zusatzzahlung, das sogenannte Mütterkapital. Dieses Geld ist für bestimmte Zwecke bestimmt, z.B. für die medizinische Behandlung oder die Versorgung von Kindern. Dieses Geld ist vor allem für kinderreiche Frauen, in Tschetschenien gibt es viele davon. Um dieses Geld zu bekommen, müssen tschetschenische Frauen ungefähr Drei Viertel des Geldes als Bestechungsgeld zahlen. Es gibt aber auch Frauen, die überhaupt nichts von diesem Mütterkapital sehen (Gannuschkina 3.12.2014). Das Mutterschaftskapital war zunächst bis Ende 2016 geplant, aufgrund des Erfolgs wird jetzt darüber diskutiert, die zeitliche Beschränkung ganz aufzuheben. Auch soll das Geld für die Geburt des dritten und weiterer Kinder ausgezahlt, sowie alleinerziehende Väter in gleichem Maße gefördert werden, wie Mütter. Wladimir Putin erklärte zum bisher bestehenden Gesetz, das Programm "Mutterschaftskapital" hätte seine Effektivität bewiesen. Allerdings müsse es nach 2016 runderneuert werden, um zielgerechter wirken zu können (MDZ 17.8.2013, vgl. Pension Fund o.D.).

Mutter, Vater oder ein anderer Erziehungsberechtigter kann monatliches Kindergeld erhalten. Kindergeld berechnet sich aus 40% des durchschnittlichen Elterngehaltes, sollte aber nicht unter dem festgesetzten Mindestwert liegen. Seit Januar 2014 beträgt das monatliche Kindergeld (für Kinder jünger als 1,5 Jahre) während des Mutterschaftsurlaubs beim ersten Kind mindestens 2.576 RUB (ca. USD 75) und 5.153 RUB (ca. USD 150) für weitere Kinder. Für arbeitslose Eltern beträgt das monatliche Kindergeld das festgesetzte Minimum. Im September 2013 ist ein neues Bildungsgesetz in Kraft getreten. Laut dem neuen Gesetz ist die Regelung außer Kraft getreten, dass die Kindergartengebühren nicht 20% der laufenden Kosten pro Kind überschreiten dürfen. Dies führte zu einem Anstieg der Kindergartengebühren. In unterschiedlichen Regionen kosten städtische oder staatliche Kindergärten zwischen 3.500 RUB und 9.000 RUB (ca. 102-262 USD). Familien mit einem Kind erhalten mindestens 20% Ausgleich, Familien mit zwei Kindern erhalten eine 50%ige Rückerstattung, Familien mit drei und mehr Kindern eine Kompensation in Höhe von mindestens 70%. Dieses Geld wird auf das Konto eines Elternteils überwiesen. Familien, in denen ein Kind eine Verhaltensstörung aufweist, zahlen keine Gebühren für den Besuch eines staatlichen oder städtischen Kindergartens (IOM 6.2014).

Mutterschaft:

Meldewesen

Eine dauerhafte Registrierung wird durch einen Stempel im Inlandspass vermerkt, eine temporäre Registrierung durch einen in den Inlandspass eingelegten Zettel. Für einen Aufenthalt bis zu 90 Tage ist keine Registrierung verpflichtend, jedoch kann es notwendig werden bei einer Dokumentenkontrolle nachzuweisen, dass man sich noch nicht länger als 90 Tage in dem Gebiet aufhält, beispielsweise durch Vorweisen der Busfahrkarte. Wenn jemand ausreist um im Ausland zu leben, so wird dies registriert und in seinem Reisepass vermerkt. Umgangssprachlich wird die Registrierung nach wie vor so genannt, wie das Meldesystem zu Sowjetzeiten: "Propiska" (Russisch:

?????¿???). Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses und ein nachweisbarer Wohnraum (ggf. Bescheinigung des Vermieters). Eine Arbeitsstelle oder Einkommen müssen nicht nachgewiesen werden. Die Registrierung und damit einhergehende Aufgaben fallen in den Zuständigkeitsbereich des Föderalen Migrationsdienstes (FMS), seiner territorialen Behörden (UFMS) und weiterer Behörden für innere Angelegenheiten. 2010 kam es zu einer Vereinfachung des Registrierungsprozesses, insbesondere für temporäre Registrierungen. Für eine solche muss man nunmehr lediglich einen Brief an die lokale Stelle des FMS, also den jeweiligen UFMS, schicken, in dem die vorübergehende Adresse angegeben wird. Man muss nicht mehr persönlich beim UFMS erscheinen. Eine Registrierung ist wie ausgeführt für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. Diese ermöglicht außerdem den Zugang zu Sozialhilfe und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem, sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Beim FMS in Moskau wurde bestätigt, dass alle Staatsbürger der Russischen Föderation, auch Rückkehrer, am Aufenthaltsort registriert werden. Gesetzlich ist vorgesehen, dass die Registrierung ab Einlangen der Unterlagen bei der zuständigen Behörde drei Tage dauert. Staatsbürger können bei Verwandten unterkommen oder selbstständig einen Wohnraum organisieren. Die föderal-gesetzlichen Regeln für die Registrierung gelten in der gesamten Russischen Föderation einheitlich, werden jedoch regional unterschiedlich angewendet. Korruption soll auch im Bereich der Registrierung in nicht unbeträchtlichem Ausmaß vorkommen, insbesondere in der Hauptstadt Moskau (BAA 12.2011, vgl. AA 5.1.2016).

Laut einer westlichen Botschaft ist eine Registrierung für alle Personen in Moskau und St. Petersburg im Vergleich zu anderen russischen Städten am schwierigsten zu erlangen. Auch die Korruptionszahlungen sind in Moskau höher. Ebenso ist es in Moskau schwieriger, eine Wohnung zu mieten, die Mieten sind zudem hoch. Auch UNHCR geht davon aus, dass die Registrierung in Moskau für jeden schwierig ist, nicht nur für Tschetschenen. In Mietanzeigen werden Zimmer oft nur für Slawen angeboten. Gemäß einer Vertreterin des House of Peace and Non-Violence ist es für Tschetschenen leichter, in kleineren Orten als Moskau und St. Petersburg zu leben, jedoch ist es in großen Städten leichter, unterzutauchen. Personen, die Kadyrow fürchten, würden ihren Aufenthalt nicht registrieren lassen. Auch in St. Petersburg werden in Mietanzeigen Wohnungen oft nur für Russen angeboten. Tschetschenen nutzen aber ihre Netzwerke, um Wohnungen zu finden. Einer internationalen Organisation zufolge ist es für jemanden, der einen Machtmissbrauch von lokalen Behörden in einem Föderationssubjekt fürchtet schwierig, einen sicheren Ort in einer anderen Region in Russland zu finden. Ist die Person registriert, ist es für die Behörden leichter, sie zu finden. Laut einem Vertreter des Committee Against Torture sind tschetschenische Familien, die in andere Regionen Russlands kommen, nicht automatisch schweren Rechtsverletzungen ausgesetzt. Öffentlich Bedienstete haben kein Recht, einem Tschetschenen die Registrierung zu verweigern, weshalb im Endeffekt jeder registriert wird. Tschetschenen könnten Diskriminierung durch die Behörden ausgesetzt sein, nicht aber Gewalt. Laut einer Vertreterin des House of Peace and Non-Violence und einer westlichen Botschaft zufolge könnten aber temporäre Registrierungen nur für drei Monate anstatt für ein Jahr ausgestellt werden, weshalb dann die betroffene Person öfter zum Amt kommen muss. Memorial geht davon aus, dass der FMS die Polizei über die Registrierung eines Tschetschenen informieren muss. Zudem verheimlichen Tschetschenen oft ihre Volksgruppenzugehörigkeit, da Annoncen Zimmer oft nur für Russen und Slawen anbieten. Mehrere Quellen gaben an, dass im Zuge der Registrierung vermutlich Bestechungsgeld zu zahlen ist. Es kann vorkommen, dass Personen aus dem Nordkaukasus eine höhere Summe zu zahlen angehalten werden (DIS 8.2012). Im aktuellen FFM Bericht des Danish Immigration Service vom Jänner 2015 wird berichtet, dass es keine größeren Änderungen in Bezug auf die Registrierung gibt. Es gibt eine Neuheit, nämlich dass eine Person in dem Apartment wohnen muss, wo sie registriert ist. Wenn die Person woanders wohnt, könnte der/die Eigentümer/in bestraft werden. Aufgrund dessen könnte es schwieriger sein, den Wohnort zu registrieren. Einige Vermieter möchten auch keine Mieter registrieren, da sie Steuerabgaben vermeiden wollen (DIS 1.2015)

