Normen
SPG 1991 §50;
WaffGG 1969 §4;
WaffGG 1969 §5;
WaffGG 1969 §6 Abs1;
SPG 1991 §50;
WaffGG 1969 §4;
WaffGG 1969 §5;
WaffGG 1969 §6 Abs1;
Spruch:
Gemäß § 67a Abs. 2 Z. 2 iVm § 67c Abs. 3 AVG wird die Fesselung des Beschwerdeführers (Anlegen von Handfesseln) am 26. September 2008 in Traiskirchen während seiner Zweiteinvernahme vor dem Bundesasylamt (Erstaufnahmestelle Ost), während des Gesprächs mit der beim Bundesasylamt anwesenden Ehegattin und während des Rechtsberatungsgesprächs für rechtswidrig erklärt.
Gemäß § 79a AVG iVm der UVS-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 456, hat der Bund dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 750,80 binnen zwei Wochen zu ersetzen.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen für die Säumnisbeschwerde in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein 1986 geborener russischer Staatsangehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, erhob (durch seine Rechtsvertreter) am 10. November 2008 beim Unabhängigen Verwaltungssenat im Land Niederösterreich eine auf "§ 67a Abs. 1 Z. 2 iVm § 67c AVG und § 88 SPG" gestützte Maßnahmenbeschwerde wegen einer (im Sprengel der belangten Behörde) in Traiskirchen in der Erstaufnahmestelle Ost (Bundesasylamt) am Vormittag des 26. September 2008 gesetzten Amtshandlung. Er sei von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes (PAZ der Bundespolizeidirektion Graz) im Rahmen des Asylverfahrens zur Einvernahme beim Bundesasylamt vorgeführt worden. Sowohl während dieser Einvernahme in Traiskirchen als auch während der zuvor in den Räumlichkeiten des Bundesasylamtes erfolgten Beratung durch einen Rechtsberater und während eines Gesprächs mit seiner beim Bundesasylamt anwesenden Ehegattin sei er durch Handfesseln an den begleitenden Polizeibeamten gefesselt gewesen; während dieser Zeiten seien ihm die Handfesseln nicht abgenommen worden. Gegenstand der Maßnahmenbeschwerde ist ausschließlich diese - nach Ansicht des Beschwerdeführers - "überschießende" Fesselung in Traiskirchen; seine Anhaltung und Vorführung zieht der Beschwerdeführer - wie er in seiner Stellungnahme vom 14. September 2012 ausdrücklich klarstellte - nicht in Beschwerde.
Da die belangte Behörde keine Entscheidung über diese Maßnahmenbeschwerde erließ, erhob der Beschwerdeführer am 26. Juni 2009 die vorliegende Säumnisbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof wegen Verletzung der Entscheidungspflicht.
Mit Verfügung vom 2. September 2009 leitete der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 35 Abs. 3 VwGG das Vorverfahren ein und trug der belangten Behörde auf, innerhalb einer Frist von drei Monaten den versäumten Bescheid zu erlassen. Diese Verfügung wurde der belangten Behörde am 9. September 2009 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 8. März 2012 legte die belangte Behörde dem Verwaltungsgerichtshof die bezughabenden Akten des Verwaltungsverfahrens vor.
Die Bundespolizeidirektion Graz erstattete zur Maßnahmenbeschwerde am 14. Oktober 2010 eine Stellungnahme. Das Bundesasylamt nahm mit Schriftsatz vom 12. Juni 2012 zur Maßnahmenbeschwerde Stellung. Auf diese Stellungnahmen replizierte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 14. September 2012.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die - zulässige - Säumnisbeschwerde in der Sache selbst erwogen:
Gemäß Art. 132 B-VG kann Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch Verwaltungsbehörden einschließlich der unabhängigen Verwaltungssenate erheben, wer im Verwaltungsverfahren als Partei zur Geltendmachung der Entscheidungspflicht berechtigt war.