Lage von Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb der Republik Tschetschenien

Was die Anzahl von Tschetschenen im Rest des Landes anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen. Laut Volkszählung 2010 lebten etwa in Moskau ca. 14.500 Tschetschenen (von insgesamt 1.4 Mio landesweit). Es ist anzunehmen, dass die tatsächliche Zahl größer ist, insb. wenn man sie mit den Angaben über andere, kleinere Nationalitäten vergleicht (ca. 11.400 Osseten, über 17.000 Mordwinen). Dabei ist auch zu bedenken, dass laut der Statistik fast 700.000 Personen keine Angaben über ihre nationale Zugehörigkeit machten. In den meisten Regionen Russlands lag die Anzahl der Tschetschenen bei der Volkszählung 2010 bei einigen Hundert, größere Gemeinschaften gab es in Dagestan (ca. 93.600), in Inguschetien (ca. 18.700), sowie in den südlichen Regionen Astrachan (ca. 7.200), Wolgograd (fast 10.000), Rostow (ca. 11.500), Stawropol (ca. 12.000), Saratow (ca. 5.700) und im westsibirischen Tjumen (ca. 10.500) (ÖB Moskau 10.2015).

Gemäß Einschätzung verschiedener NGOs greifen Strafverfolgungsbehörden oft auf ein ethnisches "Profiling" zurück. Dieses richte sich besonders gegen Personen aus dem Kaukasus und Zentralasien. Nach Angaben von Swetlana Gannuschkina beschuldigen russische Behörden Personen aus dem Nordkaukasus oft willkürlich für Straftaten, die sie nicht begangen, die sich aber tatsächlich ereignet hätten. Die Ermittler würden eine Straftat so darstellen, dass die Mitschuld der betroffenen Person aus dem Nordkaukasus als erwiesen erscheine. Nach Angaben von Gannuschkina würden dabei auch Geständnisse mittels Folter (Schläge, Elektroschocks, Vergewaltigung oder die Androhung von Vergewaltigung) erpresst. Staatsanwälte unterstützten in der Regel diese Untersuchungen. Die Gerichte würden die Mängel der Untersuchung ignorieren und oft eine unbedingte Strafe verhängen. Laut Gannuschkina versuchen Polizeivertreter, die Zahl von aus dem Nordkaukasus stammenden Personen in ihren jeweiligen Zuständigkeitsgebieten zu verringern. Die polizeilichen Führungskräfte würden diese Maßnahmen unterstützen. Nach Angaben einer westlichen Botschaft in Moskau aus dem Jahr 2012 kommen fingierte Strafverfahren vor, jedoch nicht in systematischer Weise. Es gebe Berichte, dass insbesondere junge muslimische Personen aus dem Nordkaukasus Opfer solcher Praktiken werden können. Auch die norwegische Landinfo kommt im März 2014 zum Schluss, dass es weiterhin fingierte Strafverfahren gegen Personen aus dem Nordkaukasus und Tschetschenien gebe (SFH 25.7.2014).

Grundversorgung/Wirtschaft

Im August 2015 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland 75,9 Millionen, somit ungefähr 53 % der Gesamtbevölkerung. Die Arbeitslosenrate liegt bei 5,3%. Der Durchschnittslohn im Juni 2015 lag bei 31.100 RUB (EUR 425) (IOM 8.2015).

Die hohen internationalen Energiepreise sorgten 2012 für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum. Die Industrieproduktion stieg, allerdings lag der Zuwachs unter den Vorjahreswerten. Die Arbeitslosenrate sank zwischen 2010 und 2012 von 7,2% auf 5,4% und die Durchschnittslöhne lagen 2011 und 2012 deutlich höher als vor der Finanzkrise 2008/9. Während 2012 für Russland insgesamt also zufriedenstellend verlief, war 2013 wegen der Konjunkturschwäche im Euro-Raum und der weltweit gesunkenen Rohstoffpreise schwach. Nach einem Plus von 3,4% im Jahr 2012, kam es für 2013 nur noch zu einem leichten Wachstum von 1,3%. Das Land ist in eine Phase anhaltender wirtschaftlicher Stagnation getreten. Gleichzeitig stieg Russland im Ranking von "Doing Business" von Platz 112 in 2012 über Platz 92 in 2013 und Platz 64 in 2014 auf Platz 51 in 2016. Die Staatsverschuldung in Russland ist mit rund zehn Prozent des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar. Strukturdefizite, Finanzierungsprobleme und Handelseinschränkungen durch Sanktionen seitens der USA, Kanadas, Japans und der EU bremsten das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die rückläufigen Investitionen und die Fokussierung staatlicher Finanzhilfen auf prioritäre Bereiche verstärken diesen Trend. Das komplizierte geopolitische Umfeld und die Neuausrichtung der Industrieförderung führen dazu, dass Projekte vorerst verschoben werden. Wirtschaftlich nähert sich Russland der VR China an. Im Index of Economic Freedom nimmt Russland 2016 den 153. Platz unter 178 Ländern ein. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung aus. Seit Anfang 2014 hat die Landeswährung mehr als ein Drittel ihres Wertes im Vergleich zum Euro verloren, was unter anderem an den westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und dem fallenden Ölpreis liegt. Durch den Währungsverfall sind die Preise für Verbraucher erheblich gestiegen, die Inflationsrate betrug Ende 2015 ca 15%. 2015 gerät die russische Wirtschaft in eine schwere Rezession. Nach dem BIP-Rückgang um 3,7% 2015 prognostiziert die russische Zentralbank für 2016 einen weiteren BIP-Rückgang um 1,0%. (GIZ 4.2016b).

Nordkaukasus

Die nordkaukasischen Republiken ragen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 4.2016a).

Trotz der Versuche Moskaus, die sozioökonomische Situation im Nordkaukasus zu verbessern, ist die Region nach wie vor weitgehend von Transferzahlungen des föderalen Zentrums abhängig.

Tschetschenien

Obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind, bestehen noch immer über 85% des Budgets der Republik aus Direktzahlungen aus Moskau. Offiziell vermeldete Tschetschenien 2014 ein Wachstum von 7.8%, eine Steigerung von über 23% der Industrieproduktion sowie eine Erhöhung der Landwirtschaftsproduktion von 2.2%. Die Arbeitslosenquote betrug laut offiziellen Statistiken der Republik in der 1. Hälfte 2015 rund 15.2%, was von Experten jedoch als zu niedrig angezweifelt wird. Der monatliche Durchschnittslohn in Tschetschenien liegt bei 21.703 Rubel (landesweit: 31.200 Rubel), die durchschnittliche Rentenhöhe bei 10.460 Rubel (landesweit: 10.919 Rubel). Die Höhe des Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung ist mit 7.471 Rubel pro Monat festgelegt (landesweit: 8.900 Rubel), für Rentner mit 5.799 Rubel (landesweit: 6.800 Rubel) und für Kinder mit 5.949 Rubel (landesweit: 7.800 Rubel). Korruption ist nach wie vor weit verbreitet und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Laut einem rezenten Bericht der International Crisis Group gibt es glaubwürdige Berichte, wonach öffentliche Bedienstete einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrovs Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen müssen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Charity-Projekte, Kritiker werfen ihm jedoch vor, als Vehikel zur persönlichen Bereicherung Kadyrovs und der ihm nahestehenden Gruppen zu dienen. Selbst die nicht als regierungskritisch geltende Tageszeitung "Kommersant" bezeichnete den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes (ÖB Moskau 10.2015).

Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich dank großer Zuschüsse aus dem russischen Föderalen Budget nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen seit 2007 verbessert - ausgehend von sehr niedrigem Niveau. Die Durchschnittslöhne in Tschetschenien liegen spürbar über denen in den Nachbarrepubliken. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens Grosny ist inzwischen dank föderaler Gelder fast vollständig wieder aufgebaut. Gleichwohl bleiben Arbeitslosigkeit und daraus resultierende Armut der Bevölkerung das größte soziale Problem. Der Schulbesuch ist grundsätzlich möglich und findet unter zunehmend günstigen materiellen Bedingungen statt. Nach Angaben der Vereinten Nationen entspricht die Anzahl der Lehrer wieder dem Niveau vor den Tschetschenienkriegen, allerdings sei die Versorgung mit Lernmitteln häufig noch unzureichend. Wohnraum bleibt ein Problem. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden in den Tschetschenienkriegen seit Anfang der neunziger Jahre über 150.000 private Häuser sowie ca. 73.000 Wohnungen zerstört. Die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist noch nicht abgeschlossen. Problematisch ist auch in diesem Zusammenhang die Korruption (es wird davon ausgegangen, dass 30-50% gewährter Kompensationssummen als Schmiergelder gezahlt werden müssen) (AA 5.1.2016)

Sozialbeihilfen

Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen:

dem Rentenfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem Staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Rentenfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Altersrenten gezahlt. Das Rentenalter wird mit 60 Jahren bei Männern und bei 55 Jahren bei Frauen erreicht. Die Rentenreform sieht die Gründung der nichtstaatlichen Rentenfonds vor, die neben der Grundversicherung einen zusätzlichen privaten Teil der Rente ermöglichen. Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 3.2016c).

Das Ministerium für Gesundheit und Soziales setzt die staatliche Unterstützung für sozial bedürftige Gruppen in der Praxis um. Vor allem die soziale Fürsorge für Familien, alte Menschen, Invaliden und Waisen soll gefördert werden. Personen, die soziale Unterstützung erhalten können:

Es gibt weitere Kategorien, die auf verschiedenen Rechtsgrundlagen oder unter bestimmten Programmen, die von regionalen Behörden geleitet werden, anspruchsberechtigt sind. Personen der o.g. Kategorien erhalten eine monatliche Zahlung und soziale Beihilfe, einschließlich:

Invaliden zahlen nur die Hälfte der öffentlichen Nebenkosten und haben die Möglichkeit, in besonderen Ausbildungseinrichtungen zu lernen. Um die oben aufgeführten Leistungen erhalten zu können, müssen Personen, die den genannten Kategorien angehören, Dokumente vorlegen, die die Zugehörigkeit zur entsprechenden Gruppe offiziell bestätigen (IOM 6.2014).

MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, denen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt wird:

Renten

Familienhilfe:

Die Regierung will die Bevölkerungszahl erhöhen. Daher erhalten

Familien mit drei oder mehr Kindern folgende Begünstigungen:

Behinderung

Wohnungswesen

Bürger ohne Unterkunft oder mit unzumutbarer Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Apartments beantragen

Arbeitslosenhilfe

Im Nordkaukasus besteht die höchste Arbeitslosenquote des Landes. Arbeitslose (mit Ausnahme von Schülern, Studenten und Rentnern) können sich bei den Arbeitsagenturen arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Die Arbeitsagentur wird innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz anbieten. Lehnt der Bewerber die Stellen ab, wird er als arbeitslos eingetragen. Die Arbeitslosenhilfe basiert auf Durchschnittslohn der letzten Arbeit und ist auf ein Minimum und Maximum von der russischen Gesetzgebung begrenzt. Seit 2009 ist das Minimum RUB 850 (USD 15) pro Monat und das Maximum RUB 4.900 (USD 82). Die Förderung wird monatlich ausgezahlt, sofern der Begünstigte die notwendigen Verfahren der Neubewerbung (gewöhnlich zweimal im Monat) nach den Bedingungen der Arbeitsagentur durchläuft. Notwendige Unterlagen und Dokumente sind ein Reisepass oder ein gleichwertiges Dokument und ein Arbeitsbuch oder eine Kopie, die Lohnbescheinigung des letzten Jahres, die Steueridentifikationsnummer (INN certificate), der Rentenversicherungsausweis und Dokumente zum Nachweis der Ausbildung und Berufserfahrung (IOM 8.2015).

Unterbrechung der Arbeitslosenhilfe in folgenden Fällen:

Krankenversicherung

Seit dem 1. Januar 2011 gibt es ein neues Gesetz über die Krankenpflichtversicherung. Vor dem 1. Mai 2011 gab es in den verschiedenen Regionen unterschiedliche Krankenversicherungen, danach traten neue Regeln für den Abschluss einer universellen Krankenversicherung in Kraft. Die Änderung der Krankenversicherungen tritt nach und nach in den einzelnen Regionen in Kraft. Die versicherten Personen sollen medizinische Versorgung in Gesundheitszentren kostenfrei erhalten mit sowohl den alten als auch den neuen Krankenversicherungen. Die alten Krankenversicherungen bleiben so lange in Kraft, bis sie durch die neue Versicherung ersetzt werden, egal welche Gültigkeitsdauer auf der alten Krankenversicherung angegeben ist. Es gibt keine Richtlinie, die die Dauer des Austausches der Krankenversicherungen festlegt. Wenn jetzt ein Versicherungsnehmer seinen Job wechselt oder verlässt, bleibt die Versicherung gültig und es ist nicht notwendig, eine neue Versicherung abzuschließen. Im Rahmen der Krankenpflichtversicherung (OMS) können russische Staatsbürger eine kostenlose medizinische Grundversorgung in Anspruch nehmen, die durch staatliche Finanzmittel, Versicherungsbeiträge und andere Quellen finanziert wird (IOM 6.2014).