Gemäß § 27 Abs. 1 VwGG kann Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht (Säumnisbeschwerde) nach Art. 132 B-VG erst erhoben werden, wenn die oberste Behörde, die im Verwaltungsverfahren, sei es im Instanzenzug, sei es im Weg eines Antrages auf Übergang der Entscheidungspflicht oder der unabhängige Verwaltungssenat, der nach Erschöpfung des Instanzenzuges, sei es durch Berufung oder im Wege eines Antrages auf Übergang der Entscheidungspflicht angerufen werden konnte, von einer Partei angerufen worden ist und nicht binnen sechs Monaten, wenn aber das das einzelne Gebiet der Verwaltung regelnde Gesetz über den Übergang der Entscheidungspflicht eine kürzere oder längere Frist vorsieht, nicht binnen dieser in der Sache entschieden hat. Die Frist läuft von dem Tag, an dem der Antrag als Sachentscheidung bei der Stelle eingelangt ist, bei der er einzubringen war.
Im vorliegenden Fall war die Frist des § 27 Abs. 1 VwGG im Hinblick auf die obgenannten Daten des Verwaltungsverfahrens im Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerde abgelaufen. Da die belangte Behörde den versäumten Bescheid innerhalb der gemäß § 36 Abs. 2 VwGG gesetzten Frist nicht nachgeholt hat, ist die Zuständigkeit zur Entscheidung in der Sache auf den Verwaltungsgerichtshof übergegangen.
Der Verwaltungsgerichtshof trifft folgende Sachverhaltsfeststellungen:
Der Beschwerdeführer wurde von Organen der Bundespolizei am 18. August 2008 im Reisezug EC158 festgenommen und (an der nächstgelegenen Ausstiegsstelle) der Polizeiinspektion Bruck an der Mur übergeben; bei dieser stellte er (am 18. August 2008) einen Antrag auf internationalen Schutz (nach dem AsylG 2005).
Die Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Mur ordnete mit Bescheid vom 18. August 2008 gegen den Beschwerdeführer gemäß § 76 Abs. 2 Z. 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 die Schubhaft (zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung) an. Zum Vollzug der Schubhaft wurde der Beschwerdeführer in das Polizeianhaltezentrum (PAZ) Graz überstellt.
Der Beschwerdeführer wurde - laut einem Abschlussbericht der Bundespolizeidirektion Graz vom 2. September 2008 - verdächtigt, er habe als Schubhäftling zwischen 20. August und 28. August 2008 bei der Zelle Nr. 204 des PAZ Graz einen Metallgitterstab des Fenstergitters als Fluchtvorbereitung herausgesägt und dadurch einen Schaden von ca. EUR 150,-- herbeigeführt. Mit Benachrichtigung vom 4. September 2008 wurde dieses gegen den Beschwerdeführer (wegen § 125 StGB) anhängig gemachte Strafverfahren allerdings gemäß § 190 Z. 2 StPO eingestellt, weil "kein tatsächlicher Grund zur weiteren Verfolgung besteht".
Das Bundesasylamt (Erstaufnahmestelle Ost) in Traiskirchen stellte an das PAZ Graz am 17. September 2008 ein Ersuchen um Vorführung bzw. Freigabe des Beschwerdeführers zu seiner Einvernahme im Asylverfahren am 19. September 2008. Nach Bericht (Meldung) des PAZ Graz wurde der Beschwerdeführer dem Bundesasylamt in Traiskirchen zwecks Einvernahme (Ersteinvernahme im Asylverfahren) am 19. September 2008 vorgeführt; diese Vorführung dauerte von 6.00 Uhr bis 14.15 Uhr und verlief "ohne Vorkommnisse".
Am 24. September 2008 stellte das Bundesasylamt neuerlich ein Ersuchen um Vorführung des Beschwerdeführers zur Einvernahme im Asylverfahren. Nach Bericht (Meldung) des PAZ Graz vom 27. September 2008 wurde der Beschwerdeführer dem Bundesasylamt in Traiskirchen zwecks seiner Zweiteinvernahme am 26. September 2008 vorgeführt; die Rechtsberatung wurde von 10.30 Uhr bis 11.05 Uhr, die Einvernahme im Anschluss von 11.05 Uhr bis 11.45 Uhr durchgeführt. In dieser Meldung wurde festgehalten: "Auf Grund dessen, dass A fluchtgefährlich ist, wurde gemäß § 26/3/2 der Anhalteordnung die Handfesseln angelegt". Diese Vorführung dauerte (insgesamt) von 6.00 Uhr bis 14.45 Uhr, laut Meldung kam es "während der Vorführung zu keinerlei Vorkommnissen".