Kostenfreie Versorgung umfasst folgendes:

• Notfallbehandlung

• Ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken

• Stationäre Behandlung

• Teilweise kostenfreie Medikamente (IOM 8.2015)

Jede OMS-registrierte Person hat eine Krankenversicherung mit einer individuellen Nummer, wodurch ihnen der Zugang zur kostenfreien medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der Russischen Föderation garantiert wird; unabhängig von ihrem Wohnort. Bei der Anmeldung in einer Klinik muss zunächst die Versicherungsbescheinigung vorgelegt werden, es sei denn, es handelt sich um einen Notfall. Die Notfallbehandlung kann von allen russischen Staatsbürgern kostenlos in Anspruch genommen werden, unabhängig davon ob sie krankenversichert sind oder nicht. Um eine Krankenversicherung zu erhalten, müssen die Bürger an eine der Krankenversicherungen einen Antrag stellen und die folgenden Dokumente vorlegen: Antrag, Identifikationsdokument (für Erwachsene über 14 Jahre ein Reisepass oder vorläufiger Ausweis, für Kinder die Geburtsurkunde und den Pass bzw. vorläufigen Ausweis des Erziehungsberechtigten) und u.U. die Versicherungspolice der Rentenpflichtversicherung. Die Aufnahme in die Krankenversicherung sowie die Erneuerung sind kostenfrei. Für Kinder bis einschließlich 14 Jahren existiert ein gesondertes System der kostenlosen medizinischen Versorgung, sofern eine Registrierung in der Krankenpflichtversicherung (OMS) vorliegt. Kinder, die älter als 14 sind werden in der Regel in medizinischen Einrichtungen für Erwachsene behandelt. Einige Kliniken (staatliche und private) bieten kostenlose medizinische Konsultationen über das Internet an. Ausländische Staatsbürger haben in Russland nur Zugang zur medizinischen Grundversorgung, d.h. zur notfallmedizinischen Behandlung. Darüber hinausgehende Behandlungen werden in Rechnung gestellt und sind entweder durch direkte Zahlung an die jeweilige Klinik oder gegebenenfalls über die Krankenversicherung des Ausländers zu begleichen. Medizinische Versorgung gegen Bezahlung wird von privaten Gesundheitseinrichtungen unabhängig von der jeweiligen Staatsangehörigkeit angeboten. Umfragen zufolge haben 35% der Bevölkerung eine medizinische Serviceleistung gegen Bezahlung bereits in Anspruch genommen. Aufgrund der hohen Kosten kann der Großteil der Bevölkerung von dieser Möglichkeit jedoch keinen Gebrauch machen. Neben der geschilderten Krankenpflichtversicherung können sowohl russische Staatsbürger als auch Ausländer gegen Bezahlung eine Freiwillige Krankenversicherung (DMS) abschließen, die immer weiter verbreitet ist. Ein Netz von Versicherungsgesellschaften bietet die entsprechenden Dienstleistungen an, wobei die Kosten für eine Versicherung - je nach Ruf der Versicherung und des gebotenen Servicepakets - zwischen 400 und mehreren tausend USD liegen können. Die meisten Versicherungsgesellschaften bevorzugen die Zusammenarbeit mit juristischen Personen. In den vergangenen zehn Jahren sind jedoch zunehmend Versicherungsprogramme für Privatpersonen aufgelegt worden (IOM 6.2014).

Medizinische Versorgung

Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger ist in der Verfassung verankert. Russland weist zwar im internationalen Vergleich eine vergleichsweise hohe Anzahl der Ärzte und der Krankenhäuser pro Kopf der Bevölkerung auf, das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt aber ineffektiv (GIZ 3.2016c). Die Einkommen des medizinischen Personals sind noch immer vergleichsweise niedrig. Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist. Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und insbesondere HIV/AIDS, breiten sich weiter aus. In den letzten Jahren wurden in die Modernisierung des Gesundheitswesens erhebliche Geldmittel investiert. Der aktuelle Kostendruck im Gesundheitswesen führt aber dazu, dass viele Krankenhäuser geschlossen werden (AA 3.2016a, vgl. GIZ 3.2016c). In Moskau, St. Petersburg und einigen anderen Großstädten gibt es einige meist private Krankenhäuser, die hinsichtlich der Unterbringung und der technischen und fachlichen Ausstattung auch höheren Ansprüchen gerecht werden. Notfallbehandlungen in staatlichen Kliniken sind laut Gesetz grundsätzlich kostenlos. Die Apotheken in den großen Städten der Russischen Föderation haben ein gutes Sortiment, wichtige Standardmedikamente sind vorhanden. Medikamentenfälschungen mit unsicherem Inhalt kommen allerdings vor (AA 25.5.2016b).

Im Bereich der medizinischen Versorgung von Rückkehrern sind der Botschaft keine Abweichungen von der landesweit geltenden Rechtslage bekannt. Seit Jänner 2011 ist das "Föderale Gesetz Nr. 326-FZ über die medizinische Pflichtversicherung in der Russischen Föderation" vom November 2010 in Kraft und seit Jänner 2012 gilt das föderale Gesetz Nr. 323-FZ vom November 2011 über die "Grundlagen der medizinischen Versorgung der Bürger der Russischen Föderation". Laut Gesetz hat jeder Mensch Anrecht auf kostenlose medizinische Hilfestellung in dem gemäß "Programm der Staatsgarantien für kostenlose medizinische Hilfestellung" garantierten Umfang. Von diesem Programm sind alle Arten von medizinischer Versorgung (Notfallhilfe, ambulante Versorgung, stationäre Versorgung, spezialisierte Eingriffe) erfasst. Kostenpflichtig sind einerseits Serviceleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind). Staatenlose, die dauerhaft in Russland leben, sind bezüglich ihres Rechts auf medizinische Hilfe russischen Staatsbürgern gleichgestellt. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der Russischen Föderation gewährleistet ist. Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Anstalt und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken erwiesen wird, haben Personen das Recht die medizinische Anstalt nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. In der ausgewählten Organisation können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Anstalt durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbständig, falls mehrere medizinische Anstalten zur Auswahl stehen. Das territoriale Prinzip sieht vor, dass die Zuordnung zu einer medizinischen Anstalt anhand des Wohn-, Arbeits-, oder Ausbildungsorts erfolgt. Das bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen, als dem "zuständigen" Krankenhaus, bzw. bei einem anderen, als dem "zuständigen" Arzt, kostenpflichtig ist. Selbstbehalte sind nicht vorgesehen. Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung, sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise durchaus erwartet wird (ÖB Moskau 10.2015).

Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der "Nationalen Projekte", die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert (GIZ 3.2016c).

Medizinische Versorgung gibt es bei staatlichen und privaten Einrichtungen. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu kostenfreier medizinischer Versorgung. Vorausgesetzt für OMS (OMS-Karte) sind gültiger Pass, Geburtsurkunde für Kinder unter 14 Jahren; einzureichen bei der nächstliegenden Krankenversicherungsfirma. Sowohl an staatlichen, wie auch privaten Kliniken bezahlte medizinische Dienstleistungen verfügbar; direkte Zahlung an Klinik oder im Rahmen von freiwilliger Krankenversicherung (Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 8.2015).

Kostenfreie Versorgung umfasst folgendes:

• Notfallbehandlung

• Ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken

• Stationäre Behandlung

• Teilweise kostenfreie Medikamente (IOM 8.2015)

Tschetschenien

Zur aktuellen Lage der medizinischen Versorgung liegen unterschiedliche Einschätzungen vor. Nach Angaben des IKRK soll die Situation der Krankenhäuser für die medizinische Grundversorgung inzwischen das durchschnittliche Niveau in der Russischen Föderation erreicht haben. Problematisch bleibt laut IKRK die Personallage im Gesundheitswesen, da viele Ärzte und medizinische Fachkräfte Tschetschenien während der beiden Kriege verlassen haben (AA 5.1.2016).

Das Gesundheitssystem in Tschetschenien wurde seit den zwei Kriegen großteils wieder aufgebaut. Die Krankenhäuser sind neu und die Ausrüstung modern, jedoch ist die Qualität der Leistungen nicht sehr hoch aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal (Landinfo 26.6.2012).

Es ist sowohl primäre, als auch spezialisierte Gesundheitsversorgung verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand, als in den Nachbarrepubliken, da viele erst vor kurzem erbaut worden sind. Laut föderalem Gesetz werden bestimmte Medikamente kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, schwangere Frauen und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015, vgl. hierzu auch Kapitel 24.7 Medikamente).

Die Einkommen des medizinischen Personals liegen unter dem Durchschnitt. Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (AA 3.2016a). Falls z.B. innerhalb der Familie nicht genügend Geld für eine teure Operation vorhanden ist, kann man sich an eine in der Clanstruktur höher stehende Person wenden. Aufgrund bestehender Clanstrukturen sind die Familien in Tschetschenien finanziell besser abgesichert als in anderen Teilen Russlands (BAMF 10.2013).

Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land, ist es - wie für alle Bürger der Russischen Föderation - auch für Tschetschenen möglich, bei Krankheiten, die in Tschetschenien nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (vgl. dazu Kapitel 21. Bewegungsfreiheit/Meldewesen). Krebsbehandlung wurde zum größten Teil außerhalb der Republik Tschetschenien gemacht, jedoch wurde kürzlich ein onkologisches Krankenhaus fertiggestellt mit dem man bald Chemotherapie, Strahlentherapie und Operationen durchführen möchte. Im letzten Jahr wurden insgesamt ca. 3.000 Patienten zu unterschiedlichen Behandlungen in Krankenhäuser in anderen Republiken geschickt (DIS 1.2015)

Behandlungsmöglichkeiten von psychiatrischen Krankheiten (z.B. PTBS, Depressionen, akutes Stresssyndrom, Panische Störungen, Schizophrenie etc.)

Personen mit psychischen Erkrankungen oder Störungen sind laut der Independent Psychiatric Association of Russia in Tschetschenien stark stigmatisiert. Die Familien schämen sich für ihre kranken Familienangehörigen und halten diese versteckt. In der Regel wenden sich die Angehörigen an Moscheen und islamische Zentren, wo ihnen mitgeteilt werde, dass ein Djinn (Geist) in den Körper der Betroffenen eingedrungen sei und vertrieben werden muss. Psychisch erkrankte Personen werden in Tschetschenien erst als letzte Möglichkeit in ein psychiatrisches Spital gebracht. Dies hängt einerseits mit der Stigmatisierung zusammen, aber auch mit der Angst, dass die Ange hörigen in den Spitälern nicht gut versorgt werden könnten. (Schweizer Flüchtlingshilfe (Themenpapier:

Tschetschenien: Gesundheitswesen und Behandlung psychischer Erkrankungen und Störungen September 2015).

Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Behandlungen durch einen Psychologen/Psychiater sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Es gibt auch psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordgedanken z.B. im Psychiatric Clinical Hospital #1 in Moskau (BMA 7754).

Posttraumatische Belastungsstörung ist in der gesamten Russischen Föderation behandelbar. Z.B. im Alexeevskaya (Kacshenko) hospital, Zagorodnoye shosse 2, Moscow (BMA 6051). Dies gilt unter anderem auch für Tschetschenien z.B. im Republican Psychoneurological Dispenser, Verkhoyanskaya Str. 10, Grosny (BMA 6551, vgl. BMA 7979).

Wie in anderen Teilen Russlands werden auch in Tschetschenien mentale Krankheiten hauptsächlich mit Medikamenten behandelt, und es gibt nur selten eine Therapie. Die Möglichkeiten für psychosoziale Therapie oder Psychotherapie sind aufgrund des Mangels an notwendiger Ausrüstung, Ressourcen und qualifiziertem Personal in Tschetschenien stark eingeschränkt. Es gibt keine spezialisierten Institutionen für PTBS, jedoch sind follow-up und Psychotherapie möglich. Ambulante Konsultationen und Krankenhausaufenthalte sind im Republican Psychiatric Hospital of Grozny für alle in Tschetschenien lebende Personen kostenlos. Auf die informelle Zuzahlung wird hingewiesen. Üblicherweise zahlen Personen für einen Termin wegen psychischen Problemen zwischen 700-2000 Rubel. Bei diesem Krankenhaus ist die Medikation bei stationärer und ambulanter Behandlung kostenfrei (BDA 31.3.2015).

Während es in Moskau unterschiedliche Arten von Therapien gibt (kognitive Verhaltenstherapie, Desensibilisierung und Aufarbeitung durch Augenbewegungen (EMDR) und Narrative Expositionstherapie), um PTSD zu behandeln (BMA 7980), gibt es in Tschetschenien nur Psychotherapie und diese in eingeschränktem Maß (BMA 7979). Diverse Antidepressiva sind aber in der gesamten Russischen Föderation verfügbar (BMA 7754, BMA 7979).

Medikamente

Ambulante Patienten und zu Hause Behandelte müssen Medikamente bezahlen; ausgenommen sind solche, die vom Staat gedeckt sind. In 24-Stunden- und Tageskliniken gibt es kostenfreie Medikamente für Bürger, die von der OMS profitieren. Bei Notfällen sind Medikamente kostenfrei. Gewöhnlich kaufen Russen ihre Medikamente auf eigene Kosten. Bürger mit gewissen Krankheiten wird Unterstützung gewährt, u. a. kostenfreie Medikamente, Sanatorium Behandlung und Transport. Kosten für Medikamente variieren, feste Preise bestehen nicht (IOM 8.2015).