Die getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den vorgelegten Verwaltungsakten, insbesondere dem fremdenpolizeilichen Akt des Beschwerdeführers. Der Sachverhalt ist, ausgehend von den Stellungnahmen, unstrittig. Die (in der Maßnahmenbeschwerde) behauptete Fesselung des Beschwerdeführers ist im "Fremdenakt" dokumentiert und wurde in der Stellungnahme der Bundespolizeidirektion Graz (vom 14. Oktober 2010) zugestanden. Dass das Bundesasylamt in seiner Stellungnahme eine Fesselung des Beschwerdeführers als "nicht aktenkundig" bezeichnet, steht dem nicht entgegen, räumt das Bundesasylamt doch selbst ein, dass der Leiter der asylrechtlichen Amtshandlung an eine Fesselung keine Erinnerung mehr habe, der Rechtsberater nicht mehr bei der Dienststelle tätig sei und nicht befragt habe werden können und "generell" über Zwangsakte im Rahmen der Vorführung von Asylwerbern keine Aufzeichnungen geführt würden.
In rechtlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts die Anwendung von Körperkraft im Rahmen exekutiver Zwangsbefugnisse denselben grundsätzlichen Einschränkungen wie der im Waffengebrauchsgesetz (WaffGG) geregelte Waffengebrauch unterliegt. Sie muss demnach für ihre Rechtmäßigkeit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechen und darf nur dann Platz greifen, wenn sie notwendig ist, um Menschen angriffs-, widerstand- oder fluchtunfähig zu machen (vgl. § 6 Abs. 1 WaffGG) und Maß haltend vor sich geht; es darf jeweils nur das gelindeste Mittel, das zum Erfolg, also etwa zur Abwehr eines Angriffs, führt, angewendet werden. Dies gilt auch für das Anlegen von Handfesseln (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 8. September 2010, Zl. 2006/01/0182; vom 29. Mai 2006, Zl. 2003/09/0040, und vom 21. Dezember 2000, Zl. 96/01/1032).
Davon ausgehend vermögen die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgebrachten Gründe für das Anlegen bzw. die Aufrechterhaltung der Fesselung des Beschwerdeführers in Traiskirchen während seiner Einvernahme im Bundesasylamt, während des Rechtsberatungsgespräches und während des Gespräches mit der Ehegattin diese nicht zu rechtfertigen. Der oben erwähnte Fluchtversuch des Beschwerdeführers aus dem PAZ Graz ist nicht dokumentiert und konnte auch sonst nicht festgestellt werden. Das Bestehen eines Verdachtes in dieser Hinsicht ist nicht erwiesen; ein diesbezügliches Strafverfahren wurde schon am 4. September 2008 (also bereits vor der ersten Vorführung des Beschwerdeführers nach Traiskirchen am 19. September 2008) von der Staatsanwaltschaft - wie dargelegt - eingestellt.
Die im Rahmen der Vorführung des Beschwerdeführers vor dem Bundesasylamt in Traiskirchen am 26. September 2008 erfolgte Fesselung des Beschwerdeführers während seiner Zweiteinvernahme, während des Rechtsberatungsgespräches und während des Gespräches mit der Ehegattin war daher nicht notwendig, sie widersprach dem in der obzitierten Judikatur geforderten Verhältnismäßigkeitsprinzip.
Dass es sich im Beschwerdefall um keinen Aufschub duldende sicherheitsbehördliche Maßnahmen nach § 58 Abs. 6 AsylG 2005 gehandelt habe, wurde im Verfahren nicht vorgebracht und ist im Übrigen auch nach den Umständen des Beschwerdefalls nicht erkennbar.
Die in Beschwerde gezogene, somit dem Bundesasylamt zuzurechnende Fesselung des Beschwerdeführers war daher für rechtswidrig zu erklären.
Die Kostenentscheidung für das Verfahren der Maßnahmenbeschwerde gründet sich auf § 79a AVG in Verbindung mit der UVS-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 456.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz für die Säumnisbeschwerde beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Wien, am 29. November 2012
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