Im Allgemeinen gilt, dass alle russischen Staatsbürger - sowohl im Rahmen einer Krankenpflichtversicherung als auch anderweitig versicherte - für etwaige Medikamentenkosten selbst aufkommen. Ausnahmen von dieser Regelung gelten nur für besondere Personengruppen, die an bestimmten Erkrankungen leiden und denen staatliche Unterstützung zuerkannt worden ist (einschließlich kostenloser Medikation, Sanatoriumsbehandlung und Transport (Nahverkehr und regionale Züge). Die Behandlung und die Medikamente für einige Krankheiten werden auch aus regionalen Budgets bestritten. Die Liste von Erkrankungen, die Patienten berechtigen, Medikamente kostenlos zu erhalten, wird vom Ministerium für Gesundheit erstellt. Sie umfasst: Makrogenitosomie, multiple Sklerose, Myasthenie, Myopathie, zerebrale Ataxie, Parkinson, Glaukom, geistige Erkrankungen, adrenokortikale Insuffizienz, AIDS/HIV, Schizophrenie und Epilepsie, systemisch chronische Hauterkrankungen, Bronchialasthma, Rheumatismus, rheumatische Gicht, Lupus Erythematosus, Morbus Bechterew, Diabetes, Hypophysen-Syndrom, zerebral-spastische Kinderlähmung, fortschreitende zerebrale Pseudosklerose, Phenylketonurie, intermittierende Porphyrie, hämatologische Erkrankungen, Strahlenkrankheit, Lepra, Tuberkulose, akute Brucellose, chronisch-urologische Erkrankungen, Syphillis, Herzinfarktnachsorge (6 Monate nach dem Infarkt), Aorten- und Mitralklappenersatz, Organtransplantationen, Mukoviszidose bei Kindern, Kinder unter drei Jahren, Kinder unter sechs Jahren aus sehr kinderreichen Familien, im Falle bettlägeriger Patienten erhält ein Angehöriger oder Sozialarbeiter die Medikamente gegen Verschreibung. Die Medikamentenpreise sind von Region zu Region und, teilweise auch in Abhängigkeit von der Lage einer Apotheke unterschiedlich, da es in der Russischen Föderation keine Fixpreise für Medikamente gibt (IOM 6.2014).

Quelle: aktualisiertes Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.04.2015.

Entscheidungsgrundlagen:

Zur Person des Beschwerdeführers:

* mündliche Angaben im Rahmen des Verfahrens vor der Verwaltungsbehörde und der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht;

* Strafregisterauszug.

Zur Situation im Herkunftsstaat:

* im Rahmen der Länderfeststellungen angeführte Quellen.

Würdigung der Entscheidungsgrundlage:

Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen über die Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und das Religionsbekenntnis des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen nicht unplausiblen Angaben im Verfahren in Zusammenhalt mit seinen Sprachkenntnissen. Die Feststellungen zu seinen familiären Verhältnissen basieren auf seinen Angaben bzw. jenen seiner Ehefrau.

Die Feststellung über die beim Beschwerdeführer festgestellten Leiden gründet sich auf das vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte in sich widerspruchsfreie und damit schlüssige medizinische Sachverständigengutachten vom 20.05.2016, das seitens des Bundesverwaltungsgerichtes als schlüssig erachtet und der Entscheidung zu Grunde gelegt wird. Dieses Gutachten wurde dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebracht und er ist diesem nicht entgegengetreten. Aus diesem Gutachten ergibt sich ferner, dass der Beschwerdeführer sowohl einvernahmefähig als auch geschäftsfähig und weiters in der Lage ist, das Erlebte zumindest eingeschränkt wiederzugeben.

Die negative Feststellung hinsichtlich des Vorliegens von Fluchtgründen ergibt sich - unter Berücksichtigung des Ergebnisses des eingeholten medizinischen Sachverständigengutachtes - aus folgenden Erwägungen:

Das Vorbringen des Beschwerdeführers, er befürchte zur russischen Armee eingezogen und in der Ukraine eingesetzt zu werden ist nicht (plausibel) nachvollziehbar, zumal der Beschwerdeführer das wehrpflichtige Alter von 28 Jahren zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits überschritten hatte und er außerdem auf Grund der bei ihm nach seinen Angaben seit 2003 bestehenden Epilepsie kaum als wehrdiensttauglich gelten würde. Abgesehen davon ist diesem Vorbringen kein Zusammenhang zu den in der GFK genannten Gründen zu entnehmen, weshalb dieses Vorbringen selbst bei Zutreffen nicht als asylrelevant erachtet werden kann.

Der Beschwerdeführer gab am 05.02.2016 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ausdrücklich an, keine anderen Fluchtgründe zu haben sowie dass er eigentlich niemals konkret verfolgt worden sei. Erst auf die Frage nach Problemen mit den Behörden des Herkunftsstaates gab er an, im Jahr 2006 oder 2007 wegen seines Cousins mit dem Gewehr von der Polizei geschlagen worden und danach eine Woche im Krankenhaus gewesen zu sein. Danach habe er keine Probleme mehr mit der Polizei gehabt. Erst 2010 sei er, als ein Freund von einer Mine getötet worden sei, beschuldigt worden, diese Mine eingegraben zu haben und eine Woche im Gefängnis gewesen. Politisch sei er nicht aktiv, das interessiere ihn nicht wirklich und es sei auch kein Gerichtsverfahren gegen ihn anhängig. Erst in der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid brachte er erstmals als Fluchtgrund vor, sich für seinen Neffen, welcher auf einer Hochzeit von Soldaten beleidigt und angegriffen worden sei, eingesetzt zu haben und geschlagen sowie ins Gefängnis gebracht worden zu sein, wo er zwei Tage lang kein Essen und nichts zu Trinken bekommen habe und auch sexuell missbraucht worden sei. Einer beigelegten psychotherapeutischen Stellungnahme vom 29.02.2016 ist sodann ua. erstmals zu entnehmen, dass der Neffe des Beschwerdeführers gegen Kadyrov gekämpft habe und bei einer Hochzeit vom Militär angegriffen worden sei. Diese Vorbringen des Beschwerdeführers stellen eine kontinuierliche Steigerung seiner Fluchtgründe dar und sein diesbezügliches Vorbringen ist daher ebenfalls nicht glaubhaft bzw. hat er diesen Fluchtgrund erst in der Beschwerde entgegen seiner früheren ausdrücklich gegenteiligen Angaben erstmals als solchen geltend gemacht. Diesem erstmaligen Vorbringen in der Beschwerde steht - abgesehen davon, dass dies nicht plausibel nachvollziehbar ist und auch die immer wieder erwähnten Gedächtnisprobleme der Wiedergabe von Erlebtem nach dem eingeholten Sachverständigengutachten nicht entgegenstehen - die Bestimmung des § 20 Abs. 1 BFA-VG entgegen. Es ist nämlich kein Grund ersichtlich, warum der Beschwerdeführer diesen Fluchtgrund nicht bereits anlässlich seiner Erstbefragung bzw. vor dem Bundesamt für Fremdenwesen auf ausdrückliche Befragung hin angegeben konnte. Dass er sich geschämt hat, wie in der Beschwerde dazu ausgeführt, stellt jedoch keinen objektiv nachvollziehbaren Hinderungsgrund dar. Dass das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mangelhaft gewesen wäre, ist ebenfalls nicht hervorgekommen, zumal die Ehefrau des Beschwerdeführers vor dem Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich anmerkte, dass die Einvernahme des Beschwerdeführers beim Bundesamt nicht auf Russisch sondern auf Tschetschenisch, also in der Muttersprache des Beschwerdeführers, erfolgt sei.

Aber selbst wenn das Vorbringen in zulässiger Weise erstattet worden wäre, hat der Beschwerdeführer in seiner Schilderung dazu in der Verhandlung beim Bundesverwaltungsgericht keinen politischen Zusammenhang mit den Übergriffen auf seinen Cousin und ihn selbst darlegen können. Einen ursächlichen Zusammenhang der geschilderten Übergriffe auf den Beschwerdeführer mit einem der in der GFK aufgezählten Gründe hat er nicht plausibel dargetan, vielmehr habe es sich nach seinen Schilderungen um einen Streit seines Cousins mit Uniformierten gehandelt, in welchen sich der Beschwerdeführer eingemischt habe.

Nach der Judikatur des VwGH (27.06.2016, Ra 2016/18/0098) ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (Hinweis B vom 26. November 2014, Ra 2014/19/0099). Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (Hinweis B vom 13. Jänner 2015, Ra 2014/18/0140).

Letztlich ist jedoch dazu zu bemerken, dass dieses Vorbringen schon allein auf Grund der widersprüchlichen Angaben des Beschwerdeführers zum Datum dieser Übergriffe nicht glaubwürdig ist. So hatte er beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Vorfall wegen seines Cousins auf die Jahre 2006 oder 2007 datiert und den Tod seines Freundes durch eine Mine auf das Jahr 2010, wohingegen er beim Bundesverwaltungsgericht behauptete, der Übergriff wegen seines Cousins habe sich einen Monat vor seiner Ausreise im Jahr 2014 ereignet. Der Beschwerdeführer versuchte offenbar zudem einen zeitlichen Zusammenhang der von ihm nachträglich als Fluchtgrund behaupteten Ereignisse mit seiner Ausreise herzustellen, weshalb nicht glaubhaft ist, dass dem Beschwerdeführer aktuell im Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung droht. Sein darauf aufbauendes Vorbringen beim Bundesverwaltungsgericht, dass seine Eltern nach der Ausreise des Beschwerdeführers von den Behörden aufgesucht worden seien und nach dem Beschwerdeführer gefragt worden sei, stellt eine weitere unglaubwürdige Steigerung dieses Vorbringens dar und ist ebenfalls nicht glaubhaft.

Hingegen ist glaubhaft, dass der Beschwerdeführer auf Grund seiner Erkrankungen aktuell in seinem Beruf nicht arbeiten kann, wie er beim Bundesverwaltungsgericht vorbrachte, womit er aber selbst unter Bedachtnahme auf seine familiären Beziehungen und die Unterkunftsmöglichkeit im Haus seiner ebenfalls kranken Eltern den Lebensunterhalt für seine Familie nicht bestreiten kann. Auf Grund der ebenfalls glaubhaft erforderlichen Betreuung des Beschwerdeführers sowie des Umstandes, dass eines seiner Kinder ebenfalls an Epilepsie leidet und psychisch krank ist und die Ehefrau des Beschwerdeführers sich aktuell selbst seit Dezember 2014 in gruppenpsychotherapeutischer Behandlung befindet, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers so wie vor der Ausreise durch eine Erwerbstätigkeit den Unterhalt der Familie erwirtschaften kann.

Dass der Beschwerdeführer und seine Familie vor dem Hintergrund einer allgemein schon als angespannt anzusehenden Wirtschaftssituation in den Genuss der im Rahmen der Länderfeststellungen angeführten Sozialleistungen, die sich wie festgestellt, zunächst einmal auf sehr niedrigem Niveau bewegen, kommen könnte, erscheint insofern mehr als fragwürdig, als sich diese Sozialleistungen einerseits offensichtlich vorrangig an Verdiensten für den Herkunftsstaat - zB. Invaliden und Veteranen militärischer Operationen - bzw. Opfer staatlicher Einrichtungen - zB. Strahlenopfer in Tschernobyl - orientieren, andererseits der Beschwerdeführer "bloß" - wie oben festgestellt, werden psychische Erkrankungen in der tschetschenischen Gesellschaft stark stigmatisiert - ein ehemaliger Lehrer mit epileptischen Anfallsleiden und Opfer eines als privat einzustufenden Streites/Konfliktes ist.

Dazu kommt die aus den Länderfeststellungen sich klar ergebende weitverbreitete Korruption, die ein einigermaßen rechtsstaatliches Verteilungssystem - nach westlichem Vorbild - allfällig vorhandener Sozialleistungen zusätzlich in Frage stellen.

In der Zusammenschau ist daher auf Grund der derzeit bestehenden gesundheitlichen Situation der Familie davon auszugehen, dass die (prinzipiell für Korruption empfänglichen) Behörden in der aktuell angespannten Wirtschaftssituation und die Erkrankung des Beschwerdeführers und seiner Gattin stigmatisierend, beide als arbeitsfähig einstufen, was sie aber nicht sind, und eben allenfalls vorhandene Sozialleistungen nicht auszahlen, sodass ihnen im Fall der Rückkehr nach Tschetschenien doch die reale Gefahr droht, in eine existenzbedrohende Lage zu geraten.

Die strafrechtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister; andere Ausschlussgründe sind nicht hervorgekommen.

Zur Situation im Herkunftsstaat:

Zur Beurteilung der aktuellen Situation in der Russischen Föderation insbesondere in Tschetschenien wurde die Berichtslage während des aktuellen bzw. der vergangen Jahre geprüft; diese basiert auf den unterschiedlichsten Quellen und ergibt ein widerspruchsfreies Bild. Der Beschwerdeführer ist diesen Länderberichten nicht entgegengetreten.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt I.:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art.1 Abschnitt A Z2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (vgl. VwGH v. 09.03.1999, Zl. 98/01/0370). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH v. 23.09.1998, Zl. 98/01/0224). Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen muss. Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (vgl. zur der Asylentscheidung immanenten Prognose VwGH v. 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet. Besteht für den Asylwerber die Möglichkeit, in einem Gebiet seines Heimatstaates, in dem er keine Verfolgung zu befürchten hat, Aufenthalt zu nehmen, so liegt eine so genannte inländische Fluchtalternative vor, welche die Asylgewährung ausschließt (vgl. VwGH v. 24.03.1999, Zl. 98/01/0352).

Wie bereits festgestellt, hat der Beschwerdeführer eine konkrete Verfolgung in der Russischen Föderation nicht glaubhaft gemacht, sodass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen.

Aber selbst bei Zutreffen seines Vorbringens ist zum einen einer Einberufung zum Wehrdienst kein (politischer) Zusammenhang mit der GFK zu entnehmen. Zum anderen fehlt in Bezug auf die von ihm vorgebrachten Übergriffe seitens der tschetschenischen Behörden in den Jahren 2006 bzw. 2007 sowie im Jahr 2010 ein kausaler Zusammenhang mit der GFK und auch ein zeitlicher Zusammenhang zu seiner Ausreise im Jahr 2014. Eine aktuelle Gefahr einer Verfolgung ist nicht ersichtlich.

§ 20. (1) BFA-VG: In einer Beschwerde gegen eine Entscheidung des Bundesamtes dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur vorgebracht werden,

1. wenn sich der Sachverhalt, der der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, nach der Entscheidung des Bundesamtes maßgeblich geändert hat;

2. wenn das Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft war;

3. wenn diese dem Fremden bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes nicht zugänglich waren oder

4. wenn der Fremde nicht in der Lage war, diese vorzubringen.

(2) Über die Zulässigkeit des Vorbringens neuer Tatsachen und Beweise muss nicht entschieden werden, wenn diese für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht maßgeblich sind.

Zu seinem in der Beschwerde ebenfalls nur kursorisch geltend gemachten Vorbringen über Übergriffe von Soldaten auf ihn, seine Inhaftierung sowie sexuellen Missbrauch ist auf § 20 Abs. 1 BFA-VG zu verweisen, wonach in der Beschwerde gegen eine Entscheidung des Bundesamtes neue Tatsachen grundsätzlich nicht vorgebracht werden dürfen. Der Beschwerdeführer hat keine ausreichenden Gründe dafür geltend gemacht, warum es ihm nicht möglich gewesen ist, sein Vorbringen bereits beim Bundesamt (vollumfänglich) zu erstatten. Allein der Umstand, dass er sich geschämt habe, darüber zu sprechen, ist nicht ausreichend bzw. konnte nach dem eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten eine psychiatrische Erkrankung, die "unterschiedliche Angaben bzw. das in der Beschwerde Vorgebrachte" erklären könnte, nicht eruiert werden.

Auch wirtschaftliche Gründe allein vermögen eine Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu rechtfertigen (VwGH 18.12.1991, 91/01/0146).

Zu Spruchpunkt II.

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2 EMRK, Artikel 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Unter realer Gefahr ist eine ausreichend reale, nicht auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (vgl. etwa Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 19.2.2004, Zl. 99/20/0573). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus.

Das Vorliegen eines tatsächlichen Risikos ist im Zeitpunkt der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen. Gemäß der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfordert die Beurteilung des Vorliegens eines tatsächlichen Risikos eine ganzheitliche Bewertung der Gefahr an dem für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Artikel 3 EMRK auch sonst gültigen Maßstab des "real risk", wobei sich die Gefahrenprognose auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. VwGH 31.3.2005, Zl. 2002/20/0582, Zl. 2005/20/0095).

Der Schutzbereich des Artikels 3 EMRK umfasst nicht nur Fälle, in denen der betroffenen Person unmenschliche Behandlung (absichtlich) zugefügt wird. Auch die allgemeinen Umstände, insbesondere unzulängliche medizinische Bedingungen im Zielstaat der Abschiebung können - in extremen Einzelfällen - in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK fallen. Allgemein ist der Rechtsprechung des EGMR zu entnehmen, dass "allein" schlechtere oder schwierigere (auch kostenintensivere) Verhältnisse in Bezug auf die medizinische Versorgung nicht ausreichen, um - in Zusammenhang mit einer Abschiebung - in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu reichen. Dazu sei - jeweils - das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände erforderlich. Der EGMR betonte weiters im Fall Bensaid gg. Vereinigtes Königreich, dass auf die "hohe Schwelle" des Artikels 3 besonders Bedacht zu nehmen sei, wenn der Fall nicht die "direkte" Verantwortung eines Vertragsstaates (des abschiebenden Staates) für die Zufügung von Leid betreffe (vgl. Putzer/Rohrböck, Leitfaden für Asylrecht (2007) Rz 183, mwH).

Eine Verletzung des Artikels 3 EMRK ist im Falle einer Abschiebung nach der Judikatur des EGMR, der sich die Gerichtshöfe öffentlichen Rechts angeschlossen haben, jedenfalls nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen (vgl. hiezu EGMR ¿ U 2.5.1997, D vs. United Kingdom, Nr. 30240/96; EGMR E 31.5.2005, Ovdienko Iryna and Ivan vs. Finland, Nr. 1383/04 sowie VfGH vom 6.3.2008, Zl. B 2400/07, mwH).

Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann nach dem Erkenntnis des VwGH vom 25.05.2016, Ra 2016/19/0036, auch dann eine Verletzung von Art. 3 MRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden hg. Judikatur ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 MRK ist nicht ausreichend (Hinweis E vom 6. November 2009, 2008/19/0174). Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 MRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (Hinweis E vom 21. August 2001, 2000/01/0443).

Der Umstand, dass es sich um eine Familie mit zwei Kleinkindern handelt, hätte dabei - vor allem im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Unterbringungsmöglichkeiten - besondere Berücksichtigung erfordert (VwGH 08.03.2005, 2003/01/0640).

Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, ist nicht ersichtlich, wie der kranke Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in Anbetracht seiner gesundheitlichen Verfassung in der Lage sein soll, für sich und seine Familie eine ausreichende Lebensgrundlage zu schaffen.

Von einer Unterstützung durch seine ebenfalls kranke Ehefrau kann auf Grund der Aktenlage ebenfalls nicht ausgegangen werden: Zwar ist diese ausgebildete Krankenschwester, jedoch ist sie wegen der Betreuung ihrer vier minderjährigen Kinder, wovon eines ebenfalls an Epilepsie leidet und psychische Probleme hat, im Zusammenhalt mit dem Gesundheitszustand ihres Ehemannes, welchen sie ebenfalls betreut und der demnach die Betreuung der Kinder nicht übernehmen wird können, sowie dem Umstand, dass sie sich selbst in psychotherapeutischer Betreuung befindet, aktuell tatsächlich nicht in der Lage einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und damit den erforderlichen Lebensunterhalt für die Familie zu erwirtschaften.

In Anbetracht dieser exzeptionellen Umstände ist dem Beschwerdeführer (und seiner zum Teil auch psychisch kranken Familie) vor dem Hintergrund einer, psychische Erkrankungen stigmatisierenden Gesellschaft derzeit nicht zuzumuten, in seine (ohnehin) wirtschaftlich angespannte Heimat zurückzukehren, da ihm für den Fall einer Abschiebung in die Russische Föderation insbesondere auch durch den Umstand, dass allfällig zustehende Sozialleistungen infolge vorherrschender Korruption mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit gar nicht erst ausgezahlt werden, aktuell die reale Gefahr droht, in eine aussichtslose Situation zu geraten, welche aus dem Blickwinkel des Artikels 3 EMRK unzulässig ist (vgl. dazu auch VwGH vom 08.09.2016, Ra 2016/20/0063-5).

Ausschlussgründe gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 sind nicht hervorgekommen.

Zu Spruchpunkt III.:

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, von der zuerkennenden Behörde gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt für ein Jahr.

Da im gegenständlichen Fall die "zuerkennende Behörde" das Bundesverwaltungsgericht ist, ist dieses gehalten, dem Beschwerdeführer gleichzeitig mit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auch eine befristete Aufenthaltsberechtigung in der gesetzlich vorgesehenen Dauer zu erteilen.

Zu Spruchpunkt IV.:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

